Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Название Der taube Himmel
Автор произведения Herbjørg Wassmo
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783867548700



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verstand die Menschen nicht. Natürlich hatte er auch manchmal Wut auf Rakel. Aber er konnte seine Wut nicht an ihr auslassen. Wenn er sie ansah, wurde er ganz weich. Wie ihr Strickgarn. Die Wolle, die sie von den Schafen schoren. Wenn Rakel ihn umarmte, spürte er erst richtig, dass sie ihm immer gefehlt hatte. Sie machte ihn stark. Gab den Tagen, zu denen er aufstand, Farbe. Sie!

      Vielleicht, weil er immer so sicher gewesen war, dass er der Mann war, den sie haben wollte.

      Es wehte ein scharfer Wind von der Bucht. Der Frühling setzte sich fest. Simon stand auf dem Hügel und sah über die Landschaft. Das tat er oft. Hatte das Fahrrad zum zweiten Mal an diesem Abend hinaufgeschoben. Draußen leuchtete der Horizont. Die Inseln lagen in einer Art schimmernder Dämmerung. Simon gehörte nicht zu den Menschen, die Visionen und ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis hatten, wenn sie eine so schöne Natur sahen. Er lebte in ihr und mit ihr. Aber manchmal machte er seine großen blauen Augen weiter auf als sonst – und sah. Das weckte einen gewissen Widerhall in ihm, bei dem er sich sehr wohlfühlte. Genauso wie nach einer guten Mahlzeit mit Rakel, die ihm bei Tisch gegenübersaß. Aber er grübelte es nicht weg. Ließ nicht zu, dass es Besitz von ihm ergriff.

      Jetzt stand er da oben und schaute auf seinen neuen Betrieb. Er hob sich in der Dämmerung ab. Mit dem weißen Anstrich stach er aus all dem Grauen und Blauen hervor. Schob sich von selbst in jedermanns Blickfeld.

      Simon besaß. Er verwaltete. Er war nicht besonders hochmütig. Er hatte im Tausendheim für klare Verhältnisse gesorgt, auch wenn Rakel nicht da war. Er stand in der Dämmerung und war froh. Das war alles.

      Trotzdem brannte eine gewisse Unruhe in ihm. Warum kam sie nicht nach Hause? War Tora wirklich krank? Oder wollte sie von der Insel fort – von ihm? War es zu eng für sie in Simons Reich? Hatte er während seines ganzen Erwachsenenlebens auf die Katastrophe gewartet, die ihn in den Abgrund stürzen würde? Weil Simon, der uneheliche Junge aus Bø, von einem Leben wusste, in dem man sich immer überflüssig fühlte und allen Leuten im Weg war. In dem man immer zu viel aß, zu viel herumlungerte. So war es bei den Pflegeeltern gewesen. Bis er als junger Kerl auf die Insel gekommen war, weil der Onkel kräftige Fäuste für die Arbeit brauchte.

      Und dann war der Onkel ebenso passend und zuverlässig gestorben, wie im Herbst die Johannisbeeren gepflückt werden. Und Simon wurde über Nacht König. Er hatte um einen Onkel, den er kaum gekannt hatte, nicht getrauert. Hatte nur ein paar von den schlechtesten Möbeln in die Scheune befördert und war die Buchführung durchgegangen. Er verstand nicht allzu viel davon und fuhr damit zum Steuerberater nach Breiland, der ihm sagen konnte, dass Geschäft und Gebäude und Boot sozusagen schuldenfrei waren. Ebenso Wohnhaus und Hof. Dreitausend Kronen sollten an die Mission gehen, aber alles andere – Grundstücke und Bankkonto – gehörte ihm. Simon war zwanzig Jahre alt. Er vergaß nie, wie leicht es gewesen war. Und er hatte eine tief verwurzelte Angst, dass er ebenso leicht alles wieder verlieren könnte. Der Brand war eine Warnung gewesen.

      An dem Tag, nachdem der Onkel unter die Erde gekommen war, hatte er sich Felder und Wiesen und das ganze Umland, Wohnhaus und Ställe angesehen. Mit den Händen in den Hosentaschen. Als ob er Angst hätte, es könnte etwas vor seinen Augen verschwinden, wenn er es anfasste. Nach ein paar Tagen ging er in den Fischereibetrieb, machte heimlich Skizzen und plante Verbesserungen und Modernisierungen.

      Ein Wunder löste das andere ab. Rakel war das größte. Sie zog mit ihren drei Schafen zu ihm herauf und blieb. Anfangs ging sie noch jeden Abend von Bekkejordet in das kleine Fischerhaus zu ihren Eltern, weil der Vater es so wollte. Aber ihre roten kräftigen Haare waren überall zu finden. Im Schafstall, in der Ofenecke, in der Speisekammer und im Dachgeschoss. Sogar in Simons Bett. Und ihr Geruch blieb zurück wie der Geruch von getrockneten Blumen, die im Herbst in dem kleinen Nebenraum hingen. Sie waren so jung. Es fehlte ihnen nichts. Zunächst.

      Simon und Rakel hatten ihre Hochzeit selbst ganz groß ausgerichtet. Ohne jemanden um Rat zu fragen. Und die Braut war nicht schwanger.

      Der Schafstall war in jedem Frühling voller Lämmer. Ebenso sicher, wie das Licht über den Inseln in die Bucht kam. Aber Rakels Leib blieb flach. Der Segen wolle sich in diesem Haus nicht einstellen, hieß es. Jedoch Simon wusste. Auch wenn Rakel nach Breiland fuhr und zurückkam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne, Simon wusste. Manchmal weinte es in ihm deswegen. Aber er konnte es nicht ertragen, dass Rakel weinte. Deshalb wagte er nicht, es ihr zu zeigen.

      Er war unfruchtbar, nicht Rakel. Er wusste es seit der Zeit, als er ein armer Kerl gewesen war, der sich seine Freude holte, wo er sie bekommen konnte, ohne dass ihn das Gewissen sonderlich plagte, wie wohl das Schicksal des Mädchens aussehen werde. Aber es kam nie ein Kind. Darüber hatte er sich ab und zu gewundert.

      Sie waren einander Kinder, Geliebte, Gesinde und Träume. Sie spielten wie Tierkinder, drinnen und draußen. Bis die Freude herausbrach wie heißblütige junge Pferde. Gelegentlich ließen sie Zorn und Angst aneinander aus, um sich im nächsten Augenblick zu gegenseitigem Trost aneinanderzuschmiegen. In Haus und Hof wuchs und gedieh alles.

      Simon stand auf dem Hügel und sah nach Været hinunter und über den Fjord. Und er vermisste Rakel so sehr, dass sein Blick getrübt war und die großen, starken Hände unruhig und schutzlos auf dem Fahrradlenker lagen.

      8

      Rakel wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren.

      Jetzt lagen Tora und sie jedenfalls in dem großen Hotelbett. Die Dunkelheit hatte sich wie eine nasse Plane über sie ausgebreitet. Toras Geschichte hatte sie beide so eng miteinander verbunden, dass sie wohl nie mehr voneinander loskommen würden. Es war eine Geschichte, wie Rakel sie noch nie gehört hatte. Nicht in den Fischerhäusern, nicht auf der Straße, und auch in ihrer wildesten Phantasie hätte sie sich so etwas nicht vorstellen können. Sie würde sie bestimmt niemandem erzählen. Die Geschichte war jetzt zu ihrer Last geworden. Weil Tora überleben musste. Das sah Rakel deutlich.

      Als sie auf dem Fußboden saßen, war die Wirklichkeit mehr gewesen, als Rakels Verstand fassen konnte, auch wenn sie ihr als Gleichnis von einem Vogeljungen präsentiert wurde. Rakel brachte es bis zu einem gewissen Grad fertig, den nächsten Tag zu verdrängen. Die Gesichter, denen sie begegnen musste. Die Situationen, die sie auf die Probe stellen würden – jeden Tag.

      Sie sah auf das schlafende Mädchen neben sich im Bett und gestand sich ein, dass sie den Gedanken nicht denken konnte: Henrik! Ein jammervolles Gefühl, Tora nicht erlösen zu können. Alles ungeschehen zu machen.

      Tora hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie glich der Großmutter, als diese im Sterben lag. Die gleiche straffe Haut über den Backenknochen. Aber es zuckte und lebte in dem Gesicht und im ganzen Körper. Sie kämpfte. Wollte nicht aufgeben. Tief im Schlaf befangen.

      Während Rakel das Gesicht auf dem Kissen betrachtete, überfiel sie ein so leidenschaftlicher Hass, dass er das Mitleid für Tora erstickte. Jeden vernünftigen Gedanken erstickte. Sie nahm den Hass auf sich. Spürte, wie stark sie davon wurde. Ingrid würde die Wahrheit nie überleben – und »Henrik konnte nicht sterben«. Tora hatte recht. Er war verflucht, er hatte sich in eine Situation gebracht, in der es ihm nicht vergönnt war zu sterben. Sonst wäre er ertrunken oder vor langer Zeit vom Blitz erschlagen worden! Rakel gelobte, dass sie die Rechnung für alles begleichen würde, was der Herrgott versäumt hatte. Dafür war sie geboren worden.

      Dieses Kind zu beschützen, dem das Leben gerade die Haut abzuziehen versuchte. Gott mochte ihnen allen helfen. Sie hatte es noch nicht klar vor Augen, wie sie das schaffen würde. Aber schaffen würde sie es.

      Und mit diesem Gedanken glitt sie in einen leichten Schlaf.

      Im Halbschlaf tasteten sie nacheinander. Die eine hatte jemanden bekommen, mit dem sie ihre Angst teilen konnte. Tora bekam eine Hälfte ihres Ichs zurück. Eine leere Hälfte, um alle Dinge darauf aufzubauen. Sie fing an zu träumen.

      Rakel und sie ruderten im Sturm. Sie waren seekrank. Erbrachen sich über das ganze Boot, das gleichzeitig das Bett war. Aber dann wurde das Meer außerhalb des Lichtkegels der Lampe ruhig, dort, wo das Meer sonst tobte, und die Bucht machte eine Biegung und verschwand hinter der Landzunge. Sie lagen im Wasser und planschten