Название | Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie |
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Автор произведения | Daniel Siegel |
Жанр | Зарубежная психология |
Серия | |
Издательство | Зарубежная психология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867813372 |
Damals, in den frühen 1990er, verstärkte die Forschung im Bereich der Psychiatrie ihren Fokus auf die „biologische Grundlage“ psychiatrischer Störungen wie Schizophrenie und manisch-depressiver Störung. Dies wurde möglich durch die neuen Erkenntnisse in Bezug auf Korrelationen zwischen atypischen Hirnfunktionen und mentalen Störungen. Es waren wichtige Anstrengungen, um Erkrankungen mit effektiven Behandlungsmethoden, wie dem Einsatz von Medikamenten, zu lindern. Die farbigen Hirnscans, die durch neue technologische Entwicklungen wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder die funktionale Magnetresonanztomographie (fMRI) möglich wurden, waren ein faszinierender Anblick. Doch schon damals war es wichtig, nicht zu vergessen, dass diese kraftvollen Einsichten in ihrem nuancierten Kontext betrachtet werden müssen – und das ist auch heute noch der Fall. Veränderungen der Blutverteilung im Gehirn – oder metabolische Veränderungen, die mit diesen Veränderungen einhergehen – können gemessen werden. Als Wissenschaftler sind wir von numerischen Messgrößen abhängig, um unser Interessengebiet zu erforschen. Aber Aussagen, dass wir durch diese Scans dem Geist bei der Arbeit zusehen könnten, sind wohl eine enthusiastische Übertreibung. Ist denn die Veränderung des Blutzuflusses wirklich eine Messgröße des Geistes? Was genau ist der Geist? Ist der Geist nichts weiter als die Aktivität des Gehirns?
Nach meinen Vorträgen werde ich oft von Wissenschaftler angesprochen, die mir erklären, dass die Antwort auf die letzte Frage ganz klar „Ja“ laute und dass alles andere „die Wissenschaft rückgängig mache“. Aber ich erwidere diesen Wissenschaftlern immer wieder, dass die Antwort komplexer ist als die einfache Aussage „der Geist entspricht der Hirnaktivität“ – und diese Aussage möchte ich hier auch mit Ihnen untersuchen. Wie wir sehen werden, hält eine unvoreingenommene Herangehensweise an diese grundlegende Frage einige wirkungsvolle Einsichten in die innere Natur der subjektiven Erfahrung bereit. Die Antworten auf diese eine Frage – Was ist der Geist? – führen zu heftigeren Diskussionen als jede andere Frage, der ich nachgegangen bin. Der „integrative“ Teil des vorliegenden Buches bezieht sich auf die vielen Ebenen von differenzierten Elementen, die miteinander verbunden sind: Wir werden eine ganze Reihe von unterschiedlichen Wissenschaften in einem Bezugsrahmen zusammenbringen. Wir werden nichtwissenschaftliche Untersuchungen der Realität, die auf der direkten Erfahrung beruhen, mit unseren Ausführungen über die Wissenschaft verbinden. Und wir werden sogar die Möglichkeiten untersuchen, wie Sie als Leser ein „umfassender integriertes“ mentales Lebens für sich selbst und andere schaffen können. Daher die vielen Bedeutungsebenen dieses „integrativen Leitfadens“.
Ich lade Sie ein, vollkommen präsent zu sein, wenn Sie sich in dieses Buch vertiefen. Ich werde auch hier sein, wir werden uns also zusammen auf eine Reise begeben. Eventuell werden sich am Ende mehr Fragen ergeben haben, als wir konkrete, endgültige Antworten geben konnten, aber vielleicht ist genau das die Natur des Geistes: die Schaffung von Möglichkeit, statt der Konstruktion von Begrenzung. In einer unvoreingenommenen Betrachtung der Tatsachen werden wir möglicherweise genau zu dieser Erkenntnis kommen.
Nun möchte ich aber zu unserer Hintergrundgeschichte zurückkehren. Als ich gebeten wurde, zum Beginn des Jahrzehnts des Gehirns das Ausbildungsprogramm in der Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie am UCLA zu leiten, lud ich etwa vierzig Wissenschaftler aus über einem Dutzend verschiedener akademischer Abteilungen in eine Studiengruppe ein, in der wir uns einer einfachen Frage widmeten: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist und dem Gehirn? In dieser Gruppe gab es Wissenschaftler aus folgenden Disziplinen: Anthropologie, Molekularbiologie, Kognitionswissenschaft, Pädagogik, Genetik, Linguistik, Neurowissenschaft, Neurochirurgie, Physik, Psychologie, Psychiatrie, Mathematik, Computerwissenschaft und Soziologie. Es war eine Zusammenkunft von Professoren, Studenten, Klinikern und Forschern. Als Moderator der Gruppe fand ich die ersten Treffen der Gruppe faszinierend, sie bereiteten mir aber auch Kopfzerbrechen, weil die Gruppe keinen Konsens darüber finden konnte, was der Geist ist. Das Gehirn war der einfache Teil unserer Frage: Es ist ein Organ des Körpers, das über das erweiterte Nervensystem, das sich vom Kopf bis zu den Füßen erstreckt, auf komplizierte Weise mit dem ganzen Körper verbunden ist. Immer, wenn wir in diesem Buch über das „Gehirn“ sprechen, meinen wir genau genommen das weit verteilte Netz von Neuronen, das wir als „Nervensystem“ bezeichnen.
Aber was ist der Geist? Jede der verschiedenen Disziplinen hatte eine ganze Reihe von Erklärungen, um diesen wichtigen Teil des menschlichen Lebens in Worte zu fassen. Ein Anthropologe sagte, dass der Geist dasjenige sei, was über Generationen hinweg geteilt wird. Ein Neurowissenschaftler erklärte, dass der Geist einfach die Aktivität des Gehirns sei. Ein Psychologe war der Ansicht, dass der Geist aus Gedanken und Gefühlen bestehe und sowohl unser Bewusstsein und die subjektive Natur unseres inneren Lebens umfasst, als auch die Ausdrucksformen des Geistes, die sich in unserem Verhalten zeigen. Derartige Beschreibungen ermöglichten es diesen ernsthaften und sorgfältigen Forschern, die Arbeit in ihren eigenen Disziplinen weiterzuführen. Aber sie halfen uns nicht dabei, in unserer interdisziplinären Gruppe eine gemeinsame Grundlage zu finden. Viele Bücher, die das Wort „Geist“ im Titel haben, beschreiben den Geist (Gedanken und Gefühle, ein „Selbst-Konzept“, ein „undeutlicher Begriff“ usw.) aber sie definieren nicht, was der Geist oder auch nur ein Teil des Geistes in Wirklichkeit „ist“. In unserer Gruppe schaukelte sich dieses Fehlen einer Definition zu einer so destruktiven Spannung zwischen den verschiedenen Mitgliedern auf, dass ich schon befürchtete, die Gruppe würde sich nach nur wenigen Treffen wieder auflösen.
In Zeiten, in denen uns derlei Sorgen umtreiben, können Gewässer eine beruhigende Quelle der Inspiration sein. Deshalb machte ich einen Spaziergang am Meer (so wie ich an der Seine in Paris entlanggelaufen war, als ich mich darauf vorbereitete, dieses Handbuch zu schreiben), und dabei kam mir der Gedanke, dass diese verschiedenen Beschreibungen der Natur des Geistes eine gemeinsame Grundlage finden könnten, wenn wir zumindest eine Arbeitsdefinition des Geistes hätten. Ich lege nicht allzu viel Wert auf Definitionen, aber manchmal kann uns die genaue Klärung eines Begriffes dazu inspirieren, tiefere und universell gültige Bedeutungen zu finden, die in den verschiedenen Beschreibungen verborgen sind. Am Ufer des Pazifiks beobachtete ich, wie die Wellen auf dem Sandstrand heranrollten und sich wieder zurückzogen. Da kam mir die Idee, dass jede der verschiedenen Disziplinen in ihrer Beschreibung den Fluss von etwas durch die Zeit hindurch meint. Der Aspekt der Wirklichkeit, der sich im Laufe der Zeit verändert, ist der Fluss eines wichtigen Bereiches unseres Lebens: Energie.
Obwohl auch Physiker uneins darüber sind, was Energie ist, scheint es doch einen Konsens darüber zu geben, dass „Energie die Fähigkeit ist, etwas zu tun“. Energie zeigt sich in verschiedenen Formen, zum Beispiel Lichtenergie, Elektrizität, Bewegungsenergie, Hitze und im Falle der neuronalen Aktivierung als elektrochemische Kraft. Wenn wir versuchen, uns den Energiefluss vorzustellen, dann ist es vielleicht hilfreich, wenn wir mit dem Bild der Elektrizität beginnen, in dem sich Elektronen entlang eines Drahtes bewegen. Aber ein Energiefluss zeigt sich auch, wenn Hitze von einem Objekt auf ein anderes übertragen wird. Oder Klangwellen bewegen sich durch die Luft, und eine Stimme, die hier spricht, erreicht das Ohr eines Menschen dort drüben. Energie ist auch im Spiel, wenn die Photonen, die von diesen geschriebenen Symbolen namens Worte abprallen, in Ihre Augen gelangen. Energie ist ein realer Aspekt der physischen Welt, in der wir leben.
Doch obwohl wir in unserem mentalen Leben viele Energieflüsse finden, ist der Geist mehr als ein Überträger von Energie, der mit einem elektrischen Draht vergleichbar wäre. Von Natur aus ist das subjektive innere Leben, das wir als unsere „mentale Welt“ bezeichnen, voll von vielen wunderbaren und auch erschreckenden Dingen: Wir können Gefühle der Ekstase, der Freude, des Enthusiasmus, der Erfüllung, des Stolzes, des Glücks und der Klarheit erfahren. Zudem können wir die subjektive Erfahrung von Trauer, Verlust, Angst, Wut, Bedrohung und Schrecken machen. Erinnerungen an freudvolle Momente oder furchterregende Geschehnisse aus der Vergangenheit können vor unserem geistigen Auge als Bilder wieder aufleben. Und durch unsere Vorstellungskraft können wir sogar gänzlich neue Bilder erschaffen. Wie wir wissen, ist unser mentales Leben voll von inneren Erfahrungen wie Gefühlen,