Am Sonntag geht Gott angeln. Dirk Grosser

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Название Am Sonntag geht Gott angeln
Автор произведения Dirk Grosser
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783532600528



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„Muss das irgendjemand sein?“

      Ein halbes Jahr später erschien das Buch, Seán kam nach Deutschland geflogen und wir gingen das erste Mal gemeinsam auf Tour, verstanden uns von Anfang an prächtig und hielten in unseren Gesprächen stets eine gesunde Balance zwischen spirituellem Tiefsinn und gut gelauntem Blödsinn.

      Seán war in der Tat der ungewöhnlichste katholische Priester, den ich jemals kennengelernt hatte. Ganz abgesehen von seinem leicht hippieartigen Äußeren, das viele Menschen überraschte, waren es vor allem seine Ansichten und die Konsequenzen, die er daraus zog, die mich beeindruckten. Als junger Priester war er nach Afrika geschickt worden, um dort zu missionieren, war aber eher selbst missioniert worden, wie er immer sagte. Die Erde, das Land und die Menschen zu lieben, war für ihn gleichbedeutend mit einem Gottesdienst. Zusammen zu feiern und zu tanzen, war für ihn das beste Gebet. Einen Menschen zu umarmen, ihm zuzuhören und ihn wirklich zu sehen, war für ihn Kontakt zum Mysterium selbst.

      Als er Afrika verließ, konnte er nicht nur fließend Suaheli sprechen, sondern nahm von dort auch eine innere Freiheit mit, die er in jungen Jahren nicht gehabt hatte und die er nun niemals mehr missen wollte. Er ging nicht zurück nach Irland, sondern arbeitete in einer Gemeinde in Kalifornien, wo es aber nach einigen Jahren zu Problemen kam, da nicht allen Menschen (vor allem den Vorgesetzten) seine Art gefiel. Seán hatte keine Hemmungen, schon in den 1990er-Jahren schwule und lesbische Paare zu verheiraten, und fragte auch gar nicht lange, bevor er dies tat. „Liebe ist Liebe“, sagte er immer, „und Gott liebt die Liebe. Warum sollte ich mich also gegen irgendeine Liebe stellen, wo ich doch angeblich ein Diener Gottes bin?“

      Nicht jeder Diener Gottes verstand seinen Dienst aber in dieser Weise, und so musste Seán die Gemeinde letztlich verlassen. Was dann geschah, hatten die Kirchenoberen aber in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorausgesehen: Etwa 500 Gemeindemitglieder entschlossen sich kurzerhand, Seán zu begleiten, ihre Ursprungsgemeinde ebenfalls zu verlassen und gemeinsam eine neue Gemeinschaft zu gründen: die Companions On The Journey, die Gefährten auf dem Weg. Hier blühte Seán richtig auf, feierte Gottesdienste mit Katholiken, Protestanten, Hindus, Moslems, Juden und Buddhisten, teilte das Abendmahl mit homosexuellen, transsexuellen, atheistischen und geschiedenen Menschen. Er lud also auch all diejenigen an den großen Tisch Gottes, die an anderen Orten der Kirche nicht gern gesehen waren.

      Einmal im Jahr besuchte er seine Familie in Irland, flog für vier Wochen herüber und verbrachte Zeit mit seinen Eltern und Geschwistern, seinen zahlreichen Nichten und Neffen … und mit mir. Wir trafen uns öfter auf der grünen Insel, gingen am Atlantik spazieren, unterhielten uns über Gott und die Welt. Wir liebten beide Hunde, die Berge und das Meer, und hatten ebenso eine gemeinsame Abneigung gegen Hierarchien, Ignoranz und Brokkoli. Mit anderen Worten: Wir verstanden uns blind.

      Bei all diesen Gelegenheiten festigte sich nicht nur unsere Freundschaft immer mehr, ich begegnete in Irland auch einer fast vergessenen Tradition, die mir half, wieder Vertrauen in das Christentum zu fassen und Jesus ganz jenseits von der Institution Kirche wieder zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens werden zu lassen.

      Meist holte Seán mich am kleinen Flughafen in Cork ab. Ich stand vor der Abfertigungshalle und wartete auf den „besten katholischen Shuttle-Service der Welt“, wie Seán sich angekündigt hatte. An solchen Orten die Menschen zu beobachten, kann ein unterhaltsamer Zeitvertreib sein, allerdings wird man manchmal auch auf unliebsame Weise mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert.

      Ich bemühe mich zwar stets, nicht allzu oberflächlich zu sein, doch als ich dort stand und ein tiefergelegtes Mercedes-Cabrio mit Breitreifen und lila-türkis-changierender Sonderlackierung angerollt kam, war mein erster Gedanke: „Ach, guck mal, der örtliche Drogenverticker kommt auch schon …“ Und ich schaute mich sogleich um, ob ich nicht irgendwo seine Freundin im Leoparden-Minikleid entdecken konnte, die er hier abholte. Doch als diese Blech-Scheußlichkeit vor mir anhielt und ich das grinsende Gesicht von Seán und sein aufforderndes Winken sah – und mir bewusst wurde, dass ich die Freundin im Leoparden-Kleid war – zerbröckelte diese Geschichte in meinem Geist. Ich warf meine Tasche in den Kofferraum und ließ mich auf die weißen Ledersitze plumpsen.

      Seán brachte es gleich auf den Punkt: „Na, was anderes erwartet?“

      Das war das Schöne an ihm: Man konnte mit ihm stundenlang über Theologie, die christliche Mystik oder das rätselhafte Wellen- bzw. Teilchenverhalten von Licht diskutieren, aber die wirklich wichtigen Dinge brachte er einem ganz beiläufig mit einem dahingeworfenen Satz bei. Er war kein Freund von Erwartungen und anderen verfestigten Geisteshaltungen, ließ sich immer auf alles ein und zeigte an allem ein offenes Interesse. Er hatte wirklich in Bezug auf rein gar nichts eine Theorie, wie es sein sollte, sondern schaute immer einfach darauf, was sich zeigte. Und er durchbrach gern die Vorstellungen, die andere sich von der Wirklichkeit machten. Ich hätte es ihm also wirklich zugetraut, dass er sich extra für diesen Abholdienst am Flughafen diese Zuhälter-Kutsche besorgt hatte, doch er klärte mich sogleich auf und erzählte mir, dass sein Bruder mit Gebrauchtwagen handelte und ihm immer für seinen Besuch in Irland irgendeinen Wagen zur Verfügung stellte, mit dem Seán dann herumbrausen konnte. Als ich Seamus und seinen Sinn für Humor später kennenlernte, fragte ich mich allerdings sofort, ob der Wagen vielleicht eine späte Rache für einen erduldeten Kindheits-Streich war.

      Wie auch immer: Seáns kleiner Seitenhieb auf enttäuschte Erwartungen ließ uns gleich in ein Gespräch über die christliche Mystik und Meditation eintauchen, über eine innere Verfassung, die uns loslassen hilft, die uns mit neuen Augen sehen und uns dem gegenwärtigen Geschehen vorurteilsfrei zuwenden lässt.

      Seán wusste nur allzu gut von meiner allgemeinen Ernüchterung, was Glaubensangelegenheiten betraf.

      „Hat vielleicht auch mit enttäuschten Erwartungen zu tun“, sagte er. „Du erwartest von der Kirche, dass sie sich den Menschen zuwendet und sie bei ihrer Suche nach Gott unterstützt, während die Kirche nur erwartet, dass sich die Leute gefälligst an das halten, was sie mühsam versucht zu bewahren. Und dabei verstellt ihr die eigene Lehre den Blick auf die Wirklichkeit.“ Er lachte, schnitt eine Kurve und bretterte viel zu schnell zwischen winzigen Häusern und niedrigen Steinmauern entlang.

      „Ich glaube, eine religiöse Institution ist immer in Versuchung, alles zu beschützen, was ihr lieb und teuer ist, und befindet sich damit ständig in Rückzugskämpfen. Und dann verkommt auch Gott zu einem festgefügten Bild, das man verteidigen muss, etwas, von dem man genau zu wissen meint, wie es aussieht, wie es beschaffen ist … Na ja, und wie alle anderen es sehen sollen.“

      Ich nickte, nachdenklich, aber zustimmend. „Stimmt wohl. Gott ist dann Position und nicht mehr Situation.“

      Seán machte einen kleinen Freudensprung auf seinem Sitz: „Genau! So kann man das eindampfen.“

      Genau wie für mich war Gott für Seán tatsächlich immer Situation, immer aktuell, immer jetzt, immer lebendig, ein Geschehen, eine Geschichte, die sich in jedem Moment verändert und die stets einen offenen Ausgang hat. Eine Position dagegen ist genau das Gegenteil. Sie ist starr, unflexibel und im Grunde genommen tot.

      Hier in Irland überkam mich nicht zum ersten Mal das Gefühl, als würde irgendetwas darauf warten, die seltsame Leere, die ich spürte, mit einem tiefen und seelenvollen Gehalt zu füllen. Einem Gehalt, der eher zwischen den Zeilen, zwischen den Menschen, zwischen den Schafgattern und Pubs wie ein unterschwelliger Pulsschlag zu fühlen war, eine leise gespielte Bodhran, die Lieder und Geschichten begleitete, welche von längst vergangenen Zeiten berichteten.

      Nach und nach sollte ich verstehen, dass einer der größten Unterschiede zwischen unserer modernen Weltsicht und der der alten Kelten wohl darin besteht, dass wir versuchen, die Welt in Konzepte und Theorien zu fassen, um sie zu verstehen, während die Kelten als geborene Mystiker ihre Welt in Geschichten darstellten. Letztere sind weitaus offener, interpretationsabhängiger und eher an transformativer Wahrheit als an bloßen Fakten interessiert.

      Die Geschehnisse, die in Mythen verpackt überliefert wurden, die Heldengestalten und Götter, die Interaktionen mit der Anderswelt und dem Göttlichen in vielerlei Ausformungen, sind ein Raunen aus der Tiefe der Zeit. Wir spüren eine Kraft, wissen aber nicht genau, wie sie