Название | Er, Sie und Es |
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Автор произведения | Marge Piercy |
Жанр | Научная фантастика |
Серия | |
Издательство | Научная фантастика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867548748 |
Ihr war rätselhaft, warum Avram ihre Mitarbeit wollte, aber ein befristeter Job in Tikva verschaffte ihr Zeit zu überlegen, wohin sie wollte, Zeit, mit Multis zu verhandeln, Zeit zu heilen. Welche Freude, wieder zu Hause zu sein, wo Malkah die Sabbat-Kerzen entzünden würde, wo sie wieder die alten Gebete sprechen würden, wo sie frei sein würde, die zu sein, die sie war. Wie bitter, ohne ihr Kind zurückzukehren. Sie hatte sich so oft vorgestellt, ihn nach Tikva zu bringen. Sie rechnete nicht mit Schwierigkeiten bei der Kündigung. Hätte Y-S ihre Dienste behalten wollen, wäre ihr ein Teil des Sorgerechts für Ari zugestanden worden. Hätten sie sie so dringend gebraucht wie Plasmaphysiker auf Pazifika, besäße sie jetzt das alleinige Sorgerecht. Konzerngerechtigkeit. Nun kehrte sie heim.
3
MalkahMalkah erzählt Yod eine Gutenachtgeschichte
Es war einmal, so beginnen Geschichten. Halb Künstlerin, halb Wissenschaftlerin, weiß ich das. Als Mutter und Großmutter habe ich fünfzig Jahre lang Geschichten erzählt. Wie die Kinder heranwachsen, so auch die Geschichten, von bewegten Strichzeichnungen zur vollen Skala aller Farbtöne, dick aufgetragen wie Gips oder Blut. Einige Moralgeschichten gehören in den Kindergarten, das Alter, in dem man im Dunkeln Angst hat, das Alter, in dem man sich ein kurzes Stück allein aus dem Haus wagt, ermahnende Fabeln mit grellen Buntstiften geschrieben. Aber andere Geschichten sind immer bei uns. Wir erzählen sie uns selbst in der Mitte unseres Lebens und im Alter, jedes Mal anders, sie wachsen zusammen wie Stalaktiten, die zur Erde drängen, werden schwerer mit jedem Tropfen und seiner Last geheimer, aufgelöster Gesteine und Mineralien, den vielen Salzen des Planeten.
So ist denn, lieber Yod, die Geschichte, die ich nun in der Basis lasse, nicht so, wie ich sie meinem Kind Riva oder meinem Kind Shira erzählt habe, oder Shira und Gadi, als sie vor mir hockten wie kleine Frösche, ganz Knopfaugen und Erlebnishunger. Ich zeichne die Geschichte nur für dich auf, in den Nächten meiner aschgrauen Schlaflosigkeit, wenn mir mein Leben vorkommt wie eine Dachkammer voller Schachteln, die ich weggestellt habe, Dinge, die einmal kostbar waren und die jetzt verstaubt und halb vergessen sind, aber immer noch ein Chor von Forderungen, dass ich sie ordne und jedem einen Platz zuweise, als Vermächtnisse, als Gerümpel, als Museum, das ich der Familie öffne oder der Welt. Dies ist eine Zeit, in der Neues beginnt und anderes endet, eine Zeit der großen Risiken und Gefahren, des plötzlichen Todes durch geistige Ermordung. Es ist auch die Zeit, in der mein Augenlicht wieder schwindet, und diesmal kann es nicht wiederhergestellt werden. Die Dunkelheit der Nacht äfft die Dunkelheit nach, die ich so fürchte, und der Schlaf ist der Liebhaber, den ich vielleicht stärker fürchte, als dass ich seine sanfte, warme Last auf mir wahrhaft begehre.
Dies ist also die Geschichte vom Golem: nicht du, mein eigener kleiner Golem, den ich klein nenne, obwohl du viel größer bist als ich, so groß wie ein hochgewachsener Mann (wie Razi, mein vorletzter Liebhaber), und um ein so Vielfaches kräftiger als ich, dass ich gar nicht erst raten mag. Du kannst einen Marmorblock über deinen Kopf heben. Nein, klein ist ein liebevoller Ausdruck, so wie viele Sprachen Kosesilben anhängen, die im Format verkleinern, was sie an Zuneigung vergrößern. Avram hat mir verboten, dich zu sehen, aber wir können uns immer noch über die Basis austauschen, und dort lege ich meine bobe majßeß für dich nieder. Ich bin mir keineswegs sicher, in welchem Maße ich mich bei deiner Programmierung großer Torheit und grenzenlosen Ehrgeizes schuldig gemacht habe oder bis zu welchem Grad ich vielmehr die Figur der Kraft im Tarot-Spiel bin, die Frau, die den Löwen zähmt, die dir beigebracht hat, deine Gewalt mit menschlichen Bindungen zu mildern. Ein Vorhaben, das Avram unterband.
Ich erzähle diese Geschichte für dich, während ich allein in meinem eigenen geräumigen, antiken Bett liege, in dem Schlafzimmer, das mir angepasst ist wie ein altes vertrautes Kleidungsstück, mit dem Duft der Narzissen aus dem Hof, in diesem Haus meiner Familie mit seiner grünen Oase inmitten der Wüste, zu der unsere Welt geworden ist. Ich liege wach und spüre die Gefahr, die um uns in diesem zerbrechlichen modernen Ghetto wächst. Dies ist eine Geschichte meiner Familie aus alter Zeit, als die Welt aufzubrechen schien. Sie nannten es Wiedergeburt. Renaissance. Aber nichts kommt je genauso wieder. Die Welt bewegt sich auf der menschlichen Ebene in Epizyklen, obwohl zu der Zeit, in der meine Geschichte erzählt werden möchte, es ebenjenes epizyklische Weltbild war, das von einigen wenigen mutigen Astronomen verworfen wurde. Sie traten für ein System ein, einfach, klar und völlig anders als das menschliche oder vielmehr anthropozentrische Weltbild, das den meisten, die damals in Europa lebten, als unwandelbar galt und als zutiefst christlich. Aber wie das ptolemäische Weltbild hat auch meine Geschichte ein menschliches Zentrum.
Dies ist im Besonderen die Geschichte eines gewissen Judah Löw, mehrerer Männer und Frauen um ihn herum und eines Un-Mannes. Aber es ist auch die Geschichte einer Stadt und eines Städtchens innerhalb einer Stadt, eines Städtchens so einzigartig, so eingekesselt und so gefährdet wie unsere eigene freie Stadt der Juden hier an der steigenden, vergifteten See. Prag ist die Stadt, das schöne Prag, das just seine graue und goldene, senf- und terracottafarbene, erdbeerrote und pistaziengrüne Stuckwärme annimmt, das sich gerade zu der Stadt gestaltet, durch deren barocke Formen ich im Frühling meines zweiundzwanzigsten Lebensjahres ging – im Jahre 2008 –, während ich bei jenem brillanten Manne Philosophie studierte, der ein so großer Lehrer war und ein so ungeschickter Liebhaber, und doch hielt ich den Tauschhandel von meinem Fleisch für seine Gesellschaft und seine Gespräche für angemessen, und ich hatte recht. Ich wanderte durch die verwinkelten Gassen und erklomm die Treppen, träumte von Kafka, dessen Geschichten ich immer bei mir trug, und träumte auch von Einstein, der an dieser Universität gelehrt hatte, während er seine Relativitätstheorie schuf. Ich war eine hochbegabte Studentin, die beste Studentin meines Professors und für eine Zeit seine Liebste, während in jenem Frühling der Flieder blühte.
Jeden Tag schaute ich von den Universitätsgebäuden hinüber in das, was einmal das Ghetto gewesen war; jeden Tag durchquerte ich es, vorbei an der Altneuschul, vorbei am jüdischen Friedhof zu meinem Studenten- und Arbeiterviertel, einem mittelalterlichen Pferch enger Gassen, zwei- und dreistöckige Häuser, an denen senfgelber Stuck die uralten zerbröckelnden Ziegelsteine in der Rasnovkastraße übertünchte. In der Pinkas-Synagoge, erbaut im fünfzehnten Jahrhundert und schon alt, als Rabbi Judah Löw durch diese engen Gassen schritt, stehen an den kahlen Innenwänden die 77.397 Namen von Juden angeschrieben, die in den Todeslagern zu Rauch verbrannt wurden, im gleichen Jahr, als meine Mutter in Cleveland, Ohio geboren wurde, einundvierzig Jahre vor meiner eigenen Geburt. Der Flieder stand in Blüte, als ich meine Tochter Riva empfing, die ich, kaum der Jugend entwachsen, in aller Stille aus Prag forttrug, ein Klümpchen in meinem Leib wie ein Souvenir der Freude, so wie andere Besucher Kunsthandwerk aus tschechischem Kristall davontrugen. Und in der Tat, Riva war von Kindesbeinen an ungefähr so formbar und gefügig wie Kristall.
Innerhalb des Prags von 1600 befindet sich die Judenstadt, das ummauerte Ghetto, der Glop seiner Zeit, mit Häusern, die sich wie Schuhlöffel in Höfe zwängen, und Familien, die in einem Zimmer hausen, oder mehreren Familien, die in einem Raum zusammengepfercht sind, der ihnen kaum genug Platz bietet, um sich nebeneinander schlafen zu legen – Mauern, die selten den Pöbel abhalten, der sich regelmäßig erhebt, um zu brandschatzen und zu morden. Es ist nicht viele Jahre her, seit ein Pöbelhaufen plündernd durch die Straßen zog und ein Viertel der Einwohner hinschlachtete, verstümmelte und zerrissene Leiber wie blutiges Gerümpel auf die Straßen geworfen, umgestürzte Wiegen, aufgespießt, während sie beteten, aufgeschlitzt im Wochenbett. Nicht einen Überlebenden gab es, der nicht einen Gatten, eine Frau, ein Kind, eine Mutter, einen geliebten Menschen zu beerdigen hatte. Im Jahre 1543 wurden alle Juden aus Prag vertrieben, wurden plötzlich mit dem, was sie tragen konnten, aus ihren Häusern gejagt und im feindlichen Umland ausgesetzt, um anderswo ihren Weg zu machen, irgendwo anders. Erst gestern hörten die Juden