Lufthunde. Burkhard Müller

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Название Lufthunde
Автор произведения Burkhard Müller
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866742116



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Buch, Nr. 194

      »Eitelkeit der Morallehrer. – Der im ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf einmal wollten, das heißt, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für alle geben. Dies aber heißt im Unbestimmten schweifen und Reden an die Tiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Tiere dies langweilig finden! Man sollte begrenzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor allem aber bleibt der große Erfolg immer dem, welcher weder alle, noch begrenzte Kreise, sondern einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unsern eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst ebenso vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten – und mit der Aufgabe auch Würde, vor sich und aller anderen ›guten Gesellschaft‹.«

      Der Morallehrer als zertifizierte Profession scheint sich heute erledigt zu haben – was natürlich nur bedeutet, dass er auf bedeutend niedrigerem Niveau wiederkehrt. Gäbe es so etwas noch ausdrücklich und anerkanntermaßen, hätten niemals Figuren wie Ulrich Wickert oder Peter Hahne auftretenkönnen. Es setzt sich also ein Niedergang fort, den bereits Nietzsche selbst beklagt, wenn er das achtzehnte Jahrhundert gegen das neunzehnte ausspielt. Um die Moral braucht einem deswegen aber nicht bange zu sein, sie stellt sich überall von selbst ein, wo Menschen nur überhaupt in Gesellschaft leben, also immer, wie die Hormone in der Pubertät. Wahrscheinlich ist der Erfolg der Morallehrer in jeder Epoche extrem gering gewesen. Schopenhauer, von dem Nietzsche anfänglich viel hielt, hatte das behauptet, und zwar gerade angesichts der in diesem Stück glorifizierten Erziehungsverhältnisse von früher: Wer wissen wolle, was es mit der Pädagogik auf sich habe, der schaue sich den berühmtesten Lehrer aller Zeiten an – Seneca – und seinen einzigen Schüler – Nero –, und er wisse genug. Nietzsche, selbst der gröbste, späteste, bleibt immer ein bedingungslos Gläubiger der Pädagogik. Pflanzt euch nicht fort, pflanzt euch hinauf! Dieses Geschäft will er weder der Evolution überlassen, die ihn nichts angeht, noch dem dialektischen Prozess der Geschichte, den er bestreitet – den beiden anderen konkurrierenden Baumschulen des neunzehnten Jahrhunderts –, sondern allein der »Zucht«. Wie sehr er aber, trotz allem, Zucht als Liebe denkt und Liebe als Überredung, das zeigt sein schöner Einfall von der Predigt an die Wölfe, sie möchten Hunde werden. Er will den Lehrer geehrt wissen. Nietzsche hat über die gelacht, die ihn seines großen Schnurrbarts wegen als wilden Mann fürchteten. Diesem Hinweis auf seine getarnte Sanftmut sollte man nachgehen. Nietzsche, der sich wechselnd auf alle möglichen Geister berief, nur um sie wieder zu verwerfen (zum Beispiel Schopenhauer), hat zwei wirkliche dauernde Vorbilder: Konfuzius und den heiligen Franziskus.

      Siebter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Der freie Geist, Nr. 35 »O Voltaire! O Humanität! O Blödsinn! Mit der ›Wahrheit‹, mit dem Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt –›il ne cherche le vrai que pour faire le bien‹– ich wette, er findet nichts!«

      Das ist zwar knapp und etwas dunkel, hält sich aber zum Glück in seinem Charakter des Stoßseufzers von den Versuchungen des Aphorismus fern. Plötzlich ist für Nietzsche das achtzehnte Jahrhundert nicht mehr kultiviertes Vorbild, dem er nachtrauert, sondern in seinen edelsten, nämlich pädagogischen Bestrebungen »Blödsinn«. Allgemein kann man bei Nietzsche feststellen, dass er eine Art von sukzessiver Dialektik betreibt, jetzt dies und etwas später dessen Gegenteil behauptet, ohne jedoch beides miteinander abzugleichen, ganz als hätte er das Vorherige vergessen. Er erfasst die räumliche Struktur einer Frage, indem er im Lauf der Zeit um sie herumgeht, wobei sie ihm verschiedene Aspekte zukehrt. Es schwächt die Geltung dessen, was er sagt, und macht es fruchtbar für alle, die nach ihm kommen; so verfährt ein guter, doch sehr anspruchsvoller Lehrer, bei dem die Schüler nicht nur die Worte hören, sondern auch das Lächeln sehen sollen, das die Worte einschränkt. Darum geht es auch in diesem kurzen Stück: dass es mit dem Suchen der Wahrheit etwas auf sich habe – was, da legt er sich nicht fest, da bleibt Spielraum. Sein Spott gilt dem Aufklärer Voltaire, der in den Spuren des antiken Tugendoptimismus wandelt, indem er das Gute und das Wahre für schlechterdings identisch erklärt. (Fehlt nur noch das Schöne, und wir hätten die Präambel der alten bayerischen Schulordnung.) Aber es steckt darin mehr Gutartigkeit und Nachsicht, als Nietzsche an dieser Stelle durchblicken lassen möchte. Er weiß schon, wie viel vom Verspotteten er in sich selbst birgt; und darum bleibt sein Urteil über Voltaire (wie über Sokrates) ausgesetzt und angehalten, bis ganz zuletzt, als er Eindeutigkeit mit rabiaten Mitteln herstellen will.

       Achter Stich: Der Antichrist, Nr. 18

      »Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist – ist einer der korruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein! In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des ›Diesseits‹, für jede Lüge vom ›Jenseits‹! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! …«

      Ich mag den »Antichrist« nicht; und nur mit einiger Bekümmerung setze ich diese Stelle, die der Zufall nun einmal wollte, hierher. Fangen wir mit der Interpunktion an. Beim späteren Nietzsche proliferiert das Ausrufezeichen, was bei jedem Autor ein böses Indiz ist. Dass das Stück aber nicht nur mit einem Ausrufezeichen aufhört, sondern dann noch drei Punkte folgen, signalisiert ein echtes Formproblem. Der Ruf sollte eine in sich gerundete Geste sein und nicht verläppern. Da fehlt es an der Kraft zu schließen. Was ist aus Nietzsche geworden, schlimmer noch: was hat er sich zu werden gezwungen. Unheiter, grob und lautstark, in einem Grad, dass es ihm selbst, um einen seiner Lieblingsausdrücke zu gebrauchen, wider den Geschmack gehen sollte. Einmal bemerkt er zu Pascal: Es sei quälend anzuschauen, wie dieser in sich die Vernunft abtöte, wie ein zähes, langbeiniges Insekt, das nicht sterben will. Derselbe Anblick bei Nietzsche ist noch quälender, denn das Gut, in dessen Namen er den Abtötungsprozess vollzieht, ist jedenfalls ein noch niedrigeres als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das »Leben«! Das Leben gibt es nicht, und wenn doch, dann nur als den Todfeind des Lebendigen, indem es sich stets und immer auf dessen Kosten erhält und weitermacht, wenn dieses stirbt.

      Das braucht keine Überhöhung, das sollte man nicht verherrlichen, das ist der traurig rätselvolle Lauf der Welt. Angesichts des Lebendigen aber kann es eigentlich nur ein Erschrecken vor dessen Gebrechlichkeit geben. Die Verleumdung des Diesseits begreift man am besten als eine Folge dieses Schrecks: so leicht und schnell soll uns der Hals gebrochen sein! Nein, das wollen wir nicht hinnehmen, wir wollen, dass das Lebendige in allem, was es in seiner kurzen Zeit war, an einem Ort aufgehoben werde. Diesen Ort bewacht und garantiert der christliche Gott. Er ist nicht bestellt, das Leben zu bekämpfen, sondern das Lebendige zu schirmen. Nicht das Nichts vertritt er, sondern das bisschen, das sich so erschütternd wenig davon unterscheidet, den »Hauch in den Mulden«, als den Max Frisch das Lebendige auf Erden vom Flugzeug aus gesehen hat. Wir sollten eher Erbarmen haben mit denen, die diesen Gott brauchten, und mehr noch mit uns selbst, die wir nicht einmal ihn mehr haben. Natürlich beruht der Glaube an ihm auf einem bedürfnisgeborenen Irrtum, er ist Illusion und aus den Mündern bestimmter interessierter Kreise, z. B. der Priesterschaft, sogar Lüge. Es lässt sich Vieles gegen das Christentum sagen, und mit dem Ton des Zorns. Nietzsches Einwände sind die verkehrten.

       Neunter Stich: Die Fröhliche Wissenschaft,

       Drittes Buch, Nr. 237 bis 241

      »237. Der Höfliche. ›Er ist so höflich!‹– Ja, er hat immer einen Kuchen für den Zerberus bei sich und ist so furchtsam, dass er jedermann für den Zerberus hält, auch dich und mich – das ist seine ›Höflichkeit‹.

      238. Neidlos. – Er ist ganz ohne Neid, aber es ist kein Verdienst dabei: denn er will ein Land erobern, das niemand noch besessen hat und kaum einer auch nur gesehen hat.

      239. Der Freudlose. – Ein einziger freudloser Mensch genügt schon,