Название | Das Leben ist ein tiefer Fluss |
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Автор произведения | Rose Zaddach |
Жанр | Современная зарубежная литература |
Серия | |
Издательство | Современная зарубежная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960087519 |
Dazu gehörte unter anderem das Lied „MIGNON“, das Charlotte damals in einen Zustand von Ergriffenheit versetzt hatte und nun Paula mit ihrer schönen Altstimme singen sollte.
Die Musiker, eingeschlossen Paula, gaben bei dem Konzert ihr Bestes und erhielten entsprechend begeistert Beifall, bevor sie sich mit Blumensträußen in die Garderobe zurückzogen. Dort wartete Charlotte. Vor allem wartete sie auf Paula.
Schwerfällig und steif ließ sie sich in dem Sessel nieder, den man ihr anbot. Einen Augenblick saß sie schweigend dort, bis ihr ein leises, gebrochenes Dankeschön über die Lippen kam.
Sie bedankte sich für das wiederentdeckte Glück, das Geschenk des Abends. Das Konzert habe es ihr ermöglicht, wieder in eine schönere Welt zurückzukehren Eine innere Veränderung sei eingetreten. Sie wisse noch nichts Genaues damit anzufangen. Aber vielleicht bewirke der Abend ein Wunder. Vielleicht wolle sie es noch mal mit dem Leben versuchen.
Sie habe heute erst gemerkt, welche Kräfte in ihr schlummerten und dass sie sich von der maßlosen Enttäuschung, die ihr widerfahren sei, jetzt würde verabschieden können. Die Worte kamen noch mühsam über ihre Lippen, ungewohnt.
Paula umarmte sie herzlich und lud sie zu einem Besuch ein. Sie kam wirklich. Von da an erzählte sie. Sie vertraute sich wieder an. Von da an begann auch ihre Freundschaft.
***
Es hatte in ihrer Ehe wohl schleichend begonnen.
Sie spürte es, wie man eine Wetteränderung wahrnimmt: bevor der Föhn einsetzt und die Kopfschmerzen beginnen. Oder wenn ein Orkan sich ankündigt und Gliederreißen auslöst, oder der Herzrhythmus aus dem Takt gerät. Sie spürte eine Veränderung bei sich und ihrem Mann, schon bevor seine Offenbarung ihrer langjährigen und bewährten Beziehung ein Ende setzte. Ein abruptes Ende, kann man wohl sagen.
Das Geständnis fand in einer kalten Winternacht statt, nachdem sie wie üblich gemeinsam ihren Rotwein getrunken hatten. Sie wusste nur, dass sie langsam aufgestanden und bis in die Mitte des Zimmers gegangen war. Dort blieb sie stehen.
Versteinert. Gebannt an diese eine Stelle: diese braune Steinfliese, quadratisch, vierzig mal vierzig Zentimeter groß. Dort muss sie längere Zeit gestanden haben.
Inmitten des großen Raumes, umgeben von kostbaren Teppichen und der noch kostbareren Gemäldesammlung war sie minutenlang zur Salzsäule erstarrt wie Lots Frau im Alten Testament, die verbotenerweise in die Ereignisse des Schreckens zurückblickte.
Zunächst verstand sie nicht.
In ihren Ohren war ein Dröhnen und Rauschen.
Die Erde schwankte, als stürzten jeden Moment die Tempel und Kathedralen sowie die Mauern ihres Hauses ein. Eine Katastrophe war hereingebrochen, so viel hatte sie begriffen.
Sie war am Rande des Untergangs. Es würde ums Überleben gehen. Sie schleppte sich einige Schritte weiter und klammerte sich an die Lehne des dort stehenden schweren Eichenstuhls.
Sie starrte aus der großen Glasfront ihres Hauses.
Gemeinsam gebaut. Keine Bedeutung mehr. Unterhalb die Ortschaft in der Dunkelheit. Kein Stern war zu sehen. Es kam die schwarze Nacht. Sie löste sich mühsam, fast mechanisch. Dann ging sie wie von unsichtbarer Regie geführt blicklos an ihm vorbei. Ihre Schritte klangen laut und hart auf den Stufen nach unten. Er kam hinter ihr her, wollte sie besänftigen.
In dieser Nacht hatte sie ihm Koffer und Aktentasche vor die Tür gestellt. „Reise ab. Sofort. Heute Abend noch“, hatte sie fast tonlos gesagt.
Wie leblos schritt sie ins Haus zurück und schloss mehrfach hinter sich ab, während er nur leicht bekleidet mit ungläubigem Staunen draußen bei den Koffern stand und später in der Dunkelheit mit einem vorfahrenden Taxi verschwand. So muss es jedenfalls abgelaufen sein. Sie sah ihn nicht wieder.
Sie hatte sich in ihr Studio zurückgezogen und darauf, dass die Zeit verging. Doch die Zeit verging nicht. Katastrophen kennen keine Zeit. Sie rechnen anders.
Äußerlich war sie verstummt. Innerlich tobte die Verzweiflung in ihr, die Scham über die Selbsttäuschung, der Schmerz über die Demütigung, die Hoffnungslosigkeit. Es war ihr, als verliere sie ihr Leben und als warte in der Ecke nur der Tod. Es war, als würde ihr Mann, ihr Beschützer, ihr Gefährte, der langjährige Vertraute all ihre Lebendigkeit mit sich nehmen und als könne sie nicht leben ohne ihn und mit ihm auch nicht mehr. „Das ist das Ende“, sprach sie.
Das Haus war leer und still geworden. Wenn sie früher alleine gewesen war, spürte sie die Leere nicht, denn sie war immer innerlich zu zweit. Ihr Mann würde bald kommen, oder am Abend kommen, oder in zwei Tagen, oder in einer Woche.
Das Haus sprach mit ihr, die Bilder sprachen mit ihr. Die Stadt sprach mit ihr und sie mit der Stadt.
Sie war ausgefüllt gewesen.
Die Ergänzungen in einem Eheleben,
die Ansprüche aneinander,
Hoffnungen, Wünsche,
die Selbsttäuschung,
die Bedürftigkeit.
War sie nur ausgefüllt gewesen durch ihn?
Wer war sie?
Sie spürte in sich nur das Nichts und die gähnende Leere. Sie flüchtete nach draußen. Sie ging durch die Stadt und kam sich fremd vor. Hier lebte sie doch schon lange. Hier hatte sie sich einen Bekanntheitsgrad geschaffen. Hier war sie im kulturellen Leben anerkannt. Es hatte ihr immer genügt.
Sie war eitel gewesen.
Sie wusste, wie stolz er auf ihre Schönheit war.
Sie spürte den eleganten Hut auf ihrem Haupt und die Krempe, die ihre Wange streifte. Sie war etwas Besonderes hier durch ihren Hut. Mal in Blau, mal in Gelb, mal mit Feder, mit Schleier, ohne Schleier.
Doch irgendwie war alles schal geworden.
„Oberflächlich“, entschied sie für sich.
Das waren ihre Beziehungen.
Sie hatte mehr gewollt. Sie hatte einmal das Schicksal bezwingen wollen. Sie hatte alles von ihm verlangt und war doch nur eine bürgerliche Existenz eingegangen. Kleinbürgerlich fast.
Sie hatte versagt. Sie hatte sich verraten. Sie hatte um ein Glück gebuhlt, das sie abhängig machte. Sie hatte ihr Leben an ein anderes gefesselt.
Doch sie war es immer noch, sie, Charlotte B., ihr Blut floss in ihr weiter und es floss nicht von selbst.
Wo war das Herz, dass das Blut immer noch durch ihren Körper pumpte, das ihre erstarrten Hände wärmte? Sie musste angekoppelt sein an einen anderen Kreislauf, denn sie fühlte nur einen Stein, wo sonst das Herz schlug. Starthilfe, tägliche, brauchte sie sozusagen. Eine Nabelschnur, die sie ernährte. Sie hatte sich zu sehr gewöhnt an die tägliche Gemeinsamkeit, an das Schlafen miteinander, an die Nächte Haut an Haut, an die Tage mit den ineinander verwobenen Seelen.
Sie brauchte die Hand, die ihr fürsorglich unter den Arm griff, die Geborgenheit, den Beschützer. Hatte sie den Geliebten mit dem Beschützer und dem Vater verwechselt? Sie nahm Goethes „Wilhelm Meister“ hervor und las das Lied der Mignon, noch einmal und noch einmal, und die Schönheit seiner Sprache wurde ihr bewusst und tröstete sie. Sterben an gebrochenem Herzen?
Sie wollte leben, aber wozu?
Sie lief in den Wald hinter dem Haus und irrte dort ziellos herum. Manchmal auch nachts. Stundenlang lief sie die alten Wege.
Manchmal erkannte sie nicht mehr, wo sie sich befand. Doch irgendwie kehrte sie immer zum Ausgangspunkt zurück: am Holzhaus mit den roten Fensterläden vorbei, das seit Neuestem einem ihr unbekannten Maler gehörte, der im Rollstuhl saß, an der weißen, hinter Bäumen versteckten Villa, die einer Fabrikantenfamilie aus der Hauptstadt gehörte und nur selten bewohnt war, bis hin zu ihrem Zuhause am Rande des Waldes, mit der Glasfront zum Tal, dessen Eingang auf vier gelben Säulen stand, ein