Zur Zukunft des Abendlandes. Otto Kallscheuer

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Название Zur Zukunft des Abendlandes
Автор произведения Otto Kallscheuer
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783866742109



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       Die Republik und das Monstrum

       Bürgerreligion und Nationalstaat

       Das Abendland oder Europa

       Föderalismus Und Pluralismus

       Kein Volk, Kein Kaiser, Kein Tribun

       Literaturhinweise

       Liegt das Abendland im Westen?

      Wie deutlich die Welt

      ist Im Fadenkreuz

      des Theodoliten.

      Das kühle Auge

      der Dosenlibelle:

      ein winziger Himmel.

      Hans Magnus Enzensberger,

      Blindenschrift (1960)

      1

      Vor zwanzig Jahren haben wir auf der Mauer getanzt. Die kleine Firma, bei der ich arbeitete, der Berliner Rotbuch Verlag, hängte am 9. November »aus aktuellem Anlaß« ein Pappschild an die Tür. Wir schlossen unsere Fabriketage an der Potsdamer Straße und gingen rüber zum Brandenburger Tor, um zu feiern. ›Drüben‹ im Osten, in der DDR, waren wir natürlich auch vorher häufig gewesen (wir konnten ja einreisen). Schon um unsere Autoren aus der Dissidenten- und Literatenszene zu besuchen. Später stellte sich freilich heraus, daß der allergrößte Zampano unter den kritischen Kritikern ein Stasi-Offizier war.

      2

      Über den ungarischen Riß im Eisernen Vorhang, über den Fall der Berliner Mauer, über die zwar unfreiwillige, aber (mit wenigen Ausnahmen) am Ende doch friedliche Entmachtung des Kommunismus in Osteuropa war die Freude noch allgemein. Während des Kalten Krieges hatten Ost- und Mittel- und Südosteuropäer jahrzehntelang von ihrer ›Rückkehr nach Europa‹ geträumt. Als sie dann nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in die Europäische Union aufgenommen werden wollten, waren die Völker im Westen deutlich weniger begeistert. Und dies hatte nicht nur ökonomische Gründe.

      Denn nun führte der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums (und seiner Satelliten oder Varianten auf dem Balkan) zur Wiederbelebung von weitaus älteren nationalen, religiösen, kulturellen Bruchlinien. In Südosteuropa wurden in den neunziger Jahren blutige Volkskriege ausgefochten und ethnische Säuberungen durchgeführt – und das gerade erst mit dem Maastricht-Vertrag (1992/1993) entstandene politische (West)Europa war weder willens noch in der Lage, sie zu verhindern. Auf dieser Seite des Vorhangs hatte niemand damit gerechnet, daß die historischen Gegensätze zwischen lateinischer und orthodoxer Christenheit, zwischen christlichen und muslimischen Bevölkerungen auf dem Balkan, am Ende des XX. Jahrhunderts wieder von Bedeutung sein könnten.

      3

      Und plötzlich behauptete die Türkei, auch sie gehöre in die Europäische Union. (So jedenfalls erschien es den meisten Westeuropäern. In Wahrheit waren Ankara schon jahrzehntelang Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt worden – aber niemand aus dem westlichen Club hatte dies offenbar ernst gemeint.) Angesichts der EU-Neuzugänge in Zentraleuropa und trotz einer wachsenden Anzahl muslimischer Einwanderer und Neubürger in West- und Nordeuropa (oder eben genau deswegen) löste nun die türkische Frage in Rom oder Paris oder Berlin oder Prag alte und neue Ängste aus. Weitaus weniger übrigens in London: Seit dem Ende des britischen Empire waren schließlich zahlreiche muslimische Commonwealth-Bürger, vor allem aus Britisch Indien oder Ostafrika, nach England gekommen.

      4

      Zudem hatte sich der damalige Dekan des römischen Kardinalskollegiums Joseph Ratzinger in dieser Debatte über die kulturellen Grenzen Europas zu Wort gemeldet und (ausgerechnet in der französischen Presse!) eindeutig gegen die türkische Mitgliedschaft in der Europäischen Union Stellung bezogen. Für türkische Ohren kam damals Ratzingers Europa-Idee jener Vorstellung vom ›Christenclub‹ ziemlich nahe, die der Führer der gemäßigt islamistischen Gerechtigkeitspartei Tayyip Erdogan allen Türkei-skeptischen Europapolitikern des Westens unterstellte. Und ausgerechnet dieser kulturelle Lateineuropäer Ratzinger wurde dann im Frühjahr 2005 zum römischen Papst und Nachfolger Petri auserkoren.

      5

      Unter der Hand hatte sich die kulturgeschichtliche (ebenso integrierende wie differenzierende) Frage nach einer europäischen ›Identität‹ in die Suche nach politischen Abgrenzungen verwandelt – Europa wird zum Ausschlußgrund. Nun besinnen sich sogar Ungläubige auf die christlichen Wurzeln Europas.

      Beiderseits des Atlantik warnt seit dem 11. September 2001 ein neues Genre von Sachbüchern und Pamphleten vor dramatischen Entwicklungen in Alteuropa als ›dem schwächsten Glied der Kette des Westens‹: In drei, vier Jahrzehnten könnte sich der alte Kontinent, einst feste Burg der christlichen Zivilisation, in ein muslimisches ›Eurabia‹ verwandelt haben.

      Bei seinem dritten historischen Ansturm auf das Herz der Christenheit finde nämlich ›der Islam‹ heute – anders als Anno Domini 732 bei Poitiers und dann 1683 vor Wien – keine westlichen Verteidiger mehr. Diesmal seien die Waffen der muslimischen Conquista freilich andere als jene, wider die Karl Martell bei Poitiers oder Jan Sobieski in der Schlacht am Kahlenberg vor Wien das Banner der Christenheit verteidigten. Heute und morgen bedrohe uns christlich-säkulare Europäer nicht nur der islamistische Terrorismus, sondern die Hingabe an Gott (denn nichts anderes heißt: Islam).

      Und vor allem … die Demographie. Die eingeborene und zumeist christlich erzogene europäische Bevölkerung reproduziert sich nicht mehr: Ihre Geburtenrate ist weit unter das ›Erhaltungsniveau‹ von 2,1 Kindern pro Frau gefallen, wohingegen die meisten muslimischen Länder noch über eine ›aktive‹ demographische Bilanz verfügten. Die europäische Christenheit habe spätestens seit den sechziger Jahren ihre angestammten religiösen Überzeugungen aufgegeben und den regelmäßigen Gottesdienstbesuch regelrecht desertiert.

      Da aber beide Trends irgendwie zusammenhängen – strikt religiöse Familien mit traditioneller geschlechtlicher Arbeitsteilung haben i. d. R. eine höhere Kinderzahl als säkulare Familien mit höherer Entscheidungsfreiheit der Frau –, scheint auch die Therapie offenkundig: Ihr am Christglauben zweifelnde Europäer, kehret zurück in den Schoß der Mutter Kirche, tut Buße, glaubet erneut und mehret Euch! Give me that old time religion! – oder die Mauren kehren zurück. Diesmal als Sieger.

      6

      Das Jalta-System – der durch das atomare Gleichgewicht des Schreckens befestigte Ost-West-Gegensatz von Kommunismus und Freier Welt – schien in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts sämtliche älteren Konflikte ausgelöscht oder doch in ihrer politischen Bedeutung verschluckt zu haben, an denen sich zuvor in zwei Jahrtausenden Europas kulturelle Identität formiert hatte. Zu diesem ›Ende der Geschichte‹ hatte nicht nur die totalitäre ›Geschichtspolitik‹ des sowjetischen Kommunismus beigetragen, sondern auch das freiheitlich ›anti-historistische‹ Selbstbewußtsein Amerikas – in den Worten Georg Wilhelm Friedrich Hegels »ein Land der Sehnsucht für alle, welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt«. (HW, Bd. 12, S. 114).

      Amerikas Selbstbild als »Land der Zukunft« hat bereits eine über zweihundertjährige Geschichte. Die »nordamerikanischen Freistaaten«, wie Hegel sie nennt, verstanden und konstituierten sich schließlich Ende des XVIII. Jahrhunderts als Gegenmodell zur europäischen Kriegs- und Staatenordnung des Absolutismus, als bürgerliche Gesellschaft ohne »Bedürfnis eines organischen Staats«. (Hegel). Im Jahrhundert zuvor war ein Großteil der neuenglischen Siedler wegen ihres religiösen Dissenses aus der alten Welt der konfessionellen Staaten und Kriege Europas ausgewandert: