Lena Halberg: Der Cellist. Ernest Nyborg

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Название Lena Halberg: Der Cellist
Автор произведения Ernest Nyborg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783868412277



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Knochen erinnerte. Der Untergrund fing an zu rollen wie bei einem Erdbeben, eine Welle, die sich ausbreitete und die Erde aufwarf. Durch die Stöße fiel auch der Eingang der Grube mit einem ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammen.

      Zu seinem Glück, denn hätte er die Treppe nach unten noch erreicht, wäre er nun verloren gewesen. Carlos hatte Mühe stehenzubleiben, taumelte einige Schritte zur Seite, stolperte und fiel auf die Knie. Da sah er, dass vom Krater aus ein Riss entstanden war – der Graben reichte schon fast bis zum See. Der Schock über den Anblick lähmte ihn für eine Sekunde, dann sprang er auf und spurtete los. Er schrie noch eine Warnung an die Umstehenden, konnte sich aber nicht weiter um sie kümmern. Wollte er sein eigenes Leben retten, musste er wieder zurück auf die Anhöhe. Als er auf halber Strecke war, gab hinter ihm das Ufer des Bergsees nach und in Sekundenschnelle ergossen sich tausende Tonnen Wasser in die Senke, stürzten wie über Katarakte nach unten ins Erdinnere und füllten die Stollen. Alle, die die Explosionen überlebt hatten und sich noch in dem Gewirr von Gängen befanden, würden jämmerlich ertrinken.

      Hohe Rauchsäulen von dem verdampfenden Wasser, das sich in den brennenden Gängen mit dem Dreck des Bergwerks mischte, stiegen zischend in den Himmel und färbten den klaren Abend dunkelgrau.

      Carlos schaffte es gerade noch rechtzeitig hinauf. Er setzte sich nach Luft ringend auf den Boden und winkte einigen Leuten, die ebenfalls dem Wahnsinn entkommen waren und den Weg zum Hügel suchten. Völlig erschöpft saß er minutenlang da und starrte auf das Chaos. Einige der Fahrzeuge standen bis zum Dach im Wasser, andere hatten noch rechtzeitig umgedreht und hielten abseits der überfluteten Straße, Feuerwehrleute und Sanitäter standen ratlos daneben. Sogar der Grubenleiter hatte sein Megaphon sinken lassen. Er hockte auf der Motorhaube eines Kastenwagens und an den zuckenden Schultern sah man, dass sich sein Schock in einem stummen Weinkrampf entlud.

      Aus dem aufsteigenden Rauch begann es zu regnen, obwohl der Abend klar war. Ein Niederschlag wie feiner Sand, den die Schwaden mit sich hochgerissen hatten, rieselte herunter.

      Es war kein Unfall, was Carlos gerade miterlebte, und er zitterte am ganzen Körper vor Wut. Es war ihm nicht gelungen, den Beweis dafür zu sichern, der lag nun unter Tonnen von Schutt und Wasser begraben.

      Noch in der Nacht gab es eine erste Presseerklärung der Konzernleitung, die den Vorfall zutiefst bedauerte. Man sprach von einem großen Unglück und versicherte, die Sache schonungslos aufzuklären.

      Doch schon zwei Tage später veröffentlichte das Bergbauministerium des Landes eine offizielle Stellungnahme, dass es sich um einen bedauerlichen Unfall gehandelt habe und kein Grund für eine weitere Untersuchung bestehe. Und da nun niemand Schuld an dem Ereignis trug, gab es auch keinerlei Hilfe für die Hinterbliebenen der getöteten Arbeiter.

      *

      Während die Nachrichten die ersten Bilder vom Schauplatz der Katastrophe brachten, setzte am anderen Ende der Welt der junge Cellist Andrej Majinski seinen Bogen in einer feinen Bewegung auf die Saiten seines Instruments und strich den ersten Ton der d-Moll-Sonate von Schostakowitsch – ohne zu ahnen, welche Bedeutung das Werk in seinem Leben noch bekommen sollte.

       Dmitri Schostakowitsch Sonate für Violoncello und Klavier in d-Moll

       I. Satz

       Moderato

      BEDROHUNG

       Schostakowitsch verlangt ein sehr genaues Hören. Wirkt das Geschehen an der Oberfläche harmlos und gefällig, führt es in Wahrheit erbarmungslos in ein unabwendbares Schicksal ohne jegliche Seele.

       In der Reprise entsteht eine dunkle Leere – kein Ausweg, alles scheint vergeblich, ein Aufbäumen sinnlos. Was bleibt sind Hüllen hohler Klänge, die an einen resignierenden Totengesang erinnern.

      Die Schritte des jungen Mannes auf dem kalten Steinboden hallten laut, brachen sich an den hohen Wänden, überholten ihn und eilten ungeduldig voraus durch den endlos langen Korridor. Sein Gang hatte etwas Angespanntes, klang betont dringend, so als könnte er sein Tempo nur schwer kontrollieren und würde jeden Augenblick zu laufen beginnen.

      Die fensterlosen Flure in dem Gebäude waren eintönig mit stumpfer graugelber Ölfarbe gestrichen und von der Decke aus mit nackten Neonbalken beleuchtet, die den Weg in abgezirkelte helle und dunkle Segmente zerteilten. Eine Abwechslung gab es nur, wenn eine der Leuchtröhren flackerte und die Monotonie des Anblicks mit unvermittelt bizarren Lichtblitzen zerriss.

      Fast am Ende des Ganges angelangt, wandte sich der junge Mann nach rechts, wo eine schmale Abzweigung war, die zu einer einzelnen Tür führte. Vor der blieb er stehen, holte noch tief Luft, um seine Kurzatmigkeit zu beherrschen, und klopfte dann heftig. Gleichzeitig drückte er, ohne eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten, die Tür zum Ruheraum des diensthabenden Offiziers auf.

      »Iswinitje!«, sagte er halblaut. Entschuldigung. Dabei bemühte er sich, die Stimme ruhig und bestimmt in das Dunkel klingen zu lassen.

      Drinnen hob sich langsam ein Kopf von einer Pritsche und blinzelte in den unangenehm grellen Lichtschein, der durch den Türspalt ins Zimmer fiel.

      »Schto?«, fragte eine Stimme dazu verschlafen. Was?

      Der junge Mann richtete sich kerzengerade auf.

      »Eine Nachricht, Herr Oberst!« Er war ausgebildeter Kryptograf, Absolvent der Militärakademie und arbeitete erst wenige Wochen in dem geheimen Dechiffrierbüro, wo alle externen Informationen, die den Staat oder die Regierung betrafen, zusammenliefen und nach strengsten Sicherheitskriterien überprüft wurden.

      »Eine Nachricht?«, wiederholte der Oberst seinen jäh aufwallenden Zorn unterdrückend. »Da weckst du mich, Anatoli? Jede Minute kommen irgendwelche Meldungen!«

      »Solche nicht!«

      »Was soll das heißen?« Der Diensthabende schlug die Decke zurück, knipste das Licht an und setzte sich auf.

      »Sie ist nicht chiffriert!«

      »Bist du betrunken?«

      Anatoli schüttelte den Kopf und deutete ein wenig hilflos in Richtung des allgemeinen Nachrichtenraumes, wo er einige Monitore zu überwachen hatte. »Bitte, Oberst, überzeugen Sie sich selbst.«

      Der stand mit einem unwilligen Laut auf und deutete dem Untergebenen mit einer knappen Handbewegung, er solle die Tür schließen. »Warte, ich komme in einer Sekunde.«

      Als der junge Mann draußen war, ging er durch den schmalen Raum zu einer Waschgelegenheit. Dort schaufelte er sich mit beiden Händen kaltes Wasser ins schlaftrunkene Gesicht, um den Kopf klar zu bekommen, frottierte sich ab und richtete den Kragen seines Hemdes. Immer noch sicher, dass der Neue einem Irrtum aufgesessen sei, nahm er mürrisch sein Sakko vom Stuhl.

      Mit eiligem Schritt gingen sie durch die Gänge zurück zum Hauptgebäude. Rechts und links befanden sich enge Türen mit kleinen Glasfenstern in der Mitte, die zu Räumen klein wie Kammern führten, in denen die Analysten saßen. In zwei Schichten wurden hier eingehende Botschaften entschlüsselt. Nun, um ein Uhr nachts, waren die Schreibtische jedoch leer und auch das übrige Gebäude wirkte wie ausgestorben. Nur in dem zentralen Computerraum, der vorne über dem Eingang lag, saßen einige vom Bereitschaftsteam mit müden Augen vor ihrem Sichtungsgerät. Sie ordneten die im System ankommenden Daten nach codierten Statuszeilen, trugen sie in ein Protokoll ein und leiteten sie danach an einen der zuständigen Experten für die Kryptoanalyse weiter.

      Anatoli ging voraus zu einem freien Arbeitsplatz, steckte seinen codierten Personalstick in den Slot im Fuß des Monitors und gab sein Passwort ein. Sofort sprang der Bildschirm an und zeigte die zuletzt bearbeitete Mail. Der Oberst warf einen abschätzigen Blick auf Anatoli und setzte sich. Als er den Text sah, erstarrte er jedoch.

      Die