Das Elend des Kulturalismus. Rudolf Burger

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Название Das Elend des Kulturalismus
Автор произведения Rudolf Burger
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783866742048



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und des heiligen Eifers gegen den stoischen Götter- und Vorsehungsglauben und die stoische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele; für das große lachbereite Publikum traf der Kyniker Varro mit den flüchtigen Pfeilen seiner vielgelesenen Satiren noch schärfer zum Ziel.« So also sah es mit der Wertschätzung des großen Rhetors, der das Bildungsideal des Humanismus verkörpert, schon im spätrepublikanischen Rom aus; mit den Zynikern und materialistischen Epikureern aber, die damals schon die intellektuelle Avantgarde darstellten, hatte dieser, wie schon die gesamte christliche Epoche vor ihm, selbstverständlich nichts am Hut.

      Als kulturelles und damit als soziales Distinktionsmerkmal hat der humanistische Bildungsbegriff sich bis in unsere Tage erhalten, wenn auch der griechische Traum schon spätestens Ende des 19. Jahrhunderts ausgeträumt war und die Lebenswelt des Bildungsbürgertums in der massendemokratischen Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts bis auf wenige subventionierte Inseln untergegangen ist; als kleinbürgerliches Persönlichkeitsideal wird er weiter gepflegt, obwohl er ironischerweise gerade von jenen am heftigsten attackiert wurde, die ihn nach gängiger Vorstellung am reinsten verkörperten: von den Mandarinen der deutschen Philosophie. So hatte Nietzsche schon in »Die Zukunft unserer Bildungsanstalten« die klassische Bildung eine »anspruchsvolle Illusion« genannt, die als »eine Art von Zauberei angesehen« werde, die aber »nichts bewirke außer Befreiung vom Militärdienst und Doktortitel«, und in der Spätschrift »Morgenröte« von 1886 heißt es im Aph. 195, unsere Erzieher führten uns der sogenannten klassischen Bildung anstatt der Erkenntnis der Dinge entgegen; er nennt dort die klassische Bildung eine »Vergeudung unserer Jugend«. Für Karl Löwith hat der Begriff »Bildung« einen »mystisch verblasenen Charakter«, und nach Helmuth Plessner zeichnet ihn eine »trächtige Fülle und ein seelenhaftes Pathos« aus. Für den jungen Carl Schmitt ist die Rede von »Bildung« und »Kultur« eine epigonale Erscheinung des verflossenen liberalen Zeitalters, und er mokiert sich schon vor 1914 über die geistige Atmosphäre des Fin de siècle, das heute als Bildungsparadies der »Welt von Gestern«. (Stefan Zweig) glorifiziert wird, in der nach seinen Worten »die Luft voll ist von bedeutsamen Redensarten und große Worte wie Kultur, Kritik und Leben einem von allen Seiten um die Ohren schlagen. Aber es geht den meisten mit diesen wichtigen Dingen wie Don Ottavio (in Mozarts Don Giovanni) mit seiner Ehre und seiner Kraft: Die Ehre erkennt man nur daran, daß er beständig schwört; die Kraft läßt sich nur aus den zahlreichen Gebeten um Kraft erschließen«.

      Daß es sich bei dieser Kritik am humanistischen Bildungsideal nicht allein (wie bei diesem selbst) um ein Phänomen des deutschsprachigen Raumes handelt, sondern daß sie mit gleicher Vehemenz sich etwa auch in Frankreich äußerte, das mit den Grandes écoles nicht in einer wie immer modifizierten Humboldt-Tradition steht, möchte ich nur an Äußerungen zweier französischer Denker deutlich machen, die ansonsten verschiedener nicht sein könnten:

      Unter dem Stichwort »Erziehung« notierte Paul Valéry in seinen »Cahiers« Mitte der 1930er Jahre: »Die Bezeichnung ›Humaniora‹ versetzt mich in Wut. Die Anmaßung, die darin steckt; die Vagheit, mit der man sie definiert; die offenkundigen Auswirkungen des Wertes, den man ihr beimißt, sind schuld an meiner Reaktion […] Latein, Griechisch, Geschichte – Vergangenes – tot. – Die Allgemeinbildung, die ›allgemeinen Ideen‹ haben zur Folge, daß man keinen Kohl mehr von einer Rübe unterscheiden kann.« Und Michel Foucault sagte in einem Interview im Jahre 1968: »Das am meisten belastende Erbe, das uns aus dem 19. Jahrhundert zufällt – und es ist höchste Zeit, uns dessen zu entledigen –, ist der Humanismus. […] Der Humanismus ist ein Verfahren gewesen, das mit Begriffen wie Moral, Wert und Versöhnung Probleme löste, die zu lösen man überhaupt nicht imstande war. […] Den Menschen zu retten, den Menschen im Menschen wiederzuentdecken […] all diese geschwätzigen, zugleich theoretischen und praktischen Unternehmungen […] die vor lauter Humanismus seit Jahren die gesamte geistige Arbeit zur Sterilität verdammt haben. […] Unsere Aufgabe ist es, uns endgültig vom Humanismus zu befreien. […] All diese Herzensschreie, all diese Ansprüche der menschlichen Person, der Existenz sind abstrakt: d. h. abgeschnitten von der wissenschaftlichen und technischen Welt, die nämlich unsere wirkliche Welt ist. Was mich gegen den Humanismus aufbringt, ist der Umstand, daß er nur noch der Wandschirm ist, hinter den sich reaktionärstes Denken flüchtet, hinter dem ungeheuerliche und undenkbare Bündnisse geschlossen werden. […] In wessen Namen? Im Namen des Menschen! Wer würde es wagen, Schlechtes über den Menschen zu sagen!«

      III.

      Trotz all dieser Kritik hat das humanistische Bildungsideal als rhetorische Pathosformel in akademischen Festreden und in der Formelsprache der Bildungspolitik sich bis auf unsere Tage erhalten. Und mit dieser Pathosformel erhalten hat sich eine ganze Familie bildungspolitischer Termini, die alle Reformdebatten der Schul- und Hochschulpolitik ideologisch überformt. Zu dieser Familie gehört das Dual Bildung versus Ausbildung ebenso wie die Einheit von »Forschung und Lehre« sowie ganz allgemein die Berufung auf Humboldt und sein berühmtes Plädoyer für »Einsamkeit und Freiheit«; zu der schon älteren Unterscheidung zwischen allgemeinbildenden höheren Schulen und berufsbildenden Schulen kommt neuerdings die zwischen Universitäten und Fachhochschulen, nachdem alle ehemaligen Hochschulen, gleichgültig welcher Richtung und wie fachkonzentriert sie immer sein mögen, ob künstlerisch, technisch, merkantil oder agrarisch, zu Universitäten promoviert worden sind; die ehrwürdigen medizinischen Fakultäten wurden sogar als einzelne zu ganzen Universitäten erklärt; der Sache nach sind sie natürlich reine Fachhochschulen. Zwischen den Fachhochschulen und den Universitäten spielt sich heute auf tertiärer Ebene das gleiche Status- und Prestigegerangel ab wie seinerzeit zwischen den berufsbildenden Schulen und den Gymnasien, was staatliche Berechtigungen und soziales Ansehen betrifft. Letztere zehren dabei immer noch von einem lange schon semantisch entleerten Bildungsversprechen, während ersteren die ideologisch geringer valorisierte Ausbildungsfunktion zugeschrieben wird. Diese Rangordnung wird sich allerdings sehr rasch ändern, die Positionen werden sich nicht nur angleichen, sondern invertieren, und zwar nicht nur deshalb, weil die Fachhochschulen aus organisatorischen Gründen die besseren Studienbedingungen zu bieten in der Lage sind, sondern vor allem auch, weil sie bildungsideologisch viel weniger belastet und daher wesentlich flexibler sind; das war letztlich sogar das Motiv für ihre Gründung: Sie werden, wenn man so sagen will, die künftigen Eliteeinrichtungen sein und nicht die Universitäten; so wie es heute schon die berufsbildenden höheren Schulen im Sekundarbereich sind. Tatsächlich wird ja auch an den Universitäten nichts anderes als »Ausbildung« betrieben, nur unter schlampigeren Verhältnissen und auch in Fächern, nach denen nicht notwendigerweise eine ökonomische Nachfrage besteht; und geforscht wird auch schon an den Fachhochschulen. Wenn heute von Universitäten ein Bildungskanon in Anspruch genommen wird, von dem kein Mensch mehr sagen kann, worin er eigentlich besteht, so widerspricht dieser Anspruch sogar den ursprünglichen Humboldtschen Ambitionen, denn nach diesen hätte der institutionell vermittelte Bildungsprozeß mit dem Abitur bzw. der Matura abgeschlossen sein sollen; die damals neue Philosophische Fakultät hatte ihre vormalige propädeutische Funktion an die reformierten Gymnasien abgegeben, und was danach folgte, war Ausbildung in den neuen Wissenschaftsdisziplinen, wie an den vor-Humboldtschen Universitäten die Ausbildung der Theologen, der Juristen und der Mediziner in den drei klassischen Fakultäten. Das meistzitierte Prinzip der sogenannten Humboldtschen Universität, die Einheit von Forschung und Lehre, findet sich gar nicht in den Schriften Humboldts, sondern es ergab sich vielmehr als Parole aus der umwälzenden allgemeinen Wissenschaftsentwicklung im 19. Jahrhundert. Entscheidend dafür war deren atemberaubende Dynamisierung und ihre zunehmende Ausdifferenzierung in Disziplinen, was die Aufrechterhaltung statischer Lehrbestände unmöglich machte. Ein ähnlicher Prozeß hin zum »forschungsgeleitenden Lernen«, das als charakteristisches Monopol universitären Studiums gilt, wird sich auch an den Fachhochschulen durchsetzen und ist auch schon im Gang. Von einer »Einheit von Forschung und Lehre« allerdings kann, wenn sie denn jemals Realität war, schon lange nicht mehr die Rede sein. Allenfalls finden beide sich vereint unter einer gemeinsamen organisatorischen Klammer, sind aber curricular aufgespalten in eine berufsausbildende Lehre und eine forschungsorientierte Phase für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Universitäre »Bildung« aber in einem nichtideologischen Sinn ist, insofern sie überhaupt institutionell vermittelt werden kann, ein Kollateraleffekt von »Ausbildung« – sie ist eine Funktion von deren Intensität, d. h. von dem Maß der Versenkung in eine Sache als Problem, die über