Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

Читать онлайн.
Название Der blinde Spiegel
Автор произведения Günter Neuwirth
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783990402504



Скачать книгу

ihm entgegen. Wie üblich gab es irgendeinen Eintopf mit türkischem Gemüse. Meyendorff schätzte die türkische Küche sehr, aber wenn böhmische Köche mit türkischem Gemüse und Fleisch kochten, kamen meist keine besonderen Delikatessen dabei heraus. Aber satt wurde man davon. Immerhin. Nicht alle Soldaten des Kaisers wurden immer satt, in Mesopotamien etwa war die Versorgung jämmerlich.

      Meyendorff bevorzugte es, seine Mahlzeiten in der Kantine zu sich zu nehmen, er mied das Offizierskasino, so gut es ging. In der Kantine war er anonym. Im Kasino tummelten sich die Etappenhengste, schlürften Schnaps und hatten stets den aktuellsten Soldatentratsch auf Lager. Hast du gewusst, dass Oberstleutnant Soundso ein Affärchen hatte? Der Feinspitz, jetzt ist er über der Ägäis abgeschossen worden. Hast du gewusst, dass Major Dieserundjener neulich zehntausend Kronen beim Hasard verspielt hat? Und so weiter. Meyendorff konnte wahrlich nicht behaupten, die Gesellschaft der Kasinoplatzhirsche wäre ihm angenehm. Da mischte sich der Herr Graf lieber unters Volk. Die einfachen Leute ließen ihn wenigstens in Ruhe. Dass er überall gemustert wurde, störte ihn nicht, daran war er gewöhnt. Die Offiziere munkelten natürlich über den jungen Graf von Meyendorff und seine Vorliebe für das niedere Volk in der Kantine, aber das war ihm auch ziemlich egal. Natürlich fand er so keine Freunde, natürlich blieb er so isoliert, aber gerade das wollte er ja. Er brauchte niemanden in seiner Nähe, zumindest keine Etappenoffiziere mit ihren Allüren.

      Meyendorff zückte die Essensmarken, reichte sie der Küchenkraft, die im Gegenzug einen Teller mit einem dicken Eintopf auf ein Tablett stellte und es ihm zuschob. Er fasste in den Besteckkorb, nahm einen Löffel und trat an die Brotausgabe.

      „Könnte ich bitte zwei Scheiben haben?“, fragte er den einarmigen Mann.

      Strenge, graue Augen musterten Meyendorff. Der Mann hatte slawische Gesichtszüge und dunkles, grau durchzogenes Haar. Wahrscheinlich ein Kroate oder Bosniake. Falten schnitten tief in das Gesicht des Mannes, Falten, die zeigten, dass dieser Mann lange dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Wortlos legte er zwei Scheiben Brot auf Meyendorffs Tablett. Danach stellte er einen Blechbecher mit kaltem Apfeltee dazu. Eintopf mit Brot, dazu Apfeltee, also irgendwie ein türkisches Mahl, dennoch aber ein österreichisches. Meyendorff nahm das Tablett und schlurfte davon. Er wusste, dass der Mann an der Brotausgabe ihm nachblickte, also vertuschte er unbewusst sein Hinken nicht. Der Krieg schlägt allen Wunden, egal ob kroatischer Kleinhäusler oder österreichischer Graf, der Stand war egal, solange man für das Vaterland Dienst leistete. Das signalisierte Meyendorff dem Mann, ohne darüber nachzudenken.

      Er sah sich im Saal um. Vereinzelt saßen noch Leute herum. Sein Blick wanderte umher, da kreuzte ein Blick den seinen. Er erschrak. Ihm wurde heiß.

      Da saß sie! Jawohl, da saß sie und schaute zu ihm herüber. Sie und zwei andere junge Frauen flüsterten miteinander. Meyendorffs Hände wurden feucht. Sollte er sich einfach zu ihnen an den Tisch setzen? Ein schneidiger Offizier würde das tun. Keine Frage, ein schneidiger Kerl ginge hin, setzte sich zu den jungen Frauen und unterhielt sie mit flotten Anekdoten aus dem Soldatenleben. Meyendorff zweifelte, ob er überhaupt nur einen einzigen Satz würde hervorbringen können.

      Nun blinzelten die anderen beiden Frauen zu ihm herüber und musterten ihn neugierig. Wenn er noch länger ratlos herumstünde, machte er sich lächerlich, also schritt er los. Je näher er dem Tisch kam, desto heftiger pochte sein Puls. Er wusste wirklich nicht, wie er es schaffen sollte, das Wort zu erheben, aber irgendwie klappte es doch.

      „Entschuldigen Sie bitte. Ist an diesem Tisch noch ein Platz frei?“

      Er zitterte innerlich, als ihm das Fräulein ein strahlendes Lächeln schenkte. Wie glücklich musste ein Mann sein, den morgens dieses Lächeln begrüßte. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.

      „An den anderen Tischen sind noch mehr Plätze frei“, plapperte eine Stimme ebenso kokett wie herausfordernd.

      Meyendorff löste mit Mühe seinen Blick von dem Fräulein. Er wandte sich der Sprecherin zu.

      „Ich wollte natürlich nicht aufdringlich sein. Wenn Sie lieber alleine zu speisen gedenken, suche ich anderswo einen Platz.“

      Die Sprecherin war gewiss nicht älter als zweiundzwanzig. Sie war von großer Statur, nicht gerade hübsch, aber auch nicht hässlich. Ein Mädchen mit losem Mundwerk, wohl nicht dumm oder ungeschickt, aber für Meyendorff völlig uninteressant. Außer natürlich sie stellte sich zwischen das Fräulein und ihn.

      „Sie können sich gerne setzen, Herr Oberleutnant“, sagte sie. „Wir sind schon fertig und müssen wieder los.“

      Meyendorff blickte erst jetzt auf die Tabletts auf dem Tisch. Tatsächlich, sie hatten ihr Mahl schon beendet. Die drei jungen Frauen erhoben sich.

      Kurz entschlossen stellte er sein Tablett ab, ging um den Tisch herum auf das schöne Fräulein zu und nahm Haltung an.

      „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Von Meyendorff. Hermann von Meyendorff.“

      Sie reichte ihm verlegen lächelnd die Hand, er ergriff und küsste sie.

      „Clarissa Roth“, flüsterte sie.

      Dann trugen die drei jungen Frauen ihre Tabletts fort. Im Gehen tuschelten sie miteinander.

      Clarissa Roth. Jetzt kannte er ihren Namen. Clarissa Roth. Immer wieder sagte er ihn still vor sich hin. Clarissa Roth. Und wie strahlend schön sie lächelte!

      Meyendorff sah nicht, dass alle Anwesenden in der Kantine die Szene genau verfolgt hatten. Er setzte sich und aß, ohne zu bemerken, dass er aß. Langsam und versonnen löffelte er den Eintopf. Fortwährend klang der leise Hauch ihrer Stimme in seinem Ohr. Clarissa Roth.

      „Das kann ich dir schon sagen, Hermann, wenn man alles zusammenrechnet, ist der Krieg nichts anders als eine Täuschung. Eine Illusion. Man bildet sich den ganzen Zirkus bloß ein. Die Waffen, die Flugzeuge, die Ehre, die Tapferkeitsmedaillen, das ist alles Einbildung. Das einzig Wirkliche am Krieg sind diese Dinger hier. Das ist alles.“

      Meyendorffs Gast zeigte auf die Beinprothese, die auf dem Teppich lag.

      Die Luft im Zimmer war zum Schneiden, dicke Rauchschwaden nebelten alles ein. Die beiden Männer rauchten dennoch im Eilzugtempo weiter. Hauptmann Werner Freiherr von Wildenstein-Glawogger hatte zwei Flaschen Raki und türkische Zigaretten mitgebracht. Meyendorff füllte erneut die Gläser.

      „Diese Bude hier, dieses stinkende Kaff, die Hitze, das brackige Wasser am Bosporus, das ist alles nur Mumpitz. Dein lächerlicher Orden da auf dem Tisch ist wertloser Kram. Du warst in der Zeitung, Herr Oberleutnant? Na bravo! Du bist in der ganzen Monarchie berühmt? Sehr gut, Herr Graf! Sehr gut! Heute bist du berühmt, weil du Glück gehabt hast, wo andere Pech hatten, aber morgen bist du tot. Du kriegst eine ehrenvolle Nennung in der Zeitung und hopp, vergessen bist du. Das ist sogar die bessere Variante für dich. Die schlechtere ist, wenn du ein Krüppel bist. Helden mit zwei Armen, zwei Beinen und einem feschen Gesicht gehört die Welt. Helden im Rollstuhl mag man gar nicht. Die will man vergessen. Und die sogenannte Öffentlichkeit vergisst Helden, denen irgendwo ein Körperteil abhandengekommen ist, verflucht schnell. Das Dumme daran ist, dass die Helden noch leben, als Krüppel zwar, aber sie leben. Und sie können nicht vergessen.“

      Mit stoischer Ruhe ertrug Meyendorff die bitteren Worte seines einzigen Freundes in Konstantinopel. Er wusste noch sehr gut, wie der damalige Rittmeister von Wildenstein mit einer Etrich E-100 von Luftsieg zu Luftsieg geflogen war. Wildenstein war der erste österreichische Jagdpilot, der mit einem Düsenflugzeug über einhundert Abschüsse erzielt hatte. Insgesamt gehörte er mit 147 Abschüssen zu den größten Fliegerassen der k. u. k. Luftflotte. Als er selbst zum vierten Mal abgeschossen worden war, war es nicht so glimpflich wie die drei Male zuvor ausgegangen. Dem Heldentod knapp entkommen, war sein linkes Bein nicht mehr zu retten gewesen. Meyendorff hatte es immer wieder erlebt, manche Männer konnten nach einer Amputation ungeahnte Kräfte und Energien freisetzen, sie gierten nach dem flüchtigen Leben, die meisten allerdings wurden bitter. Wildenstein gehörte zur zweiten Gruppe, er war voller Wut auf sich und die Welt.

      Wildenstein griff nach dem Glas und kippte