Die fremde Gestalt. Michael Lehofer

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Название Die fremde Gestalt
Автор произведения Michael Lehofer
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783990404782



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von Patienten eine mir geltende Bewunderung merke, flechte ich nicht selten wie zufällig eine Geschichte aus meinem Leben ein, in der ich versagt habe. Damit ist meist die Augenhöhe wiederhergestellt und die therapeutische Begegnung erneut möglich. Und was die Künstler anbelangt, bin ich zu folgendem Verständnis gekommen: Es gibt einfach Menschen, die mehr aus sich herausholen, als in ihnen drinnen ist. Sie haben die Fähigkeit, für etwas durchlässig zu werden, was größer und weiter ist als sie selbst. Das repräsentiert ihr Künstlersein. Und das Gleiche gilt wohl auch für andere Berufsgruppen und menschliche Situationen. Gleichermaßen erklärt Jesus, dass nicht er selbst hier spricht, sondern dass er durchlässig für das ist, was ihm sein Vater aufgetragen hat.

      HG: Jesus trägt eine geheimnisvolle Polarität in sich. Auf der einen Seite zeigt er eine Menschlichkeit, die es in dieser Intensität kein zweites Mal gibt – höchste Aufmerksamkeit und Empathie, Nähe und Berührbarkeit, Verwundbarkeit und Feindesliebe. Auf der anderen Seite absolute Souveränität, Größe und Weite, Widerstandskraft für eine neue Gerechtigkeit und einen Anspruch auf göttliche Autorität. Erst später hat man diese Polarität auf die theologische Formel gebracht: Ganz Mensch und ganz Gott. Natürlich ist auch das nur ein verlegener Hilfsausdruck für das höchst Lebendige, das in der Person des Jesus von Nazareth zum Vorschein kam. Jesus verkörpert einen Anspruch, der zum Anruf wird. Man kann mit dem eigenen Leben darauf antworten oder sich verweigern – wie es in diesem aufgeregten Streitfall geschildert wird.

      ML: Der Mensch Jesus ist für jene, die ihn als Gott sehen, ein Problem. Für andere wiederum, die ihn als besonderen Menschen der Menschheitsgeschichte sehen, ist das Göttliche in ihm eine Provokation. Wir tun uns leider in unserer abendländischen Tradition so schwer, etwas dialektisch zu betrachten. Wir wollen alles auf den Punkt bringen. Die Aussage „ganz Mensch und ganz Gott“, die für Jesus gilt, impliziert auch, dass er ganz Mensch ist. Das besonders Zauberhafte an der Person Jesu ist für mich, dass er uns so unfassbar nahegekommen ist. Jesus „menschelt“ im Vollsinn des Wortes: Das ist in Wahrheit die unterschätzte Frohe Botschaft! In vielen Bibelstellen klingt die menschliche Begrenztheit Jesu durch: in der Notwendigkeit, dass er selbst Neues lernen musste; in seiner Bereitschaft, sich aus dem Konzept bringen zu lassen; in den Momenten, in denen er Zorn, Wut und extreme Freude gezeigt hat; und nicht zuletzt in seinen Tränen. Die menschliche Begrenztheit ist im affektiv bewegten Jesus deutlich zu sehen. Diese Begrenztheit ist nicht enttäuschend, sondern ganz im Gegenteil ermutigend. Für einige bestimmt auch unbequem.

      HG: Was auch in die vier Evangelien aufgenommen und nicht retuschiert wurde. Sehr wohl im Gegensatz zu den apokryphen Evangelien, die ein durch und durch glattes, fast kitschiges Bild von Jesus zeichnen. So soll zum Beispiel gemäß dem Thomasevangelium Jesus als Fünfjähriger am Sabbat zwölf Spatzen aus Lehm geformt und sie zum Leben erweckt haben. Übrigens findet sich diese Passage auch im Koran in der fünften Sure. Offensichtlich war dem Verfasser das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas bekannt. All diese frommen Übertreibungen, die das Einfache, aber auch Schroffe und Unbequeme in der Gestalt Jesu nicht wahrhaben wollen, waren ausschlaggebend, diese Schriften nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufzunehmen. Man konnte in ihnen nicht das inspirierte Wort Gottes erkennen.

      ML: Gerade das Menschliche ist also, wenn ich das richtig verstehe, ein Zeichen der Offenbarung. Das macht eben das Besondere der christlichen Religion aus. Dieses unfassbare, unretuschierte, uneingeschränkte Nähe-Angebot Gottes an uns. Das wird in diesem Text deutlich. Die zutiefst menschliche Figur Jesus hat deswegen keinen überheblichen Absolutheitsanspruch. Er kann den Absolutheitsanspruch ohne Überheblichkeit anmelden, weil er nicht versucht, sich zu einem Übermenschen zu stilisieren. Er ist Gott, aber kein Übermensch.

      HG: Auch nicht Halbgott, sondern wie in der schon erwähnten christologischen Formel ausgedrückt, beides zu hundert Prozent – ganz Mensch, ganz Gott. Eine paradox anmutende doppelte Ganzheit. Das ist das Urdogma der christlichen Religion, ihr eigenartiger Absolutheitsanspruch, wenn man so will. Für mich war das immer schon faszinierend, weil in der Person Jesu eine innere Brechung der unterschiedlichsten Erwartungen, Vorstellungen und Projektionen zum Vorschein kommt. Durch das Zeugnis eines sehr leidenschaftlichen und weltoffenen Priesters konnte ich schon als junger Mensch die Person Jesu in einer 3D-Plastizität kennenlernen. Gerade das Nicht-Glatte und Nicht-Konforme hat mich an der Person Jesu fasziniert. Jesus entzieht sich jedenfalls den vielen menschlichen Zuschreibungen. Er ist nicht der Superheld und nicht der Messias im politischen Sinn, der scheinbar alles regeln und lösen kann. Im Ölberg von Getsemani weint er aus purer Angst. „Für wen gibst du dich aus?“ Ganz genervt fragen die Kritiker ihren Landsmann, den Rabbi aus Galiläa, nach seiner Identität. Bequemer wäre es für sie und für uns gewesen, wenn sich Jesus als ein religiös begabter Lehrer neben vielen anderen ausgegeben hätte. Aber sein Anspruch weist auf das Ganze. Seine Selbstaussage provoziert eine Entscheidung – für ihn oder gegen ihn. Er ist einzigartig und formuliert selbstbewusst diese Einzigartigkeit. Das ist das Spannende.

      ML: Es ist eine Absolutheit, die sich als totale Radikalität begreift, aber nicht als Absolutheit, die sich wünscht, andere Wirklichkeiten zu bekriegen.

      HG: Für diesen Satz sollte man dir den theologischen Nobelpreis verleihen. Offen bleibt, ob und inwiefern Religion immer einen Absolutheitsanspruch in sich tragen muss – auch wenn es nicht um einen kindischen Wettbewerb gehen darf, wessen Religion besser, richtiger oder erfolgreicher ist. Gemäß einem aufgeklärten Religionsverständnis wäre es natürlich angenehmer, wenn sich religiöse Überzeugungen selbst relativieren und harmonisch in ein breites spirituelles Marktangebot einfügen würden. Lessings „Nathan der Weise“ wird dafür meist als das grundlegende Toleranzdokument der Aufklärung genannt. Auch diesbezüglich ist Jesus widerständiger und unbequemer, als wir meist annehmen. Er ist unverschämt selbstbewusst und demütig zugleich.

       5

      Maßlose Überforderung

       Lk 6,27-36

      Euch aber, die ihr zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd! Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt, verlang es nicht zurück! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Und wenn ihr denen Geld leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern, um das Gleiche zurückzubekommen. Doch ihr sollt eure Feinde lieben und Gutes tun und leihen, wo ihr nichts zurück erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!

      HG: Ich weiß nicht, wie viele Tonnen von Büchern und Abhandlungen schon über die Bergpredigt geschrieben worden sind, aber es bleibt eine ganz ursprüngliche Faszination. Die Initialpredigt Jesu am Ufer des Sees von Galiläa trägt einen heilsamen Unruhekeim in sich, der sich jeder Erledigung widersetzt. Zu gegenläufig, zu radikal, zu gottvoll ist diese Rede. Man könnte durchaus sagen, dass Jesus sein eigenes Lebensprogramm in dieser Rede verdichtet hat. Das Anstößige an der Rede deckt sich mit der Anstößigkeit, die Jesus selbst verkörpert. Er passt nicht in die Schemata unserer Welt. Und dies zuerst wohl deswegen, weil er eine einzigartige Beziehung zu Gott, seinem Vater, hat. Aus dieser Beziehung nimmt er Kriterien für seine Rede.

      Die Bergpredigt ist weder ein ethisch-politisches Programm, das auf Teufel komm raus von den Eiferern umgesetzt werden soll, noch eine harmlose und naive Sicht der Welt, über die man lächeln kann. In der Bergpredigt wird jene Welt beschrieben, die sich radikal vom Glauben an Gott getragen weiß. Weil Jesus in einer symbiotischen Einheit mit Gott lebt, überschreitet und überbietet seine maßlose Barmherzigkeit die besten Konzepte für ein gedeihliches Miteinander-Auskommen.