Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden

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Название Das Mädchen mit den Schlittschuhen
Автор произведения Michael W. Caden
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783957446077



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      Heinrich versuchte seinen Begleiter zu beruhigen.

      »Schau doch, wir sind gleich da. Schau, da vorne ist schon die Kirche.«

      »Zum heiligen Johannes von der lateinischen Pforte« hatte man das kleine, stolze Kirchlein einst getauft. Auf den ersten Blick schien es kaum verändert. Das Gotteshaus war am 4. Juli 1912 eingeweiht worden. Es war die dritte Kirche in der langen Geschichte der Gemeinde.

      Heinrich stoppte das Auto auf dem kleinen Parkplatz vor dem Gotteshaus. Sie stiegen aus und gingen durch das unverschlossene Tor. Neben dem Pfarrhaus hinter dem mächtigen Backsteinbau hatte sich ein Storchenpaar in einem Nest auf dem Mast einer Überlandleitung häuslich eingerichtet. Das Männchen klapperte mit dem langen Schnabel, was das Zeug hielt.

      Kurz vor dem Kirchenportal blieb Albert stehen. Er musste daran denken, wie er als Kind hier mit seinen Eltern jeden Sonntag zur Heiligen Messe pilgerte. Den ganzen Weg von Klotainen hinauf, immerhin fünf bis sechs Kilometer.

      »Hier sind wir sonntags immer zur Kirche gegangen. An Sonntagen wurden sogar zwei Messen gehalten, die eine um 7 Uhr, die andere um 10 Uhr.«

      Heinrich nickte, so als wolle er ihm beipflichten.

      »Wir gingen meistens zu Fuß. Bei ganz besonderen Anlässen fuhren wir auch schon mal mit dem Pferdewagen unserer Nachbarn. Bei meiner Kommunion etwa.«

      Albert grinste.

      »Männlein und Weiblein mussten immer getrennt voneinander sitzen. Einmal, da hatte ich meine Matrosenmütze noch aufbehalten. Da kam Mutter von hinten und fegte sie mir mit einer Handbewegung vom Kopf.«

      Albert wollte seinem Begleiter gerade erzählen, wie er als Messdiener mit einem Burschen aus der Nachbarschaft heimlich den Messwein des Pfarrers verkostet hatte, als er ein Geräusch wahrnahm. Er drehte sich um und erblickte einen Mann in einem schwarzen Talar, der höflich grüßte.

      »Dzien dobry.«

      Albert und Heinrich erwiderten den Gruß. Es handelte sich ganz offensichtlich um den Gemeindepfarrer. Es war ein Mann mittleren Alters. Er trug eine runde Brille, hatte dunkle Haare, die er mit einem Seitenscheitel nach links gekämmt hatte.

      Heinrich und der Geistliche redeten ein paar Sätze in Polnisch miteinander, dann wandte sich der Dolmetscher Albert zu.

      »Ich habe den Herrn Pfarrer über den Grund unseres Besuches aufgeklärt. Er findet das wohl recht interessant und lädt uns ins Pfarrhaus ein. Möchtest du?«

      Albert nickte zustimmend.

      Das Pfarrhaus, ebenfalls aus roten Backsteinen gebaut, lag direkt hinter der Kirche. Dort wartete die Haushälterin, eine kleine, korpulente Frau, schon an der Eingangstür. Der Pfarrer rief ihr etwas zu, was Albert nicht verstehen konnte. Er schien ihr offensichtlich zu verstehen gegeben zu haben, dass er einen Gast aus Deutschland mitbringt, denn sie begrüßte die unerwarteten Gäste nunmehr in gebrochenem Deutsch.

      »Sind Sie willkommen ganz herzlich. Bitte, kommen Sie herein.«

      Die Haushälterin reichte den Gästen die Hand und führte sie durch die Diele in einen Wirtschaftsraum.

      »Wir haben Kaffee und Kuchen für Sie. Nehmen Sie doch Platz, bitteschön», forderte sie die Gäste auf und reichte jedem als Willkommenstrunk ein kleines Gläschen Wodka, dem auch der Pfarrer nicht abgeneigt war.

      Der Pfarrer und seine Gäste nahmen Platz an einem Tisch, während die Wirtschafterin den Kaffee in die Tassen goss. Dann reichte sie einen Erdbeerkuchen dazu, den sie zuvor aus der Küche geholt hatte. Albert, Heinrich und der Pfarrer bedankten sich.

      Zwei Stunden blieben sie im Pfarrhaus. Albert erzählte dem Pfarrer von seiner Jugendzeit in Klotainen, von seinem Elternhaus, von der Schule und von der Arbeit auf dem Rittergut. Der polnische Geistliche hörte andächtig zu, während Heinrich Satz für Satz übersetzte.

      Nach einer Weile stand der Pfarrer auf und fischte ein altes Kirchenbuch aus einem Bücherregal neben der Zimmertür. Dann setzte er sich wieder und reichte es Albert über den Tisch. Albert begann darin zu blättern, zunächst langsam, dann immer schneller – bis zur Jahreszahl 1941. In dem Jahr ging er hier in Siegfriedswalde zur Kommunion. Und tatsächlich, da stand zwischen all den Namen plötzlich der seinige: Albert Steinky, Klotainen, geboren am 16. Juni 1932 in Klotainen/Kreis Heilsberg.

      Albert war gerührt. Er bedankte sich, zog eine kleine Pocketkamera aus der linken Hosentasche und fotografierte den Eintrag. Zum Abschied schenkte der Pfarrer ihm einige Zweige von einem Fliederstrauch, der vor der Kirche wuchs. Er reichte sie ihm und sagte etwas. Albert wandte sich Heinrich zu und schaute ihn mit großen Augen fragend an.

      »Der Pfarrer wünscht dir, dass der Fliederzweig in deiner jetzigen Heimat ausschlagen und zu einem neuen Baum heranwachsen möge. Er bedankt sich für unseren Besuch und sagt, dass wir jederzeit wiederkommen können. Und du solltest auch keine Angst davor haben, in euer altes Haus zurückzukehren. Der Pfarrer sagt, er kennt die Leute. Sie heißen Wójcik, und es seien gottesfürchtige und gastfreundliche Menschen.«

      Albert bedankte sich bei dem Geistlichen. Dann gingen Heinrich und er wieder zu dem kleinen Parkplatz vor der Kirche, wo Heinrich den Fiesta geparkt hatte. Offenbar hatte Heinrich mit dem Pfarrer über den Vorfall in Klotainen gesprochen. Alberts Entschluss stand nunmehr fest.

      »Komm«, meinte er zu Heinrich, »wir fahren noch einmal zum Haus.«

      Kaum angekommen, drückte Heinrich den stark verrosteten Klingelknopf neben der Eingangstür. »Stanislaw Wójcik und Danuta Laski« stand auf einem kleinen Türschild in Handschrift geschrieben. Sie warteten eine Weile. Doch nichts geschah. Heinrich betätigte den Knopf ein zweites Mal.

      »Dzien dobry.«

      Ein älterer Mann, etwa 80 Jahre alt, war um die Hausecke gekommen und grüßte die Ankömmlinge. Er trug eine gewöhnliche Arbeitshose und kam offenbar von der Gartenarbeit. In einer Hand hielt er einen Rechen.

      Heinrich und der Fremde redeten miteinander. Der alte Pole schaute Albert kurz an, lächelte und nickte. Dann öffnete er die Tür. Die beiden gingen hinein. Albert folgte ihnen, während er bemerkte, wie der ältere Herr ihn in der Diele beäugte.

      »Albert, das ist Herr Wójcik. Ich habe ihm erzählt, warum wir hier sind und dass du früher einmal in diesem Haus gewohnt hast. Er hat uns ins Haus gebeten und möchte wissen, wo du jetzt beheimatet bist. Und warum wir beim ersten Besuch nicht hinein gekommen sind?«

      Albert reichte ihm die Hand, tat zunächst aber einmal so, als habe er die Fragen nicht verstanden.

      Der Alte hatte sie also ganz offensichtlich bemerkt. Egal! Zum ersten Mal seit Jahren stand Albert wieder im Flur seines Elternhauses. Sein Blick fiel sofort auf die Holztreppe, während Heinrich sich angeregt mit dem alten Mann auf Polnisch unterhielt. Hier vom Flur aus gelangte man über diese Treppe direkt zum Speicher. Dort befand sich eine große Räucherstube. Hinter einem Balken hatten Albert und sein Bruder Karl ein kleines Messer versteckt – für den Schinken und die Grützwurst. Auch die kleinen Steinkys waren eben Selbstversorger.

      Heinrich winkte Albert zu.

      »Wir sollen doch bitte in die Wohnstube kommen, meint Herr Wójcik.«

      Höflich, dieser alte Pole, dachte Albert.

      »Er wohnt hier mit seiner Tochter Danuta und seiner Enkelin Patricya. Seine Frau ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben«, erzählte Heinrich, während sie gemeinsam durch die Küche den Wohnraum betraten.

      Was der in der kurzen Zeit alles rausbekommen hat, wunderte sich Albert. Er spürte die Anspannung. In der Wohnstube war alles noch wie früher, lediglich die Möbel waren andere. Albert traute seinen Augen kaum: Da stand ja noch der alte, gewaltige Kachelofen. Er war ein Allesfresser. Er fraß Holz, Briketts oder Torf. Lediglich die Sitzbank war verschwunden. Wie oft hatte Mutter am Abend dort mit ihm und seinen beiden Geschwistern gesessen und Geschichten aus ihrem Heimatdorf Raunau erzählt, von dem Hof, den ihr Vater dort hatte, von ihren Geschwistern oder von der Arbeit auf dem Rittergut. Manchmal lauschten sie aber auch nur der