Ich zähle jetzt bis drei. Egon Christian Leitner

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Название Ich zähle jetzt bis drei
Автор произведения Egon Christian Leitner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990471173



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droht zerquetscht zu werden. Aber die Moria-Säuglinge, die von Ratten angefressen werden, interessieren nicht! Dass Bischof Glettler ohne Kinder zurückkommen muss, kann mein Freund nicht fassen. Sagt, wir alle werden von der Regierung dazu gezwungen, Beihilfe zu leisten. Er sei kein Jurist, aber für ihn sei es Mord. Unterlassene Hilfeleistung, sage ich. Mit Todesfolge, sagt er: Quälen von Unmündigen & fahrlässige Tötung.

      20.12. Wieder fordert der Caritaspräsident von der Regierung ein gesundheitliches & ökonomisches & soziales & ökologisches Gesamt- & Zukunftskonzept. Ha! Das Sozialstaatsvolksbegehren inklusive bedingungslosen Grundeinkommens ist das! Aber das müsste ja die Caritas machen, nicht die Regierung, kommt mir vor. / Kanzler Kurz: Die Politik muss entscheiden, die Wissenschaftler schaffen zu viel Verwirrung! Hans Kelsen würde den Kanzler verklagen, Max Weber den Kanzler öffentlich für nicht satisfaktionsfähig erklären. (Minimum.)

      *

      30.12. Herzinfarkt am Christtag. Seit heute Mittag bin ich wieder daheim. Geht mir besser als zuvor heuer. Ist nicht selbstverständlich. / Mir wird heute ein besseres neues Jahr gewünscht. Ist nicht nötig. Das Jahr war gut, denn ich lebe noch & bin unbeschadet. Die Rettungskette hat sofort & fehlerfrei funktioniert. In den folgenden Tagebucheinträgen berichte ich nur davon.

      31.12. 12 Uhr 30: Kann nicht atmen. Gehe in Richtung meiner Frau, will nicht umfallen. Schleppe mich ins Zimmer in den ersten Stock. Schweißausbruch. Keine Luft. Brust zusammengedrückt. Nehme 2.000 mg Magnesium, Gefühl der Erleichterung; will abwarten. Mein Mund offen. Meine Frau sagt: Egon, das schaffen wir nicht allein. Hält mich. Ruft Rettung & Notarzt. Sind binnen 10 Minuten da. Wichtig, dass ich nicht das Bewusstsein verliere. Gebe Antwort, rede. Soll sitzen, nicht liegen. Bekomme Sauerstoffmaske. Notarzt kommt. Scheint mir ungehalten. Wird freundlich. Bekomme FFP2-Maske statt Sauerstoffmaske. Sie haben einen Herzinfarkt. Sie bekommen sofort einen Herzkatheter. Sage: Ich werde jetzt benommen. Sagt: Ich habe Ihnen etwas gespritzt. Mache einen Witz. Schauen ernst. Bete laut, ist mir in der Brust eine Hilfe. Werde hinuntergetragen. Bedanke mich bei meiner Frau für alles. Im Hof bei meiner Tochter & bei meinem Schwiegersohn. Abfahrt verzögert sich, weil im Auto Vorversorgung.

      1.1. Bekomme im Spital rechts drei Stents, da Infarkt rechte Hinterwand & linke Vorderwand. Vor Coronaabstrich die Schwestern unruhig. Die Eheringe lasse ich mir nicht abnehmen, sage: Nein. Den Herzkatheter empfinde ich sofort als Wohltat. Stentsetzung links erst in ein paar Tagen. Auf die Intensiv. Stolz, nie bewusstlos zu werden. Gebe immer Antwort. Erwidere jede Freundlichkeit. Guter Dinge. 18 Uhr 30: Schichtwechsel. Die neue Schwester stellt sich mit Familiennamen vor. Ein sehr verlässlicher. (Der der Ärztin vom Nachmittag & jetzt dann in der Nacht auch.) Alle freundlich, herzlich. Mitternacht: Sage: Mein Herz kann nicht mehr schlagen. Blutdruck 60 zu 40. Geht alles gut aus. Große Verbundenheit zwischen der Schwester & mir. 6 Uhr 30: Schichtwechsel. Verabschiedet sich. Bedanke mich. Die Ärztin geht auch: Sie sind überm Berg. Meine Frau hat mit ihr telefoniert. Wichtige Sachen (Talisman) hab ich hereinbekommen. Den neuen zuständigen Pfleger mag ich sofort, gibt mir die Hand. Trägt keine Maske. Wasche mich selber. Bekomme Kakao, Butterbrot & Salz. War ein Witz gewesen in der Nacht. Der Pfleger verbringt in dieser & der übernächsten Schicht viel Zeit mit mir. Sagt einmal: Machen S’ keinen Stress, Herr Leitner. Ich mach eh alles. Lachen viel. Sagt ein paar Mal, dass ich den schweren Herzinfarkt ernst nehmen müsse. Bitte die OA, dass meine Frau & mein Seelsorger auf die Intensiv dürfen. / Mein Intensivbett wird gebraucht. Sage: Ich will nicht raus. Verstecken Sie mich wo da herinnen unter einem Bett. Zufällig, weil meine Werte zu hoch, kann ich bleiben. Der Mann mit der schweren Hepatitis & der mit den Herzklappendefekten warten weiter auf mein Bett. (Triage.) Spreche eine offizielle Vollmacht für meine Frau aus. Bitte, das im Krankenakt zu vermerken. Meine Frau kommt zu mir. Alles wird gut.

      2.1. 18 Uhr 30: Nachtschicht. Die militärischste. Mir wird wieder gesagt, wie schwer meine erste Nacht war. Zerlege wieder mein Bett. Kann das erste Mal aufstehen, sodass es fixiert werden kann; die eigenen Beine Wohltat. Eine Schwester weckt mich versehentlich, entschuldigt sich. Dass ich schnell reagieren kann, hochschrecken, gibt mir aber ein gutes Gefühl, Kraft. In der Früh der Pfleger: Dass Ihr Bett gehalten hat, ist für mich ein Triumph! Wir lachen. Sagt: Gell, wo ich bin, passiert nichts. Zuerst geglaubt, es sei eine Machopartie, aber die Pfleger haben alle auf die Schwestern gehört wie auf Chefinnen.

      3.1. Letzte Schicht: Wieder mein Lieblingspfleger. Erzählt seine Hobbys & dass sein Freund ohne Verfügung, er selber auch. Reden über die Ruhe auf der Intensiv. Als ob sich jede*r auf jede*n wirklich verlassen kann, ist es hier. Wenn eine*r ausfällt, sozusagen fällt, wird ihm, ihr die Genauigkeit & Sorgfalt & Verlässlichkeit zuteil, die er, sie selber aufbringt. Versprechen einander, uns in meinem Ort wiederzusehen. Werde auf die Station gebracht. Auch dort Sorgfalt. Seelsorger schon da. Beten. Reden über Moria. Bildet sich ein, auf EU-Ebene & in den Bundesländern tue sich viel. Glaube das nicht. Dass die Regierung, der Kanzler, den Kindern helfen wird, glaubt er selber nicht.

      4.1. Dränge nach Hause, zumal jeder Tag & jede Nacht problemlos. Letzter Abend absurd. Falsch im System, wenn Hilfsschwestern fürs (Menschen-) Putzen, Essen & Spritzen zugleich zuständig sind. Personalmangel: Überforderung, Müdigkeit, unhygienisch, Gefahrenquelle. Mehrmals noch Telefonate mit einem Schulfreund. Klärt mich medizinisch auf & beschwört mich. Verspreche ihm alles, was ich halten werde. Sagt mir wieder, wie viel Glück ich gehabt habe. Ja, eben, diesen Sozialstaat begehre ich! (Für alle.)

      *

      5.1. Dass die Aufgabe darin besteht, sich weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen, von wem ist das?

      6.1. Zufluchtsorte. / Haltet ein, ihr Herren!, im seit Tagen ersten Film, den ich mir anschaue. Im nächsten sagt einer Zeithäufen. / Im Juni, Juli & August 2020 habe ich immer & immer wieder versucht, Kontakte aufzunehmen & herzustellen. Aber die Guten waren alle auf Urlaub. Wirklich. In Pension war einer auch gerade gegangen. Um die Pflegeversorgung, Vorsorge, für den Herbst war es mir gegangen & ums Sozialstaatsvolksbegehren als Ganzes. Stattdessen haben die dann was gemacht, das, glaube ich, Österreich hilft Österreich geheißen hat. (Spenden.) Ich war fix & fertig.

      7.1. Freiheit heilt, von wem ist das? / Eine sagt zu mir wieder, dass Spinozas Ethik ein Tagebuch sei; wie ein solches zu lesen. / Meine Frau geht mit mir jeden Tag eine Stunde spazieren & jeden Abend spielt sie mit mir in der Wohnung Fußball. / Kreisky hat einmal gesagt, er fürchte sich vor der Zeit, in der eine neue Politikergeneration über die Leben bestimmen werde, welche die Zwischenkriegs- & Kriegszeit nicht erlebt habe. Diese Politiker werden nicht verstehen, was auf dem Spiel steht. Werden weder reagieren können noch präventiv sein. & einmal hat er beklagt, dass es keine öffentlichen Denker mehr gebe wie Otto Neurath. Den Neurath hat Kreisky sehr gemocht, weil der immer gut aufgelegt war & eine gute Idee nach der anderen hatte.

      8.1. Freundlich sein, den Boden bereiten für Freundlichkeit.

      9.1. Michelangelos Gedicht: Der Stein, der sagt: Weck mich nicht auf. Sprich leise. / Die Tierfilme, Gespräch: Eine Politikerin, die ich mag, verträgt nicht, wie die fremden Jungen umgebracht werden, um damit die eigenen zu füttern. Ich glaube auch, dass die Natur Blödsinn ist. / Die meisten Leute verwenden die Begriffe Helferhilflosigkeit & Helfersyndrom falsch. Jedenfalls nicht im Sinne des Erfinders (= Wolfgang Schmidbauer). In dessen Augen besteht das Problem darin, dass die Helfer & Helferinnen ihre Probleme & die ihrer Einrichtungen, die Arbeitsprobleme, nicht benennen, weil sie als Einzelne & als Ganzes perfekt sein müssen. Daher die Katastrophen.

      10.1. Einer sagt, Geheimnisse sind sinnlos. / Gehe davon aus, dass von sozialdemokratischer Seite die Wiederholung des Sozialstaatsvolksbegehrens aus dem Jahr 2002 angedacht wurde im Sommer 2020. Dann hat man es wohl wieder sein lassen. Oder strategisch aufgeschoben. Heute dann ist der IHS-Chef Arbeitsminister geworden. Die Sozialdemokraten werden es also schwer haben. Als Sozialdemokraten. Wie nach dem Krieg am Anfang der Zweiten Republik & in den ersten Jahrzehnten braucht jetzt jeder jeden. Die Arbeitnehmer werden jetzt wirklich gebraucht. Als Konsumenten. Die Arbeitslosen auch. Aber den Sozialdemokraten wird das nichts nützen. Die sind immer hintennach. Die wollen ihre Institutionen