Der blinde Spiegel. Günter Neuwirth

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Название Der blinde Spiegel
Автор произведения Günter Neuwirth
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783990402504



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es gilt den anderen, also muss es uns gleichgültig sein, egal, einerlei. Wir haben zu warten. Quälend langsam verrinnt die Zeit, jede Minute wird zur Stunde. Zähe Zeit. Wie lange können einem vier Stunden vorkommen? Wie vier Ewigkeiten.

      Ich erstarre. Meine Lider zucken unaufhörlich. Die Artillerie schweigt. Das Rumoren und Tosen verhallt. Einen Augenblick lang glaube ich mitten in der Wüste Gobi zu sein, so still kommt es mir vor. Totenstille. Aber nur kurz. Die Trillerpfeifen durchschneiden die Stille. Oberleutnant Zillner hält in der linken Hand seine Pistole, in der rechten die Trillerpfeife. Seine Wangen sind der Blasebalg und der schrille Ton kreischt in unseren Ohren.

      Die Leiter ran an die Grabenwand und hinauf, hinauf, hinauf, über die Brustwehr hinauf. 3. Bataillon Marsch vorwärts. Ich will nicht den schützenden Graben verlassen, ich will nicht, ich will einfach nicht hinauf, raus aus der Deckung, ran an den Feind. Krachende Gewehre, immer mehr krachende Gewehre. Und da, das Tacken eines MGs. Ich steige die Leiter hoch und renne gebückt los. Geradeaus, dann ein Stück links, ein Stück rechts, wieder geradeaus. Ich habe keine Angst mehr, ich habe einfach keine Zeit, um Angst zu haben, ich bin ein Infanterist von Hunderttausenden und gehe im feindlichen Feuer vor. Russische Artillerie mischt sich mit Schrapnell ins Geschehen. Vor uns die erste feindliche Linie. Vierzig Meter vielleicht noch, aber kein Gewehrfeuer. Wo sind die Russen? Mir pfeift plötzlich etwas um die Ohren. Und wieder. Ich denke, jetzt musst du zu Boden, aber mein Körper reagiert schneller als mein Geist, denn ich liege schon längst. Flankenfeuer. Also sind die Russen dort. Bis mein Gewehr angelegt ist, vergeht eine Ewigkeit. Vor mir liegt eine hechtgraue Uniform, aus der literweise Blut hervorsprudelt. Ich schieße, nur sehe ich nicht, wohin meine Kugeln fliegen. Irgendwo auf den Gegner zu. Pepi springt hoch und rennt los. Ich denke, immer Pepi nach, aber wieder bin ich viel zu langsam mit dem Denken, denn ich renne schon. Knapp vor mir Bittermann, ein Weinbauernsohn aus Klosterneuburg. Er fängt die Kugel, die mir gegolten hat. Armschuss, wenn ich richtig gesehen habe. Drei Schritte noch, drei Schritte, dann gehe ich wieder zu Boden. Wieder lege ich an und schieße irgendwohin. Nur keinen Kameraden treffen, denke ich, und schnell nachladen. Jetzt kommt frontales MG-Feuer. Wir graben uns mit den Fingernägeln in den Boden. Frontales MG- und Gewehrfeuer, über uns Schrapnell. Sie stampfen uns in den Boden, sie mähen uns mit dem MG schlicht und einfach nieder. Ich höre ein helles, schwirrendes Pfeifen. Ich habe die Tonleiter des Artilleriekrieges noch nicht heraus und lerne jetzt. So klingen Minenwerfer. Ploppende Einschläge in der russischen Linie, immer wieder ploppende Einschläge in der ersten russischen Linie. Das MG verstummt, also springe ich hoch und hechte los. Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass ich der Erste bin, der losrennt, noch vor Pepi. Die Minen ziehen über unsere Köpfe und suchen tiefer im Feindesland nach Zielen. Ich hüpfe über Granattrichter voran und kriege kein Gewehrfeuer. Immer dichter werden die Trichter. Kugeln. Also doch Gewehrfeuer. Decken. Ich lande in einem Trichter eines großen Kalibers und sehe direkt neben mir Alfred, Otto und einen vierten Mann unseres Bataillons. Er blutet stark aus einer Wunde an der Schulter. Otto beugt sich zu ihm hinüber und drückt seine klobigen Finger in die Wunde. Es nützt nichts, das Blut strömt weiter.

      „Sanitäter! Sanitäter!“, brüllt Otto.

      Nutzlos, kein Sanitäter ist hier zu finden. Nur Gewehrfeuer. Wo Otto seine Waffe fallen lassen hat, frage ich mich. Aber ihm geht sein Gewehr gar nicht ab. Otto nimmt den Verwundeten wie ein Vater sein Neugeborenes, springt auf und rennt los. Hoch aufragend inmitten des Gefechtes, inmitten tödlich schwirrender Insekten läuft er los wie ein zappelnder Pappkamerad und bringt den Verwundeten nach hinten. Alfred und ich starren ihm bleich hinterher, über unseren Köpfen zischen die Kugeln. Otto rennt hakenschlagend nach hinten, quer durch das in Deckung liegende Regiment. Alle sehen ihn und denken, jetzt fällt er, jetzt fällt er, gleich ist er tot. Aber Otto rennt und rennt, keine Spur einer Kugel, die sich in seinen Rücken bohren will. Er verschwindet aus meinem Blickfeld.

      Ich spähe vor, noch zehn Meter. Alfred und ich springen hoch, rennen und stürzen in den russischen Schützengraben. Alfred richtet sein Gewehr links und feuert, ich richte meines rechts und feuere. Ins Leere. Meine Schuhe sinken in den offenen Brustkorb eines toten Russen. Ich strample und hüpfe weg, steige dabei bloß einem anderen Russen auf die Beine. Oder genauer, ich steige nur auf die Beine, wo der Russe liegt, weiß ich nicht. Ein Blutbecken im Schlachthof. Wie viele liegen da? Zwölf, fünfzehn, zwanzig? Alle zerschmettert, grotesk übereinandergeworfen. Menschenteilesalat, denke ich. Blöde Russen, seid ihr vollkommen übergeschnappt, so ein Schützengraben taugt nicht einmal für Gewehrduelle, und ihr bleibt da hocken, wenn die deutsche Artillerie trommelt. Ihr dummen Kerle, zieht euch an, wascht euch die Hände und das Gesicht und geht nach Hause. So etwas Blödes, der Graben ist nicht tief genug, der kann euch ja nicht schützen. Aber jetzt begreife ich erst, warum die Minenwerfer so wüten konnten. Steilfeuer. Sie zerhauen nicht mit großem Kaliber den gesamten Graben, um an die Soldaten zu kommen, sondern schmeißen die Granaten schlicht und einfach in die Schützengräben. Teuflische Waffen. Alfred übergibt sich. Er speit dabei auf ein am Boden liegendes Maschinengewehr. Vor mir steht aufrecht ein Stiefel, aus dem noch ein Bein ragt. Ich sehe den weißen Knochen und das schillernde Mark. Und es riecht nach einem Ozean frischen Blutes. Erst jetzt entdecke ich zwei völlig verstörte Russen, die mich in irrer Todesangst anstarren. Sie erheben die Hände, sie ergeben sich. Fast hätte ich in Panik auf sie geschossen. Mein Gewehr ist auf sie gerichtet. Sie sind völlig dreck- und blutverschmiert, aber sie leben. Pepi und einige andere springen in den Graben. Auch sie müssen den Anblick der zerhackten Körper erdulden. Die zwei Russen werden abgeführt. Kriegsgefangene. Die werden kein MG mehr bedienen.

      Oberleutnant Zillner dirigiert uns. Die Grasnarbe ist zerrissen, braune Trichter überall. Vom Drahtverhau ist nichts geblieben. Niedergetrommelt. Das Feld ist dicht bevölkert von Russen, aber keiner ist mehr imstande, eine Waffe zu tragen. Tote und Verwundete. Ein Offizier liegt vor mir, ich höre das Winseln der Todesagonie, ich erhasche einen Blick in sein wachsgelbes Gesicht. Der Hautanstrich des Todes ist wachsgelb. Seine blutigen Armstümpfe zucken noch, sein aufgerissener Bauch dampft in der Morgensonne. Pepi gibt ihm den Gnadenschuss. Schnell weiter. Vor uns liegt die zweite Linie. Schon wieder ein MG. Sofort zu Boden. Ich lande in einem flachen Granattrichter. Kleines Kaliber also. Wieder schwirren eiserne Stechmücken über uns hinweg. Wo finden sie ihr Ziel? Flach muss ich sein, flach wie Papier. Oder ein Maulwurf. Vor mir liegt etwas. Ich blicke auf. Am Rande des kleinen Trichters liegt ein Russe. Arme und Beine sind noch dran, auch der Kopf, aber sein Gesicht ist eine starre Fratze. Ich sehe keine Wunde, dennoch ist seine Uniform vom Hals bis zum Hosenboden blutgetränkt. Ich versuche, nicht in die gläsernen Augen zu schauen, es gelingt mir nicht. Slawische Züge hat der Mann, starke Backenknochen und eine dicke Zunge, die zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen halb hervorsteht. Plötzlich bewegt er sich, er kommt auf mich zu, er will mit mir tanzen. Ich schreie in Panik. Er ist doch tot, mausetot, er kann nicht tanzen wollen. Ich schüttle den Kopf, um diesen Albtraum loszuwerden. Tatsächlich liegt der Mann regungslos, meine Fantasie ist mit mir durchgegangen. Von mir aus müsste er nicht tot sein, von mir aus kann er nach Hause gehen. Ich drehe ihn um und sehe den offenen Rücken, ein scharfer Granatsplitter, groß wie eine offene Handfläche, steckt in seinem Inneren. Er hat nicht lange gelitten.

      Die russischen MGs mähen durch das Regiment, das 1. Bataillon hat es schwer erwischt. Ich bin völlig ratlos, ich weiß nicht, was ich machen soll, ich weine ohne Tränen. Und jetzt noch Sperrfeuer der russischen Artillerie. Die Einschläge wummern, ich höre genau die Granaten heranheulen und zucke zusammen. Ein Einschlag. Mir drückt es die Luft aus der Lunge. Der Knall hat mich fast taub gemacht. Erdbrocken stürzen auf mich, zumindest hoffe ich, dass es Erdbrocken sind und nicht Splitter. Ich schaue an mir herab, ob irgendwo Blut hervorschießt. Nein, alles heil, ich bin noch ganz. Wie lange noch? Ich denke nicht, ich folge meinem Instinkt, denn ich werfe mich in den frischen Granattrichter des Naheinschlages. Beim Sprung sehe ich die Mündungsblitze der beiden MGs. Sie halten weiter auf das 1. Bataillon, von dem bald nichts mehr übrig sein wird.

      „Herr Oberleutnant, Herr Oberleutnant! Hier entlang!“

      Pepi ruft. Der nächste Naheinschlag. Hoch und hinein in den frischen Granattrichter. Drei andere denken offenbar das Gleiche und landen mit mir im Trichter. Aber der Trichter ist zu klein, die Russen schießen nur mit kleinem Kaliber. Ich sehe Oberleutnant Zillner, einen Mann vom 4. Bataillon und Otto. Ich traue meinen Augen nicht. Otto! Der ist doch wie der