Название | Das heilende Potenzial der Achtsamkeit |
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Автор произведения | Jon Kabat-Zinn |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867813037 |
Auf meinen Reisen begegne ich häufig Menschen, die mir berichten, dass Achtsamkeit ihnen ihr Leben zurückgegeben hat. Oft erzählen sie mir Geschichten von unfassbar schrecklichen Lebensumständen, Ereignissen oder Diagnosen, die man wirklich niemandem wünscht. Meistens drücken sie es in etwa so aus: »Achtsamkeit (oder auch «die Praxis») hat mir mein Leben zurückgegeben« oder »hat mir das Leben gerettet«, oft gefolgt von einem Ausdruck tiefer Dankbarkeit. Jedes Mal, wenn mir jemand eine solche Erfahrung schildert, sei es im Gespräch oder per Brief oder E-Mail, klingt es so authentisch und persönlich, dass ich mir ganz sicher bin, dass es sich nicht um eine Übertreibung handelt.
Interessanterweise gehen alle Menschen, die sich einigermaßen systematisch der Achtsamkeitspraxis widmen, mit der Zeit ihren eigenen Weg, während sie zugleich immer wieder auf die stets gleichbleibenden formalen Meditationspraktiken zurückgreifen, die wir auch im MBSR üben (den Body-Scan, die Sitzmeditation, achtsames Yoga und achtsames Gehen) und die im zweiten Buch »Wach werden und unser Leben wirklich leben« dieser Serie beschrieben werden, und natürlich auch, während sie in ihren alltäglichen Begegnungen mit dem Leben Achtsamkeit üben.
Ich möchte an dieser Stelle einen Ausdruck der Dankbarkeit wiedergeben, den mir mein Verleger in Großbritannien kürzlich weiterleitete:
Lieber Professor Kabat-Zinn,
ich habe all Ihre Bücher gelesen (einige sogar mehrmals) und etwas überlebt, das man mir als Speiseröhrenkrebs im Endstadium beschrieben hat. Nun schreibe ich, um Ihnen zu sagen, welch wichtige Rolle Ihre Bücher in meinem Genesungsprozess gespielt haben. Es ist jetzt fünf Jahre her, seit man mir an einem Tag im Juli (ziemlich emotionslos) mitteilte: »Sie schaffen es wahrscheinlich noch bis Weihnachten. Manche halten auch länger durch. Falls Sie etwas brauchen, rufen Sie einfach das Hospiz an.«
Der Weg durch meine Krankheit ist gesäumt von zahlreichen Irrtümern, unter anderem wurde bei der Planung einer radikalen Chemo- und Strahlentherapie meine Patientenakte verwechselt. Infolge der überdosierten Strahlentherapie waren zwei meiner Wirbel gebrochen, aber nun, am 19. Oktober 2017 bin ich immer noch da – und seit sechs Wochen in den Studiengang Achtsamkeit an der Universität von Aberdeen eingeschrieben. Mein Traum ist es, die nötige Qualifikation zu erlangen, um schwer erkrankten Menschen mit den Techniken zu helfen, die ich von Ihren CDs, Videos und Büchern gelernt habe, und zwar in den Unterstützungszentren für Krebspatienten hier vor Ort. Dort dürfen nur ausgebildete Ehrenamtliche mit den Patienten arbeiten.
In meiner schwersten Zeit haben Ihre Bücher Gesund durch Meditation und Stark aus eigener Kraft mich inspiriert, sie sind zu meinen Bibeln geworden. Im Moment plane ich meine erste größere Hausarbeit im Rahmen meines Studiums, und man hat mir gesagt, dass mein Thema (»Meditation ist heilsam«) für eine akademische Seminararbeit nicht gut geeignet ist. Das erstaunt mich, und ich frage mich, ob Sie mir wohl einen Rat geben könnten, wo ich Inspiration dazu finden kann…
Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass die Lektüre Ihres Werks mir das Leben gerettet hat, und ich versuche, das Beste aus jedem Atemzug zu machen, von dem man mir gesagt hat, dass ich ihn nicht nehmen würde. Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir einen Hinweis geben könnten, sodass ich meinen Traum verwirklichen kann, kranken Menschen wirkungsvoll dabei zu helfen, ihre eigene Kraft zur Selbstheilung zu entdecken. Wie lässt sich daraus am besten eine akademische Studie machen?
Mit Dankbarkeit und herzlichen Grüßen aus Aberdeen
MARGARET DONALD
PS: Ich werde nächstes Jahr 80, insofern zählt für mich jede Minute!
Natürlich schrieb ich zurück. Unter anderem versicherte ich Margaret, dass sie ganz im Einklang mit den neuesten Strömungen der akademischen Medizin sei, offenkundig sehr viel mehr als diejenigen, die ihr von ihrem Vorhaben abgeraten hatten. Ich schickte ihr Liste mit Literaturangaben zu wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, in denen ihr Thema, der Zusammenhang zwischen »Meditation« und »Heilung«, untersucht wurden.
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In verschiedenen Studien hat sich gezeigt, dass bei Versuchspersonen, die man anwies, während einer Untersuchung im Computertomographen einfach nur da zu liegen und nichts zu tun, ein wichtiges Netzwerk in einer diffusen Region des zerebralen Kortex, die sich unterhalb der Mittellinie der Stirn nach hinten erstreckt, in hohem Maße aktiv wird. Dieses Netzwerk, das aus einer Reihe verschiedener spezialisierter Strukturen besteht, ist inzwischen als »Ruhezustandsnetzwerk« (Default Mode Network – DMN) bekannt. Dieser Name stammt daher, dass wir automatisch in ein gedankliches Umherschweifen verfallen, wenn man uns auffordert, »nichts zu tun« und »einfach da zu liegen«. Und raten Sie mal, wohin uns das meist führt? Richtig: Wir fangen an, über unser liebstes Thema zu sinnieren – uns selbst, natürlich! Wir verfallen in Geschichten über die Vergangenheit (meine Vergangenheit), die Zukunft (meine Zukunft), Gefühle (meine Sorgen, mein Ärger, meine Depression), verschiedenste Lebensumstände (mein Stress, mein Druck, meine Erfolge, mein Scheitern), oder auch das, was mit dem Land, der Welt, den anderen nicht stimmt … Sie wissen sicher, was ich meine.
Interessanterweise konnte in einer Studie, die an der Universität von Toronto1 durchgeführt wurde, bei den Teilnehmerinnen eines MBSR-Kurses nach acht Wochen eine verringerte Aktivität des DMN und zugleich eine gesteigerte Aktivität in einem lateralen (seitlich gelegenen) neuronalen Netzwerk festgestellt werden. Dieses zweite Netzwerk nennt man das Experiental Network. Nach ihrem Erleben im Computertomographen befragt, berichteten diejenigen Studienteilnehmerinnen, die an dem achtwöchigen MBSR-Kurs teilgenommen hatten, einfach da gewesen zu sein, einfach atmend, sich ihres Körpers, ihrer Gedanken, ihrer Gefühle und der Geräusche bewusst, während sie da lagen.
Vielleicht ist es also so (obwohl noch viele weitere Forschungsarbeiten nötig sein werden, um das mit Sicherheit sagen zu können), dass die Achtsamkeitspraxis zu einer Verschiebung des Default Mode von unbewusster (man könnte auch sagen achtloser) Selbstversunkenheit, gedanklichem Umherschweifen, Geschichtenerzählen, Tagträumen und Gedankenverlorenheit hin zu mehr Präsenz, mehr Achtsamkeit und mehr Bewusstheit führt, auch wenn Gedanken und Gefühle natürlich weiterhin auftauchen.
In dieser Studie zeigte sich, dass sich die beiden Netzwerke (das geschichtenerzählende und das erfahrungsbasierte Netzwerk) nach einem achtwöchigen MBSR-Kurs entkoppeln. Selbstverständlich funktionieren beide Netzwerke weiterhin. Schließlich ist es für Kreativität und Vorstellungskraft wichtig, gelegentlich Tagträumen nachzuhängen.2 Es ist ebenfalls sehr wichtig, die eigene Vergangenheit von der Gegenwart und der imaginierten Zukunft unterscheiden zu können, wie in der Geschichte über meinen Vater im Kapitel »Orientierung in Zeit und Raum« deutlich werden wird. Doch nach acht Wochen Achtsamkeitspraxis scheint es so zu sein, dass das erfahrungsbasierte, nicht an Zeit gebundene laterale Netzwerk im Kortex auf das zentral gelegene DMN einwirkt, sodass durch dieses Zusammenspiel mehr Weisheit und Entscheidungsfreiheit in einem jeden Moment möglich wird, statt bloßem automatischen Funktionieren und dem gewohnheitsmäßigen Glauben an implizite Geschichten über ein Selbst, das viel zu klein ist, um auch nur dem nahezukommen, wer und was wir eigentlich sind, in all unserer Fülle, genau hier und jetzt.
In den zwölf Jahren, seit mein Buch Zur Besinnung kommen erstmals erschien, ist die Zahl an wissenschaftlichen Forschungsarbeiten zu Achtsamkeit und an Belegen bezüglich ihrer klinischen Effektivität geradezu explodiert. Zu den Befunden zählen Veränderungen in der Größe und dem Durchmesser verschiedener Gehirnstrukturen bei Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, sowie eine gesteigerte funktionale Verbundenheit zwischen verschiedenen Gehirnregionen. In einigen Studien zeigen sich Veränderungen in der Genexpression auf der Ebene der Chromosomen – auch genannt »epigenetische Effekte« – in anderen wurden Auswirkungen auf die Länge der Telomere nachgewiesen: