Heißes Geld. Jan Eik

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Название Heißes Geld
Автор произведения Jan Eik
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520212



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Aufreizendes zu verzichten.

      Hildegund schüttelte Ratzmanns schweißige Pfote ab und maß ihn mit einem Blick, der ihn zurückweichen ließ. Was für ein armseliger Trottel! Mit seiner ungebärdigen Haarmähne, dem durchgeschwitzten Hemd und der fleckigen Hose sah er aus wie ein verkleideter Orang-Utan. Noch dazu trug der Riesenkerl tatsächlich Igelitlatschen! Ihre eigenen Schuhe waren allerdings auch nicht besonders modisch. Hier im Haus verzichtete sie besser auf die von Wölfchen geschenkten, denen man die Herkunft ansah. Es gab Leute, die auf so etwas achteten und es meldeten.

      «Stell dich nicht so prüde an, Mädchen!», polterte Ratzmann. «Jetzt hauen wir dieser miesen Frontstadtbagage mal richtig auf den Kopp!»

      Dementsprechend fiel sein wirres Pamphlet aus. Hildegund war sicher, dass selbst der Chef, der jeden Beitrag vor der Aufnahme abzeichnen musste, seine helle Freude an Ratzmanns plumpen Formulierungen haben würde. Das sollte eigentlich nicht ihre Sorge sein. Die Änderungen des Manuskripts beschäftigte sie jedoch in den nächsten Stunden noch zweimal.

      Ratzmann schien sich an diesem Tag gegen sie verschworen zu haben. Als Hildegund zum Feierabend endlich hinunter in die Halle eilte, schob er seine unübersehbare Gestalt gerade durch die Ausgangskontrolle, gefolgt von Sigmar Hünicke, dem schmächtigen Kerlchen mit der großen Klappe. Der hatte zu allem und jedem etwas Dämliches anzumerken. Oft war das ganz lustig, doch auf die Dauer ging Hildegund der bissige Ton auf den Geist. Zumindest war Hünicke nicht so unsympathisch wie der ungeschliffene Schnösel Ratzmann, der jetzt neben ihm in Richtung S-Bahn herstakte. Von hinten wirkten die beiden wie das dänische Filmkomikerpaar Pat und Patachon.

      Innerlich verfluchte Hildegund die beiden. Sie nahmen sich alle Zeit der Welt und trödelten herum. Hildegund wollte sie auf keinen Fall überholen. Das hätte allemal ein Gespräch provoziert, und dem wollte sie unbedingt entgehen. Es genügte ihr, die Kerle den ganzen Tag auf der Arbeit erdulden zu müssen, wenigstens die Heimfahrt wollte sie in Ruhe genießen. Sie hatte immer ein Buch bei sich. Manchmal fand sich sogar ein Sitzplatz.

      Die BVG war gespalten. Omnibus, U- und Straßenbahn verlangten Westgeld. Deshalb fuhren die Rundfunkmitarbeiter mit der S-Bahn, die dem Osten unterstand. Es sei denn, sie saßen weit genug oben und verfügten über einen Dienstwagen. Normalerweise durften Autos mit Ost-Berliner Nummer nicht in den Westen, aber das galt nicht für den Funk.

      Pat und Patachon näherten sich der Kreuzung am Messedamm und machten Anstalten, zum Bahnhof Westkreuz abzubiegen. Wahrscheinlich wollten sie auf schnellstem Wege in die Innenstadt, um im Osten endlich etwas trinken zu gehen. Eigentlich war das auch Hildegunds Richtung. Notfalls konnte sie jedoch von Witzleben aus mit dem Nordring fahren und an der Stalinallee in die U-Bahn umsteigen. Nahe der Samariterstraße gab es ein Konsum-Kaufhaus, in dem es sich vielleicht lohnte, vor Pfingsten nach einem brauchbaren Kleidungsstück Ausschau zu halten. Noch war ihre Punktkarte nicht leer. Immer nur auf Wölfchens Geschenke angewiesen zu sein behagte ihr nicht. Außerdem besaß er einen leicht ausgefallenen Geschmack. Was er ihr mitbrachte, war meistens viel zu auffällig für die tägliche Arbeit in einem Ost-Berliner Staatsunternehmen.

      Oder sollte sie die Gelegenheit nutzen, Wölfchen mit einem Besuch zu überraschen? Diese Idee trug sie schon seit längerer Zeit mit sich herum. Weshalb sollte sie immer warten, bis er sich meldete? Bis zur Damaschkestraße brauchte sie keine Viertelstunde.

      Hildegund war gerade dabei, den Messedamm zu überqueren, als sich plötzlich ein dunkler Pkw in so scharfem Tempo näherte, dass sie erschrocken zurücksprang und prompt im Rinnstein stolperte. Sie fiel auf Knie und Hände, hielt aber ihre Handtasche krampfhaft umklammert. Die Strümpfe waren hin, so viel war gewiss. Unwillkürlich kamen ihr vor Wut und Schmerz die Tränen.

      Als sie sich aufrappelte, wuselten zwei Männer um sie herum, die scheinbar besorgt an ihrer Kleidung herumklopften und beruhigend auf sie einsprachen. Der dunkle Wagen, der scharf gebremst hatte, stand genau an der Stelle, von der sie eine halbe Minute zuvor zurückgesprungen war.

      «Kommen Sie, wir fahren Sie ins nächste Krankenhaus!», sagte der breitschultrige Mann, dessen Hand sie vergeblich von ihrem Arm zu streifen versuchte, während der andere, ein kleiner Kerl mit einem Menjoubärtchen in der Gaunervisage, einladend die Wagentür aufhielt.

      Hildegund protestierte. «Was wollen Sie von mir? Mir ist nichts passiert!»

      Der Griff um ihren Oberarm wurde fester. «Das wird sich noch herausstellen. Wir fahren Sie, wohin Sie wollen.»

      «Ich will nirgendwohin!» Hildegund funkelte den kompakten Kerl mit dem bleichen Gesicht an und blickte sich hilfesuchend um. Ein paar Leute blieben stehen. «Und schon gar nicht mit Ihnen!», schrie Hildegund jetzt fast, worauf der mit dem Bärtchen zu erklären versuchte, die junge Frau habe sich verletzt und bedürfe dringend medizinischer Hilfe.

      «Hilfe!», nahm Hildegund das Wort auf. «Hilfe!», rief sie ganz laut. «Ich bin nicht verletzt!»

      Irgendwer sprach aus, was in der Luft zu liegen schien: «Menschenraub!», worauf der Breitschultrige rot anlief und blökte: «Machen Sie sich nicht lächerlich! Die Frau muss dringend ins Krankenhaus!»

      Das Nächste, was Hildegund wahrnahm, waren ein dumpfes Türklappen und der anschließende Schmerzensschrei des Menjoumännchens. Sie drehte sich um. Grinsend stand Sigmar Hünicke neben dem Wagen und blickte unschuldig durch seine Brillengläser. Er hatte die Autotür zugeschlagen und dem Kerl dabei die Finger eingeklemmt. Plötzlich lockerte sich auch der Griff um ihren Arm. Eine vertraute Stimme sagte: «Lass das Mädel los, oder ich polier dir deine schäbige Agentenfresse!»

      Ausgerechnet Ratzmann! Den schickte ihr in diesem Augenblick der Himmel. Der von dem Redakteur so höflich Titulierte wandte sich dem unerwarteten Widersacher zu, der ihn um einen halben Kopf überragte. Ratzmann verlieh seinen Worten mit einem kräftigen Faustschlag Nachdruck, traf jedoch nur die Schulter seines Gegners. Immerhin ließ der massige Kerl endlich Hildegunds Arm los – und wollte sich auf Ratzmann stürzen. Hildegund schaffte es gerade noch, ihm einen heftigen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen. Manchmal war es doch gut, derbes Schuhwerk zu tragen. Der Schmerz ließ den Mann den Kopf senken, was Ratzmann Gelegenheit zu einem weitausgeholten Haken bot. Sein Gegner taumelte. In diesem Moment spürte Hildegund eine Hand, die nach der ihren griff. «Nischt wie weg hier!», stieß Hünicke halblaut hervor und zerrte sie quer über die Fahrbahn. «Nicht umdrehen! Da drüben ins Gewühl rein!»

      An der gegenüberliegenden Ecke drängte sich eine Gruppe von Menschen, denen jemand etwas über den Funkturm erzählte. Hünicke stürzte sich mitten hinein und zog Hildegund hinter sich her, bis der S-Bahn-Eingang sie endlich verschluckte. Auf der Treppe zum Bahnsteig hinunter ließ Hünicke ihr etwas mehr Zeit. «Bist du verletzt?», erkundigte er sich besorgt.

      Hildegund schüttelte den Kopf. «Nur ein bisschen am Knie», gab sie dann zu. Die aufgeschürften Handballen bemerkte sie erst jetzt. «Was ist mit Ratzmann?», fragte sie.

      Hünicke lachte. «Der kann sich mit seinen Mühlenflügeln selbst wehren.»

      Der Südring kam zuerst, und sie stiegen ein. Wie immer um diese Zeit war es voll. Der Mief im Raucherabteil stieg Hildegund unangenehm in die Nase. Dennoch protestierte sie nicht. Auch nicht dagegen, dass Hünicke sie weiterhin ungeniert duzte. «Na, Hildchen, das war aber ’ne heiße Nummer, die wir miteinander abgezogen haben, was?»

      Sie lächelte schwach. «Ich weiß überhaupt nicht, was die von mir wollten.»

      «Ich schon!», behauptete Hünicke, beließ es jedoch dabei.

      Am Westkreuz stiegen sie aus und gingen hinunter zur Stadtbahn. Im Schutz des Aufsichtshäuschens und nachdem er sich umgesehen hatte, setzte Hünicke seine Aufklärung fort. «Die waren von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, der KgU! Todsicher! Die wussten genau, auf wen sie es abgesehen hatten.»

      Hildegund erschrak jetzt doch ein bisschen. «Wer bin ich denn, dass die sich für mich interessieren?»

      «Eigentlich müsstest du das gleich melden», meinte Hünicke, ohne auf ihre Frage einzugehen.

      Abwehrend verzog sie das Gesicht. «Du bist wohl verrückt!» Unwillkürlich duzte