Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer

Читать онлайн.
Название Die Fischerkinder
Автор произведения Melissa C. Feurer
Жанр Историческая фантастика
Серия
Издательство Историческая фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783865068217



Скачать книгу

worden war, setzte die Regierung der Stadt ihn als Springer ein, der mal hier, mal da aushalf, mal hierhin, mal dorthin reiste und mal mehr, mal weniger gut verdiente.

      Mira mochte ihn gerne. Er erinnerte sie mit seinem schütter gewordenen grauen Haar, das vielleicht einmal vom gleichen rötlichen Blond wie das seiner Kinder gewesen war, an den zerstreuten Professor aus einem der Bücher, die sie gelesen hatte, und sie freute sich stets, ihm zu begegnen, was aber nicht oft vorkam.

      Frau Petersen bekam sie ebenfalls nur selten zu Gesicht, obwohl sie viele Nachmittage bei Vera und ihrer Familie verbrachte. Meist schlief sie – „am helllichten Tag!“, entsetzte sich Miras Mutter –, und auch wenn sie wach war, erinnerte sie an eine Schlafwandlerin. Mira schien sie sehr weit weg, aber sie hatte Vera noch nie danach zu fragen gewagt, ob sie in ihrem Kopf vielleicht tatsächlich an einem ganz anderen Ort war.

      Mira war den ganzen Weg zum Haus der Petersens gerannt und musste erst einmal zu Atem kommen und das Buch wieder sicher unter ihrer Bluse verstauen, als sie schließlich vor der wurmstichigen Eingangstür stand. Das ganze Haus hätte eine Renovierung bitter nötig gehabt, ein wenig Putz, eine Menge Farbe und frisches Holz. Aber das traf auf die meisten Häuser zu, wenn Mira auch zugeben musste, dass das Haus der Petersens besonders schäbig aussah.

      In einigen Räumen waren die Vorhänge zugezogen – ein Missstand, den Miras Mutter nie geduldet hätte –, darunter auch das Elternschlafzimmer, das Refugium von Veras Mutter. Wie ein Bär hielt sie dort ihren immerwährenden Winterschlaf und quälte sich nur gelegentlich für kurze Ausflüge an das grelle Tageslicht, wobei sie die Augen fest zukniff, als wären sie nicht mehr an die Helligkeit gewöhnt.

      Kaum hatte Vera die Tür geöffnet und Mira in den Flur treten lassen, legte sie schon einen Finger an die Lippen und wisperte kaum hörbar: „Wir müssen leise sein. Meine Mutter schläft.“

      Das war nichts Neues für Mira. Eigentlich war es sogar der Normalzustand im Haus der Petersens, sich auf Zehenspitzen fortzubewegen, um Veras Mutter nicht zu wecken.

      Insgeheim fragte Mira sich häufig, ob ihre Krankheit wohl tödlich war. Als sie Frau Petersen zuletzt gesehen hatte, hatte sie ausgesehen wie ein Geist. Die spröde Haut beinahe vom gleichen gräulichen Weißton wie das Nachthemd, das spitze Gesicht hinter einem fast kinnlangen Vorhang aus hellblondem Haar verborgen. So musste jemand aussehen, der im Sterben lag.

      Ob ihr Mann und ihre Kinder und auch sonst jeder, den Mira kannte, deshalb so beharrlich darüber schwieg, was ihr fehlte? Mira hatte sie oft Medikamente nehmen sehen. Ein einziges Mal hatte sie Vera gefragt, wozu sie gut waren. Ihre Freundin hatte derart barsch reagiert, dass Mira es danach nie wieder gewagt hatte.

      Mira folgte Vera durch den Flur, an Frau Petersens nur angelehnter Tür vorbei und ins Wohnzimmer. Es war das Herz des Hauses; von dort führte eine stets offene Tür in die Küche und eine Holztreppe ins Obergeschoss. Den meisten Raum nahm der große, runde Esstisch ein.

      Schmutziges Geschirr von mehreren Tagen stapelte sich darauf, und der Geruch von etwas Angebranntem lag in der Luft. Die Petersens hatten keine Bedienstete aus den Armenvierteln, und abgesehen von Vera hatte Mira hier noch niemals jemanden putzen, spülen oder Staub wischen sehen. Und das, obwohl Veras Mutter nicht einmal berufstätig war!

      Wie gut, dass Miras Eltern den Zustand von Veras Zuhause nicht sahen. Sie hätten auf der Stelle vorgeschlagen, Vera zurück in eines der Erziehungshäuser zu bringen, damit man sich dort „anständig um sie kümmerte“. Dass zumindest die ersten Jahre der Erziehung Sache des Staates waren, hielt ihr Vater in Fällen wie dem der Petersens für lebensrettend. Ihre Mutter fand es grausam; sie hätte Mira gerne von klein auf bei sich gehabt und nicht erst zu ihrem dritten Geburtstag – zumindest für die meiste Zeit – nach Hause geholt. Aber das war natürlich ihr Geheimnis, denn man widersprach den Regeln des Staates nun einmal nicht.

      Im Gegensatz zu ihrem Bruder Filip sah man Vera ihre Herkunft an. Zwar achtete Filip darauf, dass ihre Kleidung ordentlich und ihr Haar kurz war, doch war eben nichts gegen nachlässig in die Hosen gesteckte Blusen, unheimlich schnell herauswachsende Ponyfransen und schlichtweg fehlendes Talent für Staatsgeschichte zu machen. Letzteres war besonders verdächtig. Vera konnte sich einfach keine Zahlen merken und hatte zudem ein Talent, die falschen Fragen zu stellen. Aber sie hatte die für jemanden ihrer Herkunft wertvolle Begabung, unauffällig zu sein. Bisher hatte sie es noch immer in die nächste Klassenstufe geschafft, indem sie einfach im Durchschnitt versunken war und es anderen überlassen hatte, sich positiv oder negativ hervorzutun. Klein, zierlich und schüchtern, wie sie war, konnte man sie manchmal tatsächlich fast übersehen.

      „Geht es deiner Mutter wieder –“ Mira kam nicht dazu, die Frage zu beenden, weil trotz ihrer Bemühungen, leise zu sein, eine dünne Stimme aus dem Schlafzimmer drang: „Vera?“

      Vera blieb wie angewurzelt stehen und bedeutete Mira, still zu sein. Sie lauschte, ob ihre Mutter noch einmal etwas sagen würde oder ob sie bereits wieder eingeschlafen war.

      „Meine Tabletten“, krächzte Frau Petersens Stimme von drinnen. „Ich brauche … meine Tabletten.“

      Vera schluckte hörbar, dann zog sie die Tür auf und schlüpfte in das abgedunkelte Schlafzimmer. „Nein, Mutter“, hörte Mira sie leise erwidern. „Du hast deine Medikamente vorhin schon genommen.“

      „Aber es … tut so weh“, stöhnte Frau Petersen. Eine Weile atmete sie nur gequält ein und aus.

      „Trink etwas.“ Das Geräusch einer Flüssigkeit, die in ein Glas gegossen wurde, war zu hören, kurz darauf das Husten von Frau Petersen. Mira nahm an, dass Vera versuchte, ihrer Mutter ein wenig Wasser einzuflößen, und sie musste den Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken. Ihre Eltern mochten nicht perfekt sein; ihr Vater war ein Kontrollfanatiker, der seine Familie als eine Art Vorzeigemodell der Gesetzestreue betrachtete, und ihre Mutter eine heimliche Rebellin, deren größte Sorge die Meinung der Nachbarn war. Aber Mira musste doch zugeben, dass sie zu Hause stets gut umsorgt und aufgehoben gewesen war. Nicht wie Vera, die nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre kranke Mutter sorgen musste, wenn Vater und Bruder im Dienst des Staates außer Haus waren.

      Veras Schritte näherten sich bereits wieder der Tür, als Frau Petersen noch einmal das Wort ergriff. „Sag … sag es nicht Filip. Sag ihm nicht, dass ich … von meinem Zustand“, flehte sie schwach. „Hörst du, Vera? Sag ihm nichts. Er … er regt sich immer so auf.“

      Mira konnte nicht hören, ob Vera es ihr tatsächlich versprach, weil in diesem Moment die Haustür aufgeschlossen wurde und kein anderer als Filip den Flur betrat.

      Er war das genaue Gegenteil von Vera: groß, beherrscht und stets sehr exakt. Sein rotblondes Haar war einwandfrei geschnitten und betonte seine kantigen Züge, seine Kleidung war sauber, und an seiner blauen Uniformjacke prangten bereits die ersten beiden Abzeichen, auf die Filip mächtig stolz war. Bis vor Kurzem hatte er Orden nur dann aus der Nähe gesehen, wenn seine Vorgesetzten sie ihm zum Polieren überlassen hatten.

      Filips gepflegtes Äußeres und seine nur zu deutlich zutage tretende Gesinnung waren es, die ihn in den Augen von Gerald und Rose Robins trotz seiner zweifelhaften Herkunft zu einem rechtschaffenen Bürger und durchaus vorstellbaren zukünftigen Schwiegersohn machten. Jedenfalls wurde Miras Mutter nicht müde, das zu betonen.

      „Du beehrst uns auch wieder?“, begrüßte er Mira mit gewichtiger Miene. Filip Petersen hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als nicht freundlich zur Tochter seines großzügigen Gönners und Vorgesetzten Gerald Robins zu sein. Trotzdem wurde Mira das Gefühl nicht los, dass er manchmal nicht allzu erfreut war, sie zu sehen.

      „Wenn mich nicht alles täuscht“, fuhr er fort, nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, „dann sitzt Vera über ihren Hausaufgaben. Vielleicht möchtest du später wieder …“

      In diesem Moment hörte er Veras sanft flüsternde Stimme und das Rascheln von Laken, und Mira konnte regelrecht zusehen, wie das Lächeln aus seinem Gesicht purzelte. „Ist es Mutter?“

      In Miras Bauch machte sich ein Eisklumpen breit. Mit seinen glänzenden Orden und der tiefblauen