Altsein ist auch nur ein Teil vom Ganzen. Axel Bethke

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Название Altsein ist auch nur ein Teil vom Ganzen
Автор произведения Axel Bethke
Жанр Биология
Серия
Издательство Биология
Год выпуска 0
isbn 9783946424116



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Gehör verhindert, dass er bei meinen Tor-Schreien, wenn ich Fußball schaue, aufschreckt, und seine Augen lassen ihn noch so viel sehen, dass er nirgendwo gegen läuft. Das reicht!

      Oben rechts besitzt er nur noch einen Zahn. Damit schlägt er unheilbare Wunden in Papiertaschentücher. So wird aus Gnadenbrot Gnadenbrei. Allerdings muss irgendwo im Untergrund etwas modern oder faulen. Dieser Mundgeruch ist furchtbar!!!

      Grassy lutscht gern an Gräsern und das werde ich uns zunutze machen: Ich stelle den Blumentopf mit dem Lavendel auf die Treppe. Bald wird der blühen. Grassy denkt dann, es sei Gras.

      Damit wäre auch dieses Problem gelöst und wir können uns gemeinsam auf die wichtigen Dinge unseres Daseins konzentrieren: Fressen und Freuen.

       »Die Hunde haben’s gut bei ihnen«, sagte sie. Das ist möglich, dachte ich, wusste aber: Ich hab’s noch besser bei den Hunden.

      Grassy an seinem Lieblingsplatz

      Wie kann man

      jemandem helfen,

      der aus Gewohnheit ständig

      klagt und jammert?

      Ihm einen Grund geben.

      Maßregelung

      Alter schützt vor Lernen nicht, könnte das folgende Ereignis beweisen: Kira und Grassy nehmen ihre Mahlzeiten getrennt ein. Kira im Bad, Grassy in der Küche. Sind beide fertig, inspizieren sie die Schüssel des anderen. Und sollte nur noch ein Krümelchen zu finden sein, findet es der andere triumphierend und tut, als wäre es eine ganze Mahlzeit.

      Vor ein paar Tagen war Grassy zu früh fertig. Er tippelte gedankenverloren den gewohnten Weg. Ich saß im Wohnzimmer und hörte einen Schrei aus Angst, Schuld, Wut, Ärger und Enttäuschung. Der kleine Kerl hatte vergessen, dass Kira Kampfhund-Gene hat. Er ließ sich von mir trösten und sagen: »Wir alten Kerle sollten immer so tun, als ob die Frauen Recht haben.«

      An den folgenden Tagen sah ich die Konsequenz des Kleinen. Nach jedem Essen blieb er auf der Türschwelle stehen, bildete sozusagen ein Spalier für Kira. Erst wenn sie an ihm vorbei war, machte er sich hemmungslos über ihre Schüssel her. Je des gefundene Stückchen bestärkte seine Gewissheit: Dieser besondere Genuss ist Folge meines devoten Verhaltens.

      Dass er ihr heimlich die Zunge rausstreckte, könnte eine Wunsch-Sinnestäuschung von mir sein.

       Eben durchzuckte mich ein Lächeln und darauf stand: Nicht nur meine Hunde sind mir treu, ich ihnen auch.

      Ist mir ein Mensch unsympathisch,

      aber mein Hund mag ihn

      (oder umgekehrt),

      sollte das ein Grund sein,

      meine Gefühle zu überdenken.

      Erkenntnisse

      Ich habe diesen alten Hund aufgenommen, um ihm zu geben, was ich habe: einen erträglichen, zufriedenen Lebensabend. Und nun hat der kleine Kerl den Spieß umgedreht, er schenkt Freude ohne Ende.

      Am Anfang unseres Zusammenseins habe ich mehrfach in der Nacht geprüft, ob er noch atmet. Das lässt mich heute schmunzeln. Tagtäglich nimmt seine Vitalität zu. Vom wehleidig-humpelnden Greis ist er zum stolzen Spanier geworden. Er begrüßt die Hausbewohner mit seinem ureigensten Ganzkörperwedeln. Nach jedem Beinchenheben scharrt er angeberisch wie ein Löwe. Bekomme ich Besuch, baut er sich in Kampfhundmanier auf, lässt minutenlang sein heiser-nerviges Bellen hören und schützt mich so vor überflüssiger Kommunikation.

      Selbst seine Gebrechen scheinen einen Sinn zu haben. Weil er alles gehört, alles gesehen hat, was für ihn wichtig war, hat er sich eben für Sehschwäche und Schwerhörigkeit entschieden. Im Gegensatz zu mir kommt er ohne Brille, Zahnprothesen und Hörgerät aus. Er hört und sieht allein auf das, was von innen kommt; seine lebensbejahende Fröhlichkeit ist einmalig. Sollte aber doch mal etwas ganz Besonderes am Wegesrand sein, informiert ihn die Nase.

      Noch eine beispielhafte Auffälligkeit entdeckte ich kürzlich. Grassy ist zuweilen räumlich und zeitlich total desorientiert, darum lebt er eben einfach lustig weiter! Mit anderen Worten: Er nimmt es nicht zur Kenntnis, dass seine Zeit vielleicht schon abgelaufen ist, lässt sich von dem leiten, was der Tag ihm gibt, was sein Inneres ihm schenkt. Spürt er mich im Seelengrau, findet er einen Weg, sein kleines Köpfchen in meine Hand zu schmiegen. Und auch das tut er mit ganzer Hingabe, genießt es, als wär’s das erste Mal. Nein, vielleicht ist’s für ihn das erste Mal, weil er eben das Mal zuvor vergessen hat.

       Wer immer klagt, was er alles versäumt habe, sollte Hinsehen lernen.

      Wahrscheinlich hätte ich mir

      dieses Leben nicht ausgesucht,

      wenn nicht etwas in mir gewusst hätte,

      dass ich’s so hinkriege.

      Plato

      »Er soll furchteinflößend aussehen, liebenswürdig sein und sich natürlich gut mit meiner Hündin Berta verstehen«, sagte ich zum Tierheimleiter. Berta und ich waren in Deutschland und suchten einen neuen Mitbewohner für unseren Waldbauernhof in Litauen. Ich lebte mit den Tieren allein dort. Weit weg von Menschen. In den letzten Monaten waren immer mal wieder Typen erschienen, die Schnaps, Zigaretten, Geld wollten. Berta konnte zwar laut und wütend bellen, das beeindruckte die Kerle aber nicht.

      Wir gingen die Zwingerreihen ab. Und da war er: ein Tierheim-Ladenhüter, eine Kreuzung zwischen Rottweiler und Berner-Sennenhund mit der Masse eines ausgewachsenen Freilandschweines, neun Jahre alt, kampfvernarbtes Gesicht, hängende Unterlippe. Er lief langsam, Gelenke und Gewicht hatten etwas gegeneinander. Plato kam aus dem Zwinger, ich hockte mich nieder, der Hund setzte sich vor mich. Berta, interessiert und entspannt, kam dazu. Es war ein Kennenlernen mit unausgesprochener, dreifacher Sympathie.

      Ich konnte ihn nicht gleich mitnehmen. Der Leiter rief: »Plato, komm.« Plato blieb bei uns. Berta und ich gingen in den Zwinger. Plato folgte. Ich sagte: »Das ist er! Ich hole ihn morgen ab.« Der Tierheimleiter meinte: »Für ihn brauchen Sie nichts zu bezahlen. Der ist zu alt. Sie werden aber sicher noch einige Monate Freude an ihm haben.« Am nächsten Tag fuhr ich mit meinem Tiertransport, bestehend aus Plato, Berta, elf Chabo-Hühnchen plus Hahn zurück in unsere Waldidylle. Aus den prophezeiten »einigen Monaten« wurden dreieinhalb Jahre.

      Platos Freundlichkeit und Geduld machten ihn zu einem Weisen auf dem Hof. Ohne Bellen schaffte er es, Konflikte gewaltfrei zu entschärfen. Nur sein Erscheinen, sein vernarbter, dicker Kopf brachten Streitende zur Ruhe. Es gab nur eine einzige Unstimmigkeit zwischen uns, gleich zu Anfang, nachdem er bei mir war, und die lief folgendermaßen ab: Ich sah, wie Plato mit gesenktem Kopf, irgendwie schuldbeladen, über die Wiese schlich. Etwas an seinem Gesicht war anders. Es schien, als hätte er die Backen aufgeblasen. Ich schrie (der Hund hörte etwas schwer): »Plato, aus!« Der Hund senkte den Kopf noch tiefer, öffnete widerwillig das Maul. Da fielen drei (!) Zwerghuhn-Eier heraus, sie gingen nicht mal im Gras kaputt. Ein konsequenter Erzieher sollte in solchen Situationen nicht lachen, ich weuß. Aber Konsequenz macht auch nicht immer Spaß.

      Einige Tage später standen wieder die aufdringlichen Typen vor dem Tor, die nicht begreifen konnten, dass es männliche Menschen gibt, die keinen Schnaps trinken. Normalerweise wären die Kerle unaufgefordert aufs Grundstück gekommen. Aber Plato wurde sichtbar. Sein Brummen hörte sich wie ein Knurren an. Ich griff demonstrativ ins Halsband, rief »Stopp!« und tat, als müsse ich Plato vom Tor wegziehen. So verlief der letzte Versuch, Schnaps, Zigaretten oder Geld zu schnorren. Obwohl der Große etwas auf Diät sein sollte, bekam er an diesem