Название | Totensteige |
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Автор произведения | Christine Lehmann |
Жанр | Зарубежные детективы |
Серия | |
Издательство | Зарубежные детективы |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867549264 |
Ich schaute auf. Becker war noch durchsichtiger geworden im Lauf der Jahre, noch trockener und leiser. Die Strähne, die sich so gern aus ihrem Gebinde stahl, war grau geworden. Die Glut jahrzehntelang missachteter Kompetenz lag tief versunken in dunklen Augen.
»Alle Geschichten, die uns begleiten, sind Spukgeschichten«, sagte sie. »Die halbe Bibel erzählt von paranormalen Vorgängen, Psychokinese, Telepathie, Untoten, Geistern, Wahrsagerei. Der Koran auch, unsere Märchen ebenfalls, eigentlich alle Bücher. Immer gibt es abwegige Zufälle, die sich als Schicksal erklären, geheimnisvolle Zusammentreffen, Vorahnungen, die sich erfüllen. Alles hat Bedeutung. Und es geschehen Wunder. Leute überleben Kämpfe, die sie nicht überleben können.«
Ich hüstelte und verschwieg ihr, wie ich es Richard, sogar Sally verschwiegen hatte, dass mich derzeit ebenfalls allerlei Zufälle plagten, für die ich keine Newton’sche Erklärung hatte, von denen ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob sie geschahen.
»Übrigens war Bender selbst eine, sagen wir, mythenumwobene Gestalt. Beispielsweise fehlte ihm das Diplom seines Doktortitels als Mediziner, den er 1940 erworben haben wollte. Er hat ihn vierzig Jahre später nachgemacht. Und auch von den Nazis hat er sich nicht so ferngehalten, wie wir das heute wünschen würden. Er hat sich zwar hauptsächlich mit Psychologie und Wahrnehmung beschäftigt, aber er hat eben auch mit der SS-Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe zusammengearbeitet. Der ging es darum, den arischen Rassentypus wissenschaftlich zu untermauern.«
»Ein ebenso sinnloses Unterfangen, wie dieses ganze Teledings nachweisen zu wollen, scheint mir.«
Die Archivarin lächelte fein. »Der Beweis, dass es diese geistigen Fernwirkungen nicht gibt, ist ebenso schwer zu führen. Wenn nicht noch schwerer. Um die Fermat’sche Vermutung zu beweisen, hat man auch 350 Jahre gebraucht.«
Ich jaulte auf.
»Dabei geht es ebenfalls um den Beweis, dass es etwas nicht gibt, nämlich, dass der Satz des Pythagoras, a² + b² = c², für Hochzahlen größer als 2 keine Lösung mit ganzen Zahlen hat. Das hat man zwar gewusst, aber beweis es mal bei einer unendlichen Menge von Zahlen.«
Ich beruhigte mich wieder. »Schön, wie Sie das erklären.«
»Jedenfalls haben das Koestler-Institut in Edinburgh, wo Finley McPierson lehrt, und das Institut von Gabriel Rosenfeld in Holzgerlingen den umgekehrten und leichteren Weg gewählt und vor drei Jahren eine Million Euro ausgelobt für denjenigen, der sich mit seinen Psi-Fähigkeiten Labortests unterwirft und besteht.«
»Und haben sie den gefunden, der es kann?«
»Bisher nicht. Das hätte sicher immenses Aufsehen erregt.«
»Ganz sicher.«
»Und irgendetwas gibt es.« Beckers Lächeln war diabolisch, dann ging es Schlag auf Schlag. »1989 hat der russische Schachcomputer M2-11 den damaligen Schachmeister Gudkow mit einem Stromschlag getötet. Die Maschine hatte zweimal verloren. Ein technischer Defekt wurde nicht gefunden. 1985 haben sich in Thailand einige Dieselloks selbständig gemacht. Das hat sogar die Tagesschau gemeldet. Eine Ursache wurde nie gefunden. In Brighton hat eine Aufzugsmaschine den Aufzug rauf- und runterfahren lassen, obgleich sie keinen Strom hatte, denn das Haus wurde gerade abgebrochen. Man musste die Anlage zertrümmern. 1987 stellte sich ein PC, ein Amstrad 15-12, nachts immer wieder von selber an, sogar wenn er gar keinen Strom hatte. Er produzierte Buchstaben und Wortfetzen auf seinem Bildschirm, so als ob er träumte. Man hat das über Monate gefilmt. Und dann das Dorf Canneto di Caronia auf Sizilien. Seit Januar 2004 geschehen unheimliche Dinge. Haushaltsgeräte gehen zusammen mit Sicherungskästen in Flammen auf, auch wenn der Strom abgeschaltet ist, Autos starten von allein, Autotüren lassen sich mit Fernbedienung nicht mehr öffnen, ein Bus explodiert, Handys wählen massenhaft Nummern, die es nicht gibt. Physiker der NASA geben dem Ätna die Schuld.«
»Außerirdische wären mir lieber!«
»Eher Unterirdische. Die NASA vertritt die Ansicht, dass vulkanische Aktivitäten bei diesem Dorf hochgeladene Ionen an die Erdoberfläche treiben, die elektrische Geräte entzünden und manipulieren könnten.«
Ich langte nach der Erklärung wie eine Ertrinkende nach dem Strohhalm. Damals konnte ich noch schwimmen. »Aber gibt es auch Gespenster, Frau Becker? Geister von Verstorbenen, die herumspuken?«
5
Es war schon dunkel, als ich mich die Weinsteige in den Kessel hinunter staute und die Blitzer angrinste. »Ich kann nicht schneller, sorry.«
Die Radionachrichten beschäftigten sich mit dem Zugunglück von Hordorf auf der Eisenbahnstrecke Magdeburg-Thale, bei dem zehn Menschen ums Leben gekommen waren. Hatte der Zugführer des Güterzugs oder der des Personenzugs den Fehler gemacht, oder hatte es eine technische Fehlfunktion gegeben? Daran erinnere ich mich – die Einzelheiten habe ich gerade noch mal nachgeschaut –, vielleicht, weil mir zum ersten Mal die Formulierung »technisches Versagen« auffiel und ich über menschliches Versagen nachdachte. Wie kann Technik versagen? Was heißt überhaupt versagen? Wir sind Versager, wenn wir nicht schaffen, was wir schaffen wollen oder was andere von uns erwarten. Als Tochter habe ich versagt. Zumindest aus Sicht meiner Mutter. Ich sehe das aber so, dass ich mich befreit habe aus katholischer Höllenangst und Festlegung auf Fremdsprachensekretärin und Ehefrau.
Eine Ampel wiederum hat versagt, wenn sie nicht Rot zeigt und Züge ineinanderdonnern. Oder ihr Steuercomputer hat versagt. Oder der Programmierer, der nicht alles bedacht hat, was Technik zum Versagen bringt. Letztlich ist alles menschliches Versagen. Schlecht gebaut, schlecht gewartet. Oder? Als ich am Charlottenplatz abbog, gingen mir die Züge durch den Kopf, die sich in Japan selbständig gemacht hatten, und der PC, der nachts träumte, obgleich er keinen Strom bekam. Kann man von technischem Versagen sprechen, wenn stillgelegte Geräte nicht stillstehen?
Und wie hatte Rosenfelds Mörder überhaupt den Raum verlassen? Durch die Tür jedenfalls nicht. Durch die Fenster auch nicht. Denn er hätte das Eis im Wassergraben nicht betreten können, ohne Einbruchsspuren zu hinterlassen, deren Narben im Eis auch an diesem Montag noch sichtbar gewesen wären.
Ich brachte Charlotte Brontë in ihre Garage – »Sei brav, ja. Fahr nicht weg!« –, stieg die drei Treppen zu meiner Wohnung hinauf, warf den Computer an und schaufelte die Fotos von meinem Handy.
So ’n Hure’seich! Alles verwackelt, unscharf, verblendet, eines sogar ganz schwarz. Total vergespenstert. Auch die, die ich mit ausgestrecktem Arm durch den Türspalt ins Büro von Rosenfeld hinein gemacht hatte. Das gibt’s doch nicht! Nur ein einziges, das ich von der Leiter aus gemacht hatte, ließ immerhin Rosenfelds Beine erahnen, die unter dem Tisch hervorragten. Man erkannte die Lage der Leiche, bevor die Polizei eingetroffen war und die Tür gegen den Widerstand der Beine hatten aufschieben müssen, um hineinzukommen.
Kalte Hände strichen mir über den Nacken. Wo war ich da hineingeraten? Ich nahm Cipión und ging raus, um nachzudenken, was in doppelter Hinsicht ein Misserfolg war. Cipión war es zu nass und zu kalt auf seinen kurzen Dackelbeinen und mein Hirn taugte seit jeher nicht zum Nachdenken.
»Ich bin Freitagnachmittag etwas früher gegangen«, hatte Dr. Barzani der Polizei erklärt. »Professor Rosenfeld wollte noch zum Flughafen und dort Professor McPierson abholen.« Desirée hatte nach eigenen Angaben ebenfalls Schluss gemacht, kaum hatte Dr. Barzani das Haus verlassen. Freitagnachmittag machten alle früher Schluss. Zu der Zeit war unten in der Eingangshalle noch ein Maler damit beschäftigt gewesen, die Toilettentüren zu streichen.
Ich vermutete, dass der Professor seit Freitagabend tot in seinem Büro gelegen hatte. Es war ein klassisches Doyle/Christie-Arrangement, nur dass bei den Briten die Leichen in verschlossenen Räumen nicht derartig nach schwedischem Lustmörder aussahen. Und das Herz fehlte. Auch das hatte ich zufällig mitgehört, obgleich ich es nicht hätte hören dürfen. Aber wieso hatte derjenige, der da gewütet und die Leiche so ausgelegt hatte, dass er selbst den Raum nicht mehr durch die Tür verlassen konnte, hinterher diese Tür auch noch mit einem