Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer. Mady Host

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Название Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer
Автор произведения Mady Host
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783947944798



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ich sagte die „grobe Richtung“. Gut eine Woche nach meinem Start verfahre ich mich so gründlich, dass ich mich ziemlich fernab des Weges befinde, aber auch hier gilt: „Schwächen haben ihr Gutes“, denn ich lerne zwei sympathische Frauen kennen. Die Häuser des Dorfes, in dem ich gelandet bin, wirken eher schlicht, manche sogar etwas ärmlich. Die ältere der beiden Frauen hat dünnes Haar und der mangelnde Wohlstand ist ihr an den Zähnen abzulesen. Die jüngere ist kräftiger, trägt ihr blondes Haar kurz, aber modisch und hat zwei Kinder im Schlepptau. Dank der häufigen Herumfragerei ist mein Französisch in der kurzen Reisezeit viel besser geworden, sodass wir ins Plaudern kommen. Die beiden Nachbarinnen sind restlos beeindruckt von meiner Tour und wollen mir beinahe nicht glauben, dass es aus eigener Kraft noch bis nach Rumänien gehen soll. Allein schon die zurückgelegte Distanz vom Startpunkt am Atlantik wirkt auf sie wie eine Unmöglichkeit und das mit so viel Gepäck. Dass ich allabendlich auf Campingplätzen mein Lager aufschlage und mir mein Essen selbst koche, lässt sie dann fast an meiner realen Existenz zweifeln. Es ist schon spannend, wie unterschiedlich Gesprächspartner mein Abenteuer wahrnehmen. Für die radelnde Kollegin aus der Reisebranche bin ich diejenige, mit der es sich austauschen lässt. Im Vergleich zum weltreisenden Totalaussteiger erscheint mein Vorhaben vielleicht als – zugegeben etwas überspitzt formuliert – Sonntagsspaziergang. Aber für die Frauen vor meiner Nase vollbringe ich eine wahre Meisterleistung. Ja, es ist alles Ansichtssache und verändert sich mit der Perspektive und dem Erfahrungsschatz des Gegenübers. Alles in allem zählt natürlich, wie ich selbst auf mich blicke. Weil ich mit Outdoorurlauben groß wurde, bin ich an diese Art des Reisens zwar gewöhnt, empfinde trotzdem Stolz über meine Umsetzung. Es ist meine bisher längste Radlerdistanz und das auch noch allein, zumindest die erste Streckenhälfte betreffend. Dass die Frauen vor meiner Nase mich so loben, steigert diese Empfindung.

      Die Loire in Nevers

      Ich will mich später besser an sie erinnern und packe meine Kamera aus. Währenddessen erzählen sie mir von der Wichtigkeit des Familienzusammenhalts. Die Angehörigen der älteren Frau leben zwar verstreut an unterschiedlichen Orten, aber sie sehen einander regelmäßig, essen dann zusammen und tauschen sich aus. „Das macht mich glücklich“, erzählt mir meine Gesprächspartnerin. Ihre Nachbarin hat sich in der Zwischenzeit umgezogen und nun posieren sie zusammen mit den beiden Kindern vor einem der Häuser für mein Foto. Sie lachen und winken in die Kamera und ich nehme ihnen ab, dass die regelmäßige Aussicht auf Familienbesuch in diesem kleinen abgelegenen Dorf sie immer wieder erfreut.

      Am Abend erreiche ich – ohne weitere Extrarunden – die Stadt Nevers, am Zusammenfluss von Loire und Nièvre rund 260 Kilometer südlich von Paris gelegen. In dieser 36.500-Einwohner-Stadt, deren Altstadtbild von engen Gassen und Bürgerhäusern aus dem 14. bis 17. Jahrhundert geprägt ist, ist heute richtig etwas los. Ich gerate mit meiner Kameraausrüstung mitten in eine Wohltätigkeitssportveranstaltung, bei der Menschen für einen guten Zweck einen Laufwettkampf absolvieren. Ihre Strecke führt sie am „Espace Bernadette Soubirous“, dem Kloster, in dem der Leichnam der heiligen Bernadette Soubirous zu finden ist, vorbei. Die Heilige hatte einst als Mädchen mehrere Marienerscheinungen.

      Bevor ich mich in das Reich der Träume verabschiede, kann ich heute noch mein erstes Radtourenbuch verstauen, denn die Karte „Loire-Radweg“ endet hier in Nevers und wird von „EuroVelo 6 – Frankreich Ost“ abgelöst. Stolz über meine bisher erbrachte Leistung schließe ich die Augen und träume schon von der Region Burgund, dem südlichen Elsass und den Tälern sowie Kanälen, die mich erwarten.

      Ich verlasse Nevers und folge einem unbefestigten, aber sehr gut zu fahrenden Kanalradweg in südöstliche Richtung. Weil ich so zügig vorankomme, rolle ich bis zur Mittagspause durch und bestelle mir beim Universum einen Supermarkt, der am heutigen Sonntag lange genug geöffnet hat und in dem ich mich mit Keksen eindecken kann. Seit einigen Tagen vermute ich verwandtschaftliche Beziehungen zum Krümelmonster, so groß ist mein Heißhunger auf das Gebäck geworden.

      Mein neues Grundnahrungsmittel

      Ziemlich exakt 12:30 Uhr stehe ich vor einem riesigen Markt am Ortseingang von Decize und überfliege schnell die Öffnungszeiten an der Tür: sonntags bis 12:30 Uhr. Eine Mitarbeiterin, die eigentlich gerade die Pforten dicht machen will, mustert mich freundlich. Mein Blick scheint Bände zu sprechen, denn plötzlich unterbricht sie ihre Tätigkeit und bietet an: „Na, los, fünf Minuten! Ihr Radler müsst doch essen …“

      Dankbar schlüpfe ich hinein, kaufe in Windeseile Kekse, einen Joghurtdrink und ein paar frische Sachen aus der Obst- und Gemüsetheke. An der Kasse danke ich ihr und dem Universum und reiße vor der Tür hungrig die Packung meiner Krümelmonsternahrung auf.

      Es geht noch ein Weilchen am Kanal entlang, bis der Weg dann über eine asphaltierte Straße führt, die nahezu verkehrsfrei ist, allerdings habe ich das Gefühl, dass es deutlich häufiger auf als ab geht. Kaum komme ich mal ein kleines Stück zügig rollend voran, tritt schon die nächste Steigung in mein Blickfeld und meine Hand muss in den ersten Gang drehen. Hoffentlich reicht die Keksenergie, denn ich stecke mitten in einer Einhundert-Kilometer-Etappe, die nötig ist, um meinen anvisierten Campingplatz zu erreichen. Ich schalte auf den Meditationsmodus um, statt auf meinen Atem konzentriere ich mich nun auf nichts anderes mehr als „fahren, fahren, fahren“, Gefühle der Anstrengung blende ich bewusst aus, was wirklich gut funktioniert. In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, frage ich eine Frau, die in an ihrem Haus werkelt, nach frischem Wasser. Bereitwillig füllt sie meine Trinkflaschen auf, bietet mir sogar den Besuch ihres WCs an. Wenig später wechsele ich ein, zwei Worte mit einem belgischen Pärchen, das nach Frankreich ausgewandert ist, sonst begegne ich keiner Menschenseele, auch andere Radler sind nirgendwo auszumachen.

      Wegweiser

      Ich ziehe durch und erreiche nach 104 Kilometern Diou, einen kleinen Ort, der alles hat, was ich heute noch brauche: einen Campingplatz. Erneut meint es das Universum gut mit mir, als es erst, nachdem ich das Zelt aufgebaut habe, einen starken Schauer auf die Erde schickt. Wo könnten die Kekse und der heiße Tee besser schmecken als hier in meinem Zelt, auf dessen Dach die Wassertropfen ein Konzert geben …?! Auch das ist Glück für mich.

      Die Nachteile des Alleinreisens erwischen mich heute eiskalt. Das Zusammenspiel aus warmer Jahreszeit, Campingplatz und Arachnophobie führen mich gleich am Morgen an den Rand meines persönlichen Wahnsinns. Wer 1990 US-amerikanische Horrorfilme geschaut hat, weiß, wovon ich spreche. Als ich meine Behausung öffne, um Richtung Sanitäranlagen aufzubrechen, regnet es zwar nicht mehr, aber alles ist noch sehr nass. Und wem begegnet man in der Natur gern einmal? Ich denke, man muss keine große Zelterin sein, um die Antwort zu kennen. Meine Finger haben den Reißverschluss des Eingangs gerade bis zum oberen Ende bewegt, als eine dicke schwarze Spinne pfeilschnell hinabsaust. Ich schrecke heftig zurück, wähle die Flucht und finde mich Hundertstelsekunden später auf einem Bein hopsend im nassen Gras vor meinem Zelt wieder. Entgegen meiner üblichen Reaktion auf diese Tiere bleibe ich weitestgehend stumm. Nur ein leiser gepresster Laut verleiht meinem Schreck Ausdruck. Schließlich steht unweit von mir das nächste Zelt, welches zwei deutsche Paddler bewohnen, und blamieren möchte ich mich nicht, ein bisschen Stolz habe ich auch. Da stehe ich nun schwankend auf einem Bein, um wenigstens nur eine Socke zu durchnässen, und überlege, was ich tun soll. Normalerweise habe ich jemanden in meiner Nähe, der weniger Angst vor Spinnen hat als ich, was zugegebenermaßen keine allzu große Kunst ist. Es hilft nichts, ich muss da jetzt allein durch. So nähere ich mich meiner Behausung, schlüpfe erst einmal in meine Turnschuhe, allerdings nicht ohne sie vorher gründlich ausgeschüttelt zu haben – man weiß ja nie – und suche den Rasen zwischen Innen- und Außenzelt gründlich ab, die Spinne ist nirgendwo zu sehen. Ob ich das nun als gutes oder schlechtes Zeichen werten möchte, weiß ich nicht, zunächst zählt das Ergebnis und dieses lautet: keine Spinne mehr.

      Als