Mordsverlust. Christopher Stahl

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Название Mordsverlust
Автор произведения Christopher Stahl
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783482728617



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Wetter hatte sich endlich gebessert und ich fuhr kurz vor elf Uhr bei strahlendem Sonnenschein, der so gar nicht zu dem Anlass meiner Fahrt passte, zu Gertrud Faber. Am Tag zuvor hatte sie mich in der Kanzlei angerufen und mir von Renates Verschwinden erzählt. Sie hatte sich für mehrere Tage aus ihrer Kanzlei abgemeldet und so besuchte ich sie in ihrem Haus in Neu-Bamberg. Das idyllische Dörfchen lag in einem der schönsten Gebiete der Rheinhessischen Schweiz, etwa zehn Autominuten entfernt von Bernheim Richtung Bad Kreuznach. Mein Weg führte mich vorbei am Galgenberg und dem literarisch vielfach beschriebenen Ajaxturm. Während der Fahrt musste ich an das gestrige Telefonat mit Gertrud denken und hatte daher keinen Blick für die pittoreske Landschaft und die Burgruine, die oberhalb auf einem Hügel das Bild der Ortschaft prägte.

      Gertrud Faber hatte mir erzählt, dass ihr Schwiegersohn Benjamin am Ostersonntag, also am 27. März, gegen zehn Uhr bei ihr angerufen und sie gefragt hatte, ob sie eine Ahnung hätte, wo Renate sei. Er war aufgewühlt gewesen und hatte ihr erzählt, dass Renate nach einem kleinen Streit, wie er es nannte, mitten in der Nacht die gemeinsame Wohnung auf dem Weingut verlassen hätte, mit der Mitteilung, nie mehr zurückkommen zu wollen. Gertrud war ratlos.

      „Ich habe schon seit einiger Zeit gespürt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, aber ich kam gar nicht mehr an sie heran. Sie hat seit einigen Wochen so ein merkwürdiges Verhalten an den Tag gelegt und den Kontakt mit mir auf das wirklich Notwendigste reduziert. Dabei war unser Beziehung doch früher immer so eng! Naja, wenigstens hat Renate sich zwei Tage später gegen fünfzehn Uhr dann doch bei mir gemeldet und mir mitgeteilt, dass sie bei Marga Preuß, Benjamins Tante, untergekommen sei. Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und dass sie einfach ein paar Tage benötige, um sich zu sortieren, wie sie es ausdrückte. Sie würde sichwieder melden. Sie wäre auch mit allem versorgt, was sie brauche – Auto, Kreditkarte und ausreichend Kleidung. Aber als ich dann am nächsten Tag noch einmal versucht habe, sie über ihre Handynummer zu erreichen, nahm sie nicht ab. Ich habe dann bei Marga angerufen, die mir aber auch nicht viel mehr sagen konnte, als dass Renate noch während der Nacht oder am frühen Morgen ohne vorherige Ankündigung das Haus verlassen hätte.”

      Seitdem hatte Gertrud nichts mehr von Renate gehört, obwohl sie immer wieder ihre Handynummer wählte. Ihre unbestimmte Befürchtung, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte, verstärkte sich von Tag zu Tag.

      „Erst zieht sie sich Stück für Stück von mir zurück, dann verlässt sie ihren Lebenskreis und nun lässt sie schon seit zehn Tagen nichts mehr von sich hören! Sie hätte doch wenigstens anrufen oder auf meine Anrufversuche auf ihrem Handy reagieren können. Das passt alles nicht zu ihr. Da stimmt etwas nicht, das spüre ich.” Für einen Moment herrschte Stille, ich hörte sie nur noch atmen.

      „Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Was soll ich nur tun, Darius?”

      Ich versprach Gertrud, sie am nächsten Tag zu besuchen und meinen Freund, Heribert Koman, Kriminalhauptkommissar bei der Polizeiinspektion Alzey, hinzuzuziehen. Er konnte die Angelegenheit als Kriminalbeamter bedeutend effektiver beleuchten als ich und ihr bestimmt das Richtige raten.

      Ich bog in eine Spielstraße im Neubaugebiet von Neu-Bamberg ein, an deren Ende Gertrud seit etwa 12 Jahren in einem Einfamilienhaus wohnte. Heribert war bereits da. Von Weitem sah ich ihn neben seinem Dienstwagen stehen, wo er auf mich wartete. Er reckte das Gesicht der Sonne entgegen und tankte offensichtlich Glückshormone nach dem wochenlangen Regenwetter.

      Während ich im vorschriftsmäßigen Schritttempo auf ihn zu fuhr, fiel mir unsere erste Begegnung ein. Es war im Juli 2002 an dem Acker, an dem meine Hunde die Leiche meines Freundes Horst aufgespürt hatten. Ein freundlich aussehender Mann in Zivil, ichschätzte ihn damals auf Ende 40 – heute ist er 51, sechs Jahre jünger als ich – war auf mich zugekommen. Seinerzeit war er noch etwas schlanker gewesen, aber bei seiner Größe von 1,95 Meter fiel das kaum auf. Allerdings hatten sich seine Haare inzwischen meiner Frisur angeglichen. Sie waren weniger, zum Ausgleich jedoch auch grauer geworden.

      Der freundliche Eindruck hatte sich sehr schnell verwischt, als er mich ohne eine erklärende Vorbemerkung gefragt hatte, ob ich Horst umgebracht hätte, was nicht gerade dazu hatte beitragen können, die erste Wahrnehmung des Hauptkommissars Heribert Koman wenigstens neutral zu gestalten. Und als er mich auch noch über Horst ausfragen wollte, der nicht nur mein Freund, sondern auch einer meiner Mandanten gewesen war, konterte ich mit einer hochgestochenen Reaktion: Ich verwies auf meine Verpflichtung zur Verschwiegenheit und zitierte aus meiner Berufsordnung. Ich erinnerte mich noch gut an unsere ebenso kurze, wie lächerliche Auseinandersetzung, die sich daran anschloss. Heribert beendete sie mit der Erklärung: „Wollen wir uns hier Paragrafen um die Ohren schlagen oder möglichst schnell den Tod Ihres Freundes klären!? Ihre Schweigepflicht, verehrter Herr Schäfer, interessiert mich dabei nämlich, verzeihen Sie bitte den Ausdruck, einen Scheiß.” Seitdem war er mir sympathisch. Allerdings bedurfte es noch mehrerer verbaler Scharmützel bei einem weiteren Fall bis wir, mit der Unterstützung einiger Flaschen Rheinhessenwein, den Beginn einer wunderbaren Freundschaft à la Rick Blaine und Victor László einläuteten.

      Gertrud hatte uns bereits durch das Küchenfenster gesehen und öffnete die Haustür, bevor wir klingeln konnten. Sie sah müde und angespannt aus und ihre sonst stets frische Gesichtsfarbe war einer kränklichen Blässe gewichen. Sie musste meinem Blick entnommen haben, dass mich ihr Anblick erschreckt hatte. Als sie uns in das zum rückwärtigen Garten gelegene Wohnzimmer geführt und gebeten hatte, Platz zu nehmen, erklärte sie, dass sie schrecklich aussehen müsse, seit Tagen habe sie kaum geschlafen.

      Während sie uns Kaffee einschenkte, der in einer großen Kanne schon bereitstand, beobachtete ich sie. Gertrud war ansonsten eine attraktive, sehr gepflegte Erscheinung. Nicht nur wegen ihrer zierlichen Gestalt – sie war etwa 1 Meter 65 groß – schätzte man sie auf höchstens Anfang 50, sondern auch wegen ihrer blonden, kurz geschnittenen Haare, denen zumindest ich nicht ansehen konnte, ob sie in einer natürlichen Farbe getönt oder einfach noch nicht ergraut waren. Aber heute sah man ihr ihre 58 Lebensjahre an.

      Sie hatte die Kaffeekanne abgesetzt und offerierte mit einer einladenden Geste Milch und Zucker.

      „Wo kann sie nur sein, Darius? Du kennst Renate doch auch. Das ist einfach nicht ihre Art!” Gertrud sah dabei aber nicht mich an, sondern Heribert, wobei ihre Mimik vom Zweifel zur Verwunderung wechselte. „Sagen Sie, sind Sie etwa der Heribert Koman, bei dem meine Tochter ihr Polizeipraktikum absolviert hat? Na, sie müssen es sein. Es wird ja kaum mehrere Hauptkommissare in Alzey mit demselben Namen geben.”

      „Das stimmt, Frau Faber”, er neigte sich ihr leicht zu, „Ihre Tochter Renate war vor sechs Jahren auf meiner Dienststelle. Ich erinnere mich sehr gut an sie.”

      Ich traute meinen Ohren nicht. „Weshalb hast du mir denn davon gestern nichts gesagt.”

      „Ganz einfach”, grinste er schief. „Hattest du mich über meine Telefondurchwahl erreicht? – Nein, denn dein Anruf wurde auf die Zentrale umgeleitet, weil ich gerade in einer Vernehmung war. Und erinnerst du dich, was der diensthabende Kollege dich fragte?”

      „Mhm, er wollte wissen, ob es dringend sei. Und ich sagte, dass es unaufschiebbar sei und ich dich nur ganz kurz etwas fragen müsse.”

      „Also hat er dich mit mir verbunden. Du hast gesagt, worum es geht, und ich habe versprochen, heute vorbeizukommen, aber in dieser Situation hatte ich nicht noch Zeit, dir zu erklären, dassRenate mehrere Monate bei mir in der praktischen Ausbildung war.”

      „Ein kleiner Hinweis nur …”, nörgelte ich.

      „Darius, du solltest wirklich ab und zu meinen Job machen. Willst du gestört werden, wenn du ein Mandantengespräch hast?”

      „Rhetorische Frage”, wehrte ich ab.

      „Na also.” Er besann sich wieder auf das Wesentliche unseres Besuches. „Entschuldigung, Frau Faber, Herr Schäfer ist manchmal so nervtötend detailversessen. Kann es einfach nicht ertragen, wenn er nicht alles weiß.”

      „Ist schon in Ordnung”, Gertrud lächelte zum ersten Mal, „Ich kenne Darius schon länger. Sie dürfen es ihm aber nicht übel nehmen. Das