Die Fischerkinder. Melissa C. Feurer

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Название Die Fischerkinder
Автор произведения Melissa C. Feurer
Жанр Историческая фантастика
Серия
Издательство Историческая фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783865068217



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an die Arbeit zu machen.

      „Musst du nicht lernen? Hausaufgaben machen?“

      Mira fühlte, wie sich der Gedanke an mathematische Formeln und Staatsgeschichte schwer auf ihre Schultern legte. Sie wusste, dass ihr Land Fachkräfte brauchte. Dass es ein Vorrecht und gleichsam ihre Aufgabe war, sich ausbilden zu lassen, um den Staat aus der wirtschaftlichen Krise zu führen. Damit sie eigenständig bleiben konnten und nicht auf Import angewiesen waren.

      „Ihr, du und deine Altersgenossen, seid die Zukunft, Miriam“, proklamierte ihr Vater regelmäßig. „Unser Staat braucht Landwirte, Ingenieure, Lehrer – jeden klugen Kopf und jede starke Hand, um das Wohl unseres Landes zu garantieren. Wir haben es in der Hand, Miriam! Unsere Zukunft liegt nicht mehr in den Händen anderer Nationen und diffuser Bündnisse. Wir können für uns selbst sorgen. Das ist unser Privileg und unsere Pflicht.“

      Also lernte Mira mit mehr Eifer als all ihre Mitschüler. Staatsgeschichte war ihr bestes Fach. Sie konnte alles auswendig: die Jahreszahlen von Anbeginn ihres Staates an. Jahr 0, Gründung. März 98, das Krönungsjahr ihres ersten Königs, des ehemaligen Präsidenten Nicholas Auttenberg. Sein größter Verdienst, die Beendigung jeglichen Imports im Oktober 107. Die Ernten waren ausgezeichnet gewesen, ein guter Zeitpunkt. Natürlich kämpften sie auch jetzt, eineinhalb Jahre später, noch für die Eigenständigkeit ihrer Versorgung. Es war noch ein weiter Weg, bis alle Ressourcen so genutzt wurden, dass alle Bürgerinnen und Bürger gut versorgt waren. Aber diese Übergangszeit war notwendig, und wenn sie nur alle mit anpackten, ihren Beitrag leisteten, dann würde König Auttenbergs große Entscheidung sie in ein paradiesisches Reich des Wohlstands und der Unabhängigkeit führen.

      Mira hatte glänzende Noten im Staatsgeschichtsunterricht. Immerhin war die glorreiche Geschichte ihres Heimatlandes neben dem Gesetz und der Meinung der Nachbarn eines der Lieblingsthemen ihres Vaters. Wenn sie ihm zuhörte, dann erfüllte es Mira mit Stolz, hier leben und ihren Teil zum Gedeihen des Landes beitragen zu dürfen. Und so sollte es sein, fand ihr Vater. Sie sollten alle stolz auf das sein, was sie schon erreicht hatten. Ihre Unabhängigkeit, den über hundertjährigen Frieden. Stundenlang konnte ihr Vater darüber reden.

      Kaum etwas musste Frau Dr. Steinlein Mira noch beibringen, und nur einmal hatte sie die Lehrerin verärgert, indem sie gefragt hatte, wann sie sich der älteren Geschichte, der Welt vor dem Jahr 0, widmen würden. Sie hatte keine Antwort, dafür aber eine schriftliche Mitteilung an ihren Vater bekommen, der sich bei seinem mahnenden Vortrag beim Abendessen so in Rage geredet hatte, dass er sich an einer Forellengräte verschluckt hatte.

      Alles, wirklich alles, was sie über diese grausige, dunkle Zeit wissen müsse, hatte er ihr eingeschärft und sie mehrmals wiederholen lassen, sei die Tatsache, dass es furchtbar gewesen sei. Kriege und Korruption, Intrigen und Betrug. Kein Land ohne horrende Schulden, der internationale Markt ein einziges Druckmittel, Import und Export bis zum Ruin. Mit immer größeren Bündnissen hätten sich die Länder abzusichern versucht, wollten sich in Sicherheit wiegen. Aber dann hätten eben die Bündnisse gegeneinander Krieg geführt statt der einzelnen Länder.

      „Alles, wirklich alles, was du wissen musst“, hatte er seinen Vortrag nach einem heftigen Hustenanfall beendet, „ist, dass wir es nun besser haben. Wir sind eigenständig. Wir sind in keinen Bündnissen gefangen und nicht von Importen abhängig. Dass du in der Sicherheit dieses Staates aufwächst und nicht in der Welt dort draußen, ist ein Privileg, und es sollte dein oberstes Ziel sein, diesen Staat zu unterstützen. Wiederhol es!“

      „Es sollte mein oberstes Ziel sein, unseren Staat zu unterstützen“, hatte Mira sich beeilt, aufzusagen, damit er nur nicht wieder zu husten und zu schimpfen anfing.

      Ihr oberstes Ziel, der Grund, warum sie sich ausbilden ließ und fleißiger als all ihre Mitschüler lernte. Natürlich wollte sie ihren Beitrag leisten. Aber heute hatte sie andere Dinge im Kopf. Dinge, die mit der Staatsgeschichte nicht zu vereinbaren waren und die für mathematische Formeln keinen Platz in ihren Gedanken ließen. Jesus von Nazareth. Seine Freunde. Die fehlenden Seiten. Das fehlende Ende. Sie konnte sich jetzt nicht hinsetzen und lernen.

      „Ich gehe zu Vera.“ Mira wandte Iliona und ihrer Mutter den Rücken zu und ging zur Treppe. Trotzdem konnte sie sich rege vorstellen, wie ihre Mutter die rot bemalten Lippen schürzte.

      „Es gibt da ein Staatsgeschichtsprojekt, an dem ich mit ihr arbeiten will“, fügte sie erklärend hinzu. Das war eine Lüge, aber doch war auch etwas Wahres daran. Es gab da etwas, an dem sie arbeitete. Etwas, wofür sie die Hilfe ihrer Freundin brauchte. Und Vera, die ganz gut in ihre liebenswerte, aber chaotische Familie passte, wäre froh darüber, dass es sich nicht um ein Schulprojekt handelte. Sie war nicht besonders gut in Staatsgeschichte und auch nicht in den anderen Fächern.

      Dafür genoss Vera die Freiheit, zu gehen, wohin sie wollte, und zu tun, was auch immer sie wollte, weil ohnehin keiner danach fragte. Schon deshalb hätte Mira manchmal gerne mit Vera getauscht. Weil in ihrer Familie nicht alles, was Spaß machte, verboten war und weil man sich um die Meinung der Nachbarn oder um etwaige Spitzel unter ihnen herzlich wenig scherte. Und weil Mira sich bei den Petersens auf eine seltsame Art zu Hause fühlte. Obwohl sie so wenig pflichtbewusst und organisiert waren. Oder gerade deshalb.

      Natürlich sagte man derlei Dinge nicht laut. Die Petersens wären gute Kandidaten dafür gewesen, eines Nachts spurlos zu verschwinden, wenn nicht zwei der Familienmitglieder für den Staat arbeiten würden.

      „Dann sieh zu, dass du aus dem Haus kommst“, mahnte Miras Mutter, vom Wort „Staatsgeschichte“ schon versöhnlicher gestimmt. „Es ist nett von dir, dass du mit Vera Petersen zusammenarbeitest. Von ihren Eltern bekommt das Mädchen nun einmal nicht die Unterstützung, die sie für ein erfolgreiches Durchlaufen ihrer Ausbildung bräuchte.“

      Mira schluckte jede Erwiderung zur Verteidigung von Veras Familie hinunter. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion. Was zählte, war, dass ihre Mutter den Plänen, die sich in ihrem Kopf formten, nicht im Weg stand.

      Stattdessen nutzte sie die kurze Stille, um hinzuzufügen: „Es könnte sein, dass es später wird. Was meinst du, kann ich nicht einfach über Nacht bei Vera bleiben? Immerhin ist Wochenende.“

      Ihr Vater hätte womöglich länger gezögert, doch ihre Mutter stimmte sofort zu. „Mach das. Nur vergesst über eurem Projekt nicht das Schlafen.“ Wahrscheinlich ahnte sie, dass im Haus der Petersens niemand ein Auge darauf haben würde, ob sie zu angemessener Zeit zu Bett gingen oder nicht. Seufzend fuhr Miras Mutter fort: „Es ist traurig, was diese Frau aus Simon Petersen gemacht hat. Früher ist er ein ehrgeiziger Staatsbeamter gewesen. Genau wie sein Sohn Filip.“

      Mira verdrehte die Augen. An Veras Bruder Filip hatten ihre Eltern einen Narren gefressen. Nicht weil er nett war, manchmal sogar ein bisschen zu nett, sondern weil er dem Staat treu ergeben war.

      „Für ihn hoffe ich das Beste“, fuhr ihre Mutter fort, während sie Mira die Treppe hinunter und zur Haustür folgte. „Er ist ein anständiger junger Mann, der sich seine Eltern nicht ausgesucht hat.“

      Das konnte ja bekanntlich niemand. Auch Mira hatte es sich nicht ausgesucht, einen Staatsbeamten zum Vater zu haben. Bisher hatte es ihr auch nie etwas ausgemacht. Es brachte gewisse Privilegien und Ansehen mit sich. Aber während ihr Plan langsam Gestalt annahm und ins Rollen geriet, wünschte sie sich, sie hätte eine weniger pflichtbewusste und gesetzestreue Familie. Eine für ihr Vorhaben weniger gefährliche.

       Kapitel 2

      Familie Petersen

      Miras Familie hielt nicht viel von den Petersens. So wie jeder, der etwas auf sich selbst hielt, nicht viel von dieser sonderbaren Familie halten konnte. Herr Petersen war wohl einmal ein hohes Tier im Staatsdienst gewesen – in seinen Blütetagen, als seine beiden Kinder, Filip und Vera, noch ganz klein gewesen waren.

      Heute war Herr Petersen in erster Linie eines: hektisch. Den größten Teil seiner Zeit verbrachte er außer Haus, und wenn er einmal da