Mordsverlust. Christopher Stahl

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Название Mordsverlust
Автор произведения Christopher Stahl
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783482728617



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      „Und wenn ich …?”

      „Was willst du denn tun, Darius? Mit einem Bild von Renate durch die Fußgängerzonen laufen und die Passanten befragen? Wenn wir wenigstens den geringsten Anhaltspunkt über ihren Aufenthaltsort hätten. Aber so?!”

      „Gibt es einen Ort, den sie mag, wo sie sich auskennt, oder hat sie Freunde, bei denen sie für einige Zeit unterkommen könnte?”, fiel mir ein.

      Gertrud schüttelte den Kopf. „Wenn ich darauf eine Antwort wüsste, hätte ich schon von mir aus etwas unternommen. Seit sie verheiratet ist, weiß ich auch in dieser Beziehung rein gar nichts mehr von ihr.”

      „Und wenn sie in ein Hotel geht oder Geld abhebt oder einkauft, dann müsste man doch feststellen können, wo sie mit ihrer Kredit- oder mit ihrer Scheckkarte bezahlt hat. Sie hat ein eigenes, gut gefülltes, Konto bei der Kreissparkasse in Wöllstein. Das weiß ich, da ich ihre Steuererklärung in meiner Kanzlei mache.”

      „Gertrud, du weißt es doch am besten, dass auch die sich hinter ihren Gesetzen verschanzen. Höchstens Heribert könnte das.”

      „No way! Oder denkst du, nur aufgrund meines Dienstausweises öffnen die mir ihre Konten? Da benötige ich selbst bei einer offiziellen Ermittlung Unterstützung vom Staatsanwalt.”

      Ich gab nicht auf. „Könnte man eventuell aufgrund der Kleidung die sie mitgenommen hat, auf eine Spur schließen?”

      „Woher soll ich denn wissen, was sie mitgenommen hat. Vielleicht weiß Benjamin etwas darüber oder Marga. Soll ich ihn anrufen?” Gertrud war schon aufgestanden, als Heribert sie zurückhielt.

      „Einen Moment noch.” Er lehnte sich zurück und dachte kurz nach, bevor er aufstand und vor dem Tisch auf und ab ging.

      „Die Idee, ihre Banktransaktionen zu verfolgen, finde ich eigentlich ganz gut. Frau Faber, Sie sollten vielleicht doch versuchen über den Kontoführer bei der Kreissparkasse einen Auszug zu bekommen. Sagen Sie einfach, Sie benötigen ihn für eine steuerliche Angelegenheit. Und wenn das nichts hilft, dann könnten Sie auf, ich sage einmal, zwischenmenschlicher Basis, mit dem Filialleiter ein Arrangement treffen. Innerhalb von zehn Tagen müsste Renate ja irgendwo Geld abgehoben oder mit einer Karte bezahlt haben. Und selbst wenn sie den Ort wechselt, ließe sich daraus eine Art Spur mit einem Muster ableiten”

      Gertrud ging sofort auf den Vorschlag ein. Sie wollte sich gleich nach unserem Gespräch darum kümmern.

      „Und du, Darius, sprichst mit Marga Preuß und Benjamin Dohne.”

      Ich nickte. „Gertrud, avisierst du mich bitte für heute Abend, so ab neunzehn Uhr?”

      „Natürlich. Falls es bei einem nicht passen sollte, rufe ich dich an.”

      „Und ich”, Heribert hatte seinen Spaziergang eingestellt und stand nun ruhig vor uns, „ich werde nach Durchsicht von Renates Kopien ein paar unverfängliche Gespräche mit einigen Kollegen in Mainz führen. Die SoKo Rheinhessennetz wurde kurz nach Korfmanns Tod aufgelöst, da es zu keinen greifbaren Ergebnissen gekommen war. Das liegt nun schon einige Monate zurück, und da ist man dann schon eher einmal dazu bereit, einem Kollegen von einer anderen Inspektion etwas aus der Gerüchteküche kosten zu lassen.”

      Als Gertrud uns vor die Haustür brachte, blieb sie zwischen uns stehen, legte ihre Arme um unsere Schultern, drückte uns leicht und sagte leise. „Danke, vielen Dank.” Dann drehte sie sich ohne weiteren Abschiedsgruß um und schloss die Tür hinter sich.

      Ich wollte gerade in mein Auto steigen, als Heribert hinter mir herrief: „Einen Moment noch.” Er kam zu mir. „Bitte kein Wort darüber zu Dagmar.” Ich sah ihn irritiert an. „Ich will sie da nicht mit hineinziehen. Sie fühlt sich wohl bei uns in der Inspektion und hat eine Aufgabe, die sie erfüllt. Das möchte ich nicht gefährden, falls in dieser Sache doch noch eine Bombe hochgehen sollte.”

      „An was denkst du? Etwas Konkretes?”

      „Weiß ich nicht. Nur so ein Gefühl. Das ist wie bei einer Melodie. Du meinst, dass du sie schon einmal gehört hast und dass sie dich an einen Ort, an eine Begebenheit erinnern müsste, aber es fällt dir partout nicht ein, wo und was. Na ja, lass mal. Mach‘s gut.”

      „Ich rufe dich spätestens übermorgen an und informiere dich, was ich von Marga Preuß und Benjamin Dohne erfahren habe.”

      „Aber morgen bitte nicht vor elf. Ich habe eine Vernehmung und davor ist die wöchentliche Frühbesprechung, du verstehst.”

      Das hohe, zweiflüglige Holztor in der Langgasse, die den östlichen Ortsrand begrenzte, war geschlossen. Die holzgeschnitzte Hausnummer 12, die auf dem rechten Flügel angebracht war, konnte man nicht übersehen. Aber erst nach intensiver Suche entdeckte ich das kleine Namensschild mit der Inschrift Marga Preuß und den kleinen Klingelknopf darunter an der Hausmauer, die in der Verlängerung des Tores das Grundstück zur Langgasse begrenzte.

      Ich hatte den Eindruck, dass sie schon hinter dem Tor auf mich gewartet hatte, so schnell wurde es geöffnet und hinter mir wieder geschlossen. In dem etwa einhundert Quadratmeter großen, mit altem Kopfsteinpflaster befestigten Innenhof begrüßte mich eine grauhaarige, schlanke Frau. Sie war einen guten Kopf kleiner als ich und beobachtete mich, trotz der stahlblauen Augen, mit fast ängstlicher Zurückhaltung. Die Inkarnation der verblühten Schönheit, dachte ich, als ich in ihr Gesicht blickte. Nicht ihr Alter, denn sie war erst Anfang 40, sondern das, was sie erlebt haben musste, hatte seine Spuren hinterlassen. Trotz ihres dunklen Teints, der ihr ein gesundes Aussehen verlieh, hätte ich sie auf über fünfzig geschätzt, wenn Gertrud mir nicht ihr Alter verraten hätte. Sie war mit einer grünen Latzhose und einem kurzärmligen, braunen T-Shirt bekleidet. Ihre Füße steckten in weißen Clogs, wie man sie oft bei Ärzten sah.

      „Schauen Sie sich nur um, Herr Schäfer”, sagte sie und begleitete ihre Aufforderung mit einer sanften, raumgreifenden Geste, „das ist mein Lebensraum. Hier fühle ich mich wohl, seit über 20 Jahren, wie Sie ja auch an meiner Aufmachung erkennen.” Sie grinste und strich mit der Rechten über ihre Arbeitshose. „Ursprünglich war das einmal ein bäuerliches Anwesen, kein großes, eher ein ärmliches. Das sieht man an der Konstruktion. Ständerbauweise, ausgefüllt mit Sandsteinen, aber nicht von den Steinmetzen aus den Bernheimer oder Flonheimer Steinbrüchen, son­dern Bruchsteine vom Feld. Doch es steht sicher, seit über 200 Jahren. Dieses Haus hat die napoleonische Herrschaft und mehrere Kriege überstanden.” Stolz klang aus ihrer Stimme. Man spürte, dass das Haus für sie ein Eigenleben hatte und dass sie sich über seine Standhaftigkeit definierte. Es schien ihr Sicherheit zu geben.

      „Ich habe im Laufe der Zeit alles authentisch saniert, allerdings technisch auf den neuesten Stand gebracht und so eingerichtet, wie es mir gefällt. Auch wenn der Vorbesitzer schon vieles gemacht hatte, er war Handwerker, ein verrückter Kerl. Was der nicht alles eingebaut und umgebaut hat. Aber auch ohne aberwitzige Ideen ist so ein altes Gebäude wie ein Fass ohne Boden.” Wem sagte sie das, fragte ich mich. „Aber mir kann das egal sein. Don Johann Preuß zahlt schließlich alles, nur damit ich mich von der Familie fern halte.”

      Ihre Stimme verhärtete sich, als sie den Namen ihres Vaters aussprach. Und ich war irritiert. Nicht, weil sie über ihn sprach, als sei er eine fremde Person, sondern weil sie sich mir so schnell öffnete. Gut, Gertrud hatte mich avisiert und ihr erzählt, weshalb ich sie aufsuchte, und sie wusste mich als Dorfbewohner einzuordnen. Aber weshalb sie mir ohne Not derart persönliche Dinge so schnell offenbarte, war mir unerklärlich.

      „Ich kenne inzwischen jede Ecke und jeden Winkel hier. Diese alten Häuser stehen oft auf den Grundmauern noch älterer Häuser, die irgendwann abgetragen wurden, um an der gleichen Stelle ein neues zu errichten. Da stößt man auf allerhand außergewöhnliche und merkwürdige Dinge.”

      Auf ihren Vorschlag hin blieben wir im Freien. Die Sonne hatte schneller, als es die letzten Tage hatten vermuten lassen, die Temperaturen nach oben getrieben und es war auch jetzt, kurz nach 19 Uhr, noch angenehm warm.

      „Bitte nehmen Sie Platz”, sie deutete auf eine wetterfeste Sitzgruppe, die von einem überdimensionalen