Das Mädchen mit den Schlittschuhen. Michael W. Caden

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Название Das Mädchen mit den Schlittschuhen
Автор произведения Michael W. Caden
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783957446077



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zu lesen.

       Am See

      Als Albert am Morgen aufwachte, grüßte ihn von draußen Vogelgezwitscher. Er hatte am Abend vergessen, das Fenster zu schließen. Es stand auf Kipp. Es war ein herrlicher Tag, der Himmel strahlend blau. Albert brachte seine Morgentoilette hinter sich. Er verließ das Zimmer, schloss die Tür hinter sich und ging die Treppe hinunter ins Restaurant. Dort traf er auf Heinrich, seinen Begleiter, der sich bereits Kaffee eingegossen hatte. Es war erst kurz nach acht. Albert belegte zwei Brötchen mit Wurst und Käse, dazu nahm er ein gebackenes Ei und zwei leckere Pfannkuchen. Er schüttete sich Kaffee ein. Heinrich mochte es eher herzhaft, er blieb bei der polnischen Leberwurst.

      »Wo geht es heute hin, Albert?«, fragte Heinrich, während er genüsslich an der zweiten Tasse Kaffee schlürfte.

      Albert brauchte nicht lange zu überlegen. Er hatte sich seinen Tagesplan schon zurechtgelegt.

      »Ich dachte, wir fahren als erstes zum See, der liegt auf dem Weg. Dann machen wir einen Abstecher nach Klotainen und schließlich, wenn die Zeit noch reicht, sollten wir der Kirche in Siegfriedswalde noch einen Besuch abstatten.«

      Heinrich wischte sich zufrieden den Mund mit einer Serviette ab, faltete sie und legte sie auf den leeren Teller.

      »Bevor es losgeht, müssen wir den Wagen noch betanken«, meinte Heinrich. »Wir haben kaum noch Sprit. Ein paar Meter weiter Richtung Stadtmitte befindet sich eine Tankstelle.«

      Die Rucksäcke hatten sie nach dem Aufstehen bereits gepackt und noch vor dem Frühstück im Kofferraum verstaut. Sie gingen zum Auto. Heinrich entriegelte mit der Fernbedienung die Wagentüren.

      »So, jetzt kann das Abenteuer losgehen«, zwinkerte er Albert zu.

      Das Fahrzeug verließ das Hotelgelände, nach dem Tanken ging es – wie geplant – Richtung Simsersee.

      Die Fahrt dauerte nicht lange, höchstens zehn Minuten. Unterwegs fielen Albert die vielen kleinen Gehöfte in der Gegend auf. Wie idyllisch es hier ist, das hatte er ganz vergessen.

      Heinrich stoppte den Fiesta auf einem Parkplatz am See. Beide stiegen aus. Es war bereits kurz nach zehn. Noch lag der Morgentau über den Wiesen. Mit der Fernbedienung verriegelte Heinrich das Fahrzeug. »Für alle Fälle«, wie er meinte und grinste.

      Albert hielt es jetzt nicht mehr auf dem Schotter. Schon als Heinrich den holprigen Parkplatz ansteuerte, hatte er den kleinen Steg ausgemacht. In schnellen Schritten zog es ihn jetzt dorthin. Er schritt über die morschen Holzplanken. Hastig streifte er im Gehen zuerst die Schuhe ab, dann die Socken. Schließlich krempelte er mit ein paar Handbewegungen noch die Hosenbeine hoch. Am Ende des Steges setzte er sich auf die Planken und ließ die Füße langsam ins kalte Wasser gleiten.

      Ein paar Äste einer Erle ragten über den Steg. Wie ein silbernes Tablett schimmerte der See zwischen dem Gehölz hindurch. An den Ästen brachen sich die Strahlen der Morgensonne. Von weitem hörte Albert das Klappern eines Storches.

      Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet? Mehr als ein halbes Leben lang. Noch einmal die Füße im klaren und kühlen Wasser des Simsersees baumeln lassen. Wie er es genoss. Noch vor Jahren hätte er nicht im Traum daran gedacht. »Ach, hätte Vater Willi das alles doch vor seinem Tode noch einmal erleben dürfen …«, ging es ihm durch den Kopf. Der Gedanke schmerzte.

      »Weißt du, Heinrich, hier habe ich als Kind oft gebadet », erzählte Albert, während er mit einer Hand sanft, ja fast zärtlich über die Oberfläche des Wassers glitt und dabei dem Spiel der Libellen zuschaute. »Als Kinder verbrachten wir jede freie Minute hier am See – sommers wie winters. Auch die Frauen aus unserem Dorf kamen an lauen Sommerabenden nach der Feldarbeit noch zum Baden hier vorbei. An der Stelle, an der die Simser in den See floss, fing ich damals jede Menge Krebse. Richtig stattliche Burschen. Ihre Scheren und der Schwanz waren eine Delikatesse. Doch außer mir wollte sie keiner. Mutter und meine kleine Schwester Lieschen machten sich nichts draus. Meinem Bruder Karl waren sie zu suspekt«, meinte Albert, grinste und hob den Kopf. Er blickte den Hang hinauf und deutete mit dem Zeigefinger nach Osten. »Da, hinter dem Hügel, da liegt Klotainen!«

      »Ja, ich weiß«, entgegnete Heinrich. »Ich bin schon das ein oder andere Mal dort durchgekommen.«

      »Ist das nicht eine wunderbare Landschaft, wie geschaffen von eines Künstlers Hand?« Albert kam ins Schwärmen.

      »Ja, das ist es wohl«, meinte Heinrich und sein Blick schweifte weit über das Gewässer. »Die Natur braucht in diesem Landstrich immer etwas länger, bis sie ihre Pracht zeigen kann. Die Buschanemonen an den Bächen und feuchten Waldrändern sind immer die ersten, die den Frühling ankündigen. Schließlich gesellen sich die Sumpfdotterblumen, der Löwenzahn und die Glockenblumen hinzu.«

      »Was konnte man da herrlich über die Wiesen rennen. Im Herbst gingen wir sogar barfuß über die Stoppelfelder, und es machte keinem etwas aus.«

      Albert genoss den Augenblick, die frühen Sonnenstrahlen, das glitzernde Schimmern des Sees. Er fühlte sich als Zaungast der Natur – mittendrin, aber doch außen vor.

      .»Was meinst du, was wäre geworden, wenn uns niemand vertrieben und alles in deutscher Hand geblieben wäre?«, wandte er sich fragend Heinrich zu.

      »Wahrscheinlich wäre von der Natur heute nicht mehr viel übrig geblieben«, antwortete dieser.

      Albert blickte kurz unter sich. Dann schoss sein Kopf geradezu in die Höhe.

      »Ei, war das ein Spaß im Winter. Du glaubst ja gar nicht, was dann hier los war.«

      Ja, die Winter, sie konnten eisig sein in Ostpreußen. Das wusste auch Heinrich. Manchmal hielten Schnee und Frost das Land sogar noch im Mai in ihren eisigen Krallen. Heinrich lebte in diesem Land, seit er denken konnte. In der Nähe von Guttstadt war er geboren, auf einem Gutshof als der jüngste Spross von fünf Geschwistern. Seit Generationen war der Hof in Familienbesitz. Schon früh musste er hart bei der Landarbeit anpacken. Doch das Land, es hat ihn nie losgelassen. Auch nicht, als er Ende Januar 1945 als 10-Jähriger mit seiner Familie auf der Flucht von der russischen Front überrollt wurde und er wieder in seinen Heimatort zurückkehrte. Gerne sprach er nicht über diese Zeit. »Zu vieles erlebt«, meinte er stets, wenn er darauf angesprochen wurde, und winkte ab. Darüber reden wollte er nie. Auch jetzt nicht. Heinrich hatte gelernt, was vergessen heißt.

      »Das war vielleicht ein Spaß. Da drüben am Hang Richtung Siegfriedswalde wurde Schlitten gefahren, manchmal gleich über den See«, sprudelte es jetzt aus Albert heraus. »Was für eine Rodelpartie! Ein Bauer stellte ein Pferd und einen Kutscher zur Verfügung. 10 bis 15 Schlitten wurden hintereinander befestigt, und das Pferd zog die Schlitten den Berg hinauf. Wenn die Eisdecke es zuließ, liefen wir Kinder auch Schlittschuh. Wir hatten uns kleine Kufen bei Urbschat, unserem Dorfschmied, anfertigen lassen. Mit kräftigen Schlägen schlug er die Eisen unter die Holzpantoffeln – und ab ging es danach aufs Eis …«

      Eine Weile hatte Albert monologisierend in die Ferne geblickt, als er sich wieder seinem Begleiter zuwandte.

      »Weißt du, Heinrich, nicht jeder im Dorf konnte sich ein Paar Schlittschuhe leisten, dafür gab es aber Schlorren – manche hatten unter jedem Fuß ein Brett, das mit einem Riemen am Fuß festgeschnallt war. Auf dem Brett waren runde Drähte aufgenagelt – eine ganz primitive Anfertigung, die man sich praktisch selbst machen konnte. Dann gehörte zu den Schlorren noch ein Stab, so lang wie ein Besenstiel, mit einem unten eingeschlagenen Nagel. So spielten wir oft sogar Eishockey.«

      Auch Albert hatte solche Schlorren besessen. Bis zu dem Tag, als er von seinem Vater Willi diese wundervollen Schlittschuhe erhielt. Jahrelang hatte dieser sie gehütet wie einen Schatz.

      »Weißt du, Heinrich, zu meinem 12. Geburtstag schenkte mein Vater mir ein paar wundervolle Schlittschuhe. Mann, wie die blinkten und funkelten. Er muss sie ständig poliert haben. Mein Vater hatte sie von seiner Mutter ebenfalls zum 12. Geburtstag erhalten. Damals in Elbing.«

      »Eine schöne Geste und ein schönes Geschenk«, fand Heinrich.

      »Er