Flucht. Rainer Nowak

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Название Flucht
Автор произведения Rainer Nowak
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783990404607



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Lkw sind mehrere Leichen gefunden worden. Am Ende zählen die Ermittler 71 Tote in dem Kühllaster, den die Autobahnmeisterei in einer Pannenbucht der Ostautobahn bei Parndorf nach 24 Stunden Stehzeit gefunden hat. 59 Männer, acht Frauen, vier Kinder aus dem Irak, Afghanistan, Syrien und dem Iran. Aus dem Fahrzeug tropft Leichenflüssigkeit. Die Flüchtlinge sind elendiglich erstickt in dem Transporter für Gefrierhühnerfleisch; die Schlepper haben sie auf 14,26 Quadratmetern zusammengepfercht und die Türe von außen verschlossen. Nach Luft ringend, haben die Menschen im Todeskampf wie wild an die Außenwände geschlagen. Der Fahrer hat das Klopfen vernommen, aber nicht aufgemacht. Das dokumentieren Tonbandprotokolle, die die ungarische Staatsanwaltschaft zum Prozessbeginn in Kecskemét fast 22 Monate später vorlegt. Die ungarische Polizei hat die Schlepperbande abgehört, aber den Mitschnitt zu spät ausgewertet.

      Faymann und Merkel sind tief erschüttert. Dieser Moment, das Parndorfer Drama, verbindet sie. Das ist kein stilles Massensterben mehr, weit weg im Mittelmeer. Die Schrecken der Flüchtlingskrise sind auf einmal ganz nah und sichtbar. Die Tragödie lässt sich nicht mehr verdrängen. Der weiße Volvo-Kühllaster mit der braunen Aufschrift einer slowakischen Geflügelfirma – das Y im Logo zu einem Huhn stilisiert – wird eines der ikonischen Fotos dieses Sommers. Bundespräsident Heinz Fischer hält beim Mittagessen mit den Regierungschefs und Ministern des Westbalkan-Gipfels eine Schweigeminute ab. Alle sind sich einig: So kann es nicht weitergehen.

       Die Korridorlösung

      Der Vorplatz unter der Neorenaissancefassade des Keleti-Bahnhofs in Budapest quillt inzwischen über. Die steinernen Statuen von James Watt und George Stephenson, den Erfindern der Dampfmaschine und der Dampflok, blicken mittlerweile auf Tausende Flüchtlinge herab, die alle nach Deutschland wollen. Und das rufen sie auch immer wieder, unter rhythmischem Geklatsche. Die Polizei riegelt den Bahnhof ab. Journalisten aus aller Welt haben sich eingefunden. Sie berichten von beschämenden Zuständen. Vom ungarischen Staat haben die Flüchtlinge nichts zu erwarten, kein Wasser und auch kein Essen. Sie sind auf private Hilfe angewiesen. Die ungarische Regierung steht wieder einmal am Pranger. Der mediale Druck ist enorm. Am 31. August zieht sich die Polizei auf einmal zurück. Hunderte stürmen die Züge. An diesem Montag werden am Ende 3650 Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof ankommen. Nur sechs stellen einen Asylantrag. Der Rest reist in Zügen weiter Richtung Deutschland.

      Merkel nimmt Kontakt zu Orbán auf und versucht, den Dublin-Tweet des Bundesamts für Migration vergessen zu machen. Sie spricht öffentlich von einem „Missverständnis“, das sich sicher schnell ausräumen lasse: Die Dublin-Verordnung gelte weiterhin in ganz Europa. Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner schlägt in die gleiche Kerbe. Dublin ersatzlos zu streichen, komme nicht infrage. Explizit fordert sie eine neuerliche Klarstellung von Deutschland. Berlin reagiert gereizt auf diese Empfehlung. Im ORF-Sommergespräch mit Hans Bürger im Ringturm über den Dächern Wiens verpasst Werner Faymann dem ungarischen Premier einen heftigen Seitenhieb. „Dass die in Budapest einfach einsteigen und man schaut, dass die zum Nachbarn fahren – das ist doch keine Politik.“ Ungarns Ministerpräsident müsse für Kontrollen und für die Einhaltung der Gesetze sorgen. „Wo ist denn da der starke Regierungschef, der immer auffällt durch besonders undemokratische Maßnahmen?“

      Auch Faymann pocht auf die Dublin-Regeln, auf Fingerabdrücke und die Registrierung von Flüchtlingen. Doch agiert Österreich anders? All das sagt der Kanzler eines Landes, das am 31. August die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge selbst einfach nur weitergewinkt hat zum deutschen Nachbarn. Dem an sich besonnenen CDU-Vorsitzenden im Europaausschuss des Bundestags, Gunther Krichbaum, kommt die Galle hoch. Er fordert die EU-Kommission auf, Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Österreich zu prüfen. „Es ist skandalös, dass Flüchtlinge nun ungeprüft und ohne Ausweiskontrolle nach Deutschland kommen“, sagt er. Doch auch in den kommenden Monaten wird Österreich so verfahren und keinen einzigen durchreisenden Migranten registrieren. Ungarn ist gar nicht erfreut über Faymanns Belehrung, die auch noch eine Tirade gegen Zäune, Mauern und Wachtürme in Europa beinhaltet. Es zitiert den Österreichischen Botschafter in Budapest, Ralph Scheide, ins Außenministerium. Während die Flüchtlingskrise ihrem Höhepunkt zutreibt, liegen die Nachbarbeziehungen am Boden. Das wird sich noch rächen. Orbán lässt den Keleti-Bahnhof jetzt wieder abriegeln. Die Deutschen und Österreicher wollen es ja nicht anders, sie haben sich ja beschwert über die Flüchtlingszüge. Der provisorische Zaun an der Grenze zu Serbien hält kaum jemanden auf. Immer mehr strömen nach Budapest. Die Stimmung ist aufgeheizt. Der Budapester Ostbahnhof wird zur Bühne, in der sich die Geschichte unter den Kameras internationaler Fernsehstationen wie unter einem Brennglas verdichtet.

      Gerry Foitik, den Bundesrettungskommandanten des Roten Kreuzes, erinnert die Szenerie an 1989. Damals hatte seine Organisation geholfen, DDR-Flüchtlinge aus der deutschen Botschaft in einer Nacht- und Nebelaktion nach Westdeutschland zu führen. Ähnliches schlägt er nun im österreichischen Innenministerium vor. Warum holen wir die Flüchtlinge nicht einfach ab? Ein Beamter winkt sofort ab. „Dann kommen Sie wegen Schlepperei ins Gefängnis.“ In Wien haben Facebook-Aktivisten, angefeuert von Robert Misik, dem späteren Biografen von Faymanns Nachfolger Christian Kern, eine ähnliche Idee. „Konvoi Budapest Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ nennen sie ihre Initiative. Sie wollen Schutzsuchende mit Privatautos aus Ungarn abholen. Am Sonntag, dem 6. September, um 11 Uhr soll auf dem Parkplatz des Praterstadions die erste Wagenkolonne starten. Ein paar fahren schon früher los. Sie werden am Donnerstag verhaftet. Wegen Schlepperei.

      Auf Regierungsebene ist niemand daran interessiert, einen Korridor zu errichten. Das ist keine Option, weder für Österreich noch für Deutschland. Die Angst vor einer Sogwirkung, vor einem endgültigen Zusammenbruch des Dublin-Systems, ist zu groß. Und Orbán will unter allen Umständen verhindern, dass sich die Krise im Herzen der ungarischen Hauptstadt institutionalisiert. Ein Korridor zöge noch mehr Flüchtlinge an. Er aber will sie raus haben aus Budapest. Zu diesem Zeitpunkt drängen ihn Merkel und Juncker dazu, Hotspots für Flüchtlinge zu errichten, einen davon in Budapest. Im Gegenzug sollen sie von Ungarn aus in der EU verteilt werden. Doch das ist für Ungarn ein absolutes No-Go. Es sträubt sich gegen große Flüchtlingslager. Die Kapazität der Zentren übersteigt nie 200 Personen. Orbán plant acht bis neun kleinere Asylzentren, um die Flüchtlinge auf jeden Fall aus Budapest wegzubringen.

      Am 3. September endet ein solcher Versuch in einem Riesenskandal. Unter dem Vorwand, dass die Reise nach München gehe, locken die ungarischen Behörden Flüchtlinge am Keleti-Bahnhof in einen Zug, dessen Sonderlokomotive noch dazu mit Grafiken verziert ist, die an das paneuropäische Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze vor dem Fall der Mauer 1989 erinnern. Die Menschen kaufen Fahrkarten, stürmen die Waggons, reichen Kinder durch die Fenster. Doch der Zug hält 35 Kilometer außerhalb von Budapest im Flüchtlingslager Bicske, dort wirft sich ein verzweifelter syrischer Mann mit seiner Frau und einem Baby auf die Gleise. Das Foto geht um die Welt, meist versehen mit einem falschen Bildtext, in dem ungarischen Polizisten unterstellt wird, Gewalt anzuwenden.

      Orbán ist in diesem Tag in Brüssel. Er versucht Zwangsquoten und Hotspots abzuwehren. Mittlerweile ist publik geworden, dass Juncker und Merkel zusätzlich 120 000 Flüchtlinge verteilen wollen. Der Druck auf Orbán ist groß. Artig verspricht er, Migranten zu registrieren, wenn Merkel das wünsche. Obwohl das gar nicht mehr möglich ist. Seit Tagen verweigern Flüchtlinge jegliche Kooperation mit den Ungarn. Dann provoziert Orbán wieder. „Das ist kein europäisches Problem, das ist ein deutsches Problem“, sagt er in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. „Niemand will in Ungarn bleiben und auch nicht nach Slowenien, Polen oder Estland. Alle wollen nach Deutschland.“ Die Regierung in Berlin habe mit unklaren Aussagen Menschen aus Syrien an den „gedeckten Tisch eingeladen“, ergänzt sein Stabschef János Lázár.

      Die Ungarn treffen einen wunden Punkt: den BAMF-Tweet, den Merkel & Co. nun wieder verzweifelt ungeschehen machen wollen. Dublin gelte nach wie vor, wiederholen sie bei jeder Gelegenheit gebetsmühlenartig – und vergeblich. Normalerweise ist die deutsche Kanzlerin kaum zu provozieren, doch Orbáns Umschreibung des Flüchtlingsproblems lässt sie nicht unkommentiert: „Deutschland tut das, was moralisch und rechtlich geboten ist. Nicht mehr und nicht weniger.“ In diesen Stunden geht das Foto von Aylan Kurdi über die Nachrichtenkanäle: ein