Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon

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Название Kunst sehen und verstehen
Автор произведения Sibylle Zambon
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783990401583



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die einen überwältigenden Eindruck machen und den Betrachter vor Ehrfurcht erstarren lassen. Andere faszinieren, und man versucht herauszufinden weshalb.

      Fühlen Sie sich einfach einmal angesprochen! Die erste Reaktion beim Betrachten eines Kunstwerkes läuft bei den meisten Menschen auf die Beurteilung gefallen beziehungsweise nicht gefallen hinaus. Wir reagieren damit nicht anders, als wenn wir einen Menschen kennenlernen: Wir fällen eine spontane, mehr oder weniger bewusste Entscheidung: sympathisch – unsympathisch beziehungsweise gefallen – nicht gefallen. Wenn wir uns etwas näher mit einem Menschen auseinandersetzen, fragen wir uns, weshalb wir ihn sympathisch beziehungsweise unsympathisch finden. Genauso können Sie sich beim Kunstwerk fragen, weshalb es Ihnen gefällt oder nicht. Es genügt schon, wenn Sie die Entscheidung begründen: Dieses Bild gefällt mir, weil … Hier können Sie nun das Passende einsetzen, also etwa: … weil es in meinen Lieblingsfarben gemalt ist; weil es mich an … erinnert; weil ich auch gerne so malen würde; weil ich es einfach schön finde; weil es in mir ein Gefühl von … auslöst etc. Analog verfahren Sie bei Nicht-Gefallen: Dieses Bild gefällt mir nicht, weil … mir das Sujet nichts sagt; weil mir zu viel Farbe drauf ist; weil es mich abstößt, weil ich es langweilig finde etc. Sie haben damit Ihr Urteil des Gefallens beziehungsweise Nichtgefallens begründet und als ein Angesprochener auf die Mitteilung reagiert.

      Die Anekdote zum Thema: Über einen Besuch Aurelio Luinis in Tizians Atelier wird erzählt: „Er sah ein wunderbares Landschaftsbild, das Tizian im Hause hatte. Auf den ersten Blick hielt Aurelio es für eine Schmiererei. Nachdem er aber zurückgetreten war, schien es ihm, aus größerer Distanz, als ob ihm das Bild die Sonne leuchtete und die Straßen vor ihr nach allen Seiten zurückwichen.“23

      Wie bei Menschen kann es auch beim Kunstwerk sein, dass Sie nach näherem Kennenlernen Ihr erstes Urteil überdenken oder gar revidieren müssen. Dies kann geschehen, indem Sie es differenzieren. Vielleicht sticht Ihnen in einem Bild, das Ihnen grundsätzlich missfällt, doch noch etwas ins Auge, das Sie gelungen finden. Möglicherweise gefallen Ihnen die Farben, obwohl Sie die Figuren unschön finden, oder Sie finden ein Bild kitschig, aber technisch gut gemalt, oder Sie fühlen sich auf gut Deutsch „verarscht“, und trotzdem finden Sie die Idee des Künstlers originell, oder Sie würden ein bestimmtes Bild nie in Ihre Wohnung hängen, können es sich aber gut in einem öffentlichen Raum vorstellen. Allein aufgrund dieser persönlichen Annäherung findet eine Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk statt und Sie lernen schon einiges über das Werk.

      Diesem ersten persönlichen Schritt auf ein Bild zu kann nun ein sachlicher folgen, eingeleitet durch die Frage: Was sehe ich? Vielleicht fällt Ihnen – noch bevor Sie Einzelheiten betrachten – auf Anhieb ein vorherrschendes Bildthema auf. Dann benennen Sie es. Das können ein Blumenstrauß, eine Küchenszene, eine weiße Leinwand sein. Nun wenden Sie sich – wenn vorhanden – den übrigen Bestandteilen zu: der Umgebung des Blumenstraußes, dem Hintergrund oder den Nebenschauplätzen der Küchenszene. Danach können Sie ins Detail gehen. Es gibt Bilder, bei denen man sich in den Details verlieren kann, da erkennt man noch die Fliege auf der Birne, den Wasserbeschlag am kühlen Bierglas oder das einzelne Haar des Pelzbesatzes. Der genaue Blick kann Ihnen aber noch ganz andere Einzelheiten offenbaren. Treten Sie doch noch einen Schritt näher an das Bild – so nahe es die Sicherheitsvorkehrungen des Museums Ihnen erlauben – und schauen sich den Farbauftrag an, Sie werden staunen, was Sie da entdecken: Da sieht man ja die einzelnen Pinselstriche! Sind das überhaupt Pinselstriche oder hat der Maler da eine andere Technik verwendet? Da schaut noch die Leinwand zwischen der Farbe hervor! Oder: Dieses Grün ist ja eigentlich ein Schwarz-Blau! Nachdem Sie sich auf diese Weise eine Übersicht verschafft haben, werfen Sie nun einen Blick auf die Begleittafel. Sie liefert Ihnen sachdienliche Hinweise, wie den Namen des Künstlers, Titel, Technik, Jahr und eventuell Herkunft des Bildes. Bei Reproduktionen in Büchern ist zudem unbedingt die Formatangabe zu beachten.

      Die Anekdote zum Thema: Der englische Maler Joshua Reynolds bemerkte voller Bitterkeit, dass britische Reisende, anstatt sich der Schönheit der berühmten Werke zu widmen, nur das Thema wissen wollen, den Namen des Malers, die Geschichte der Skulptur und wo sie gefunden wurde, und dieses dann aufschrieben. „Manche Engländer kamen in den Vatikan, als ich dort war, verbrachten sechs Stunden damit, das aufzuschreiben, was der Reiseführer ihnen diktierte. Sie schauten die ganze Zeit so gut wie nie auf die Bilder.“24

       Sie sind gefragt:

      Wie gehen Sie mit dem Bild auf der rechten Seite um? Hier die Hilfestellungen:

      1 Gefallen/​Nichtgefallen

      2 Begründen

      3 Differenzieren

      4 Hauptthema

      5 Details/​genauer Blick

      6 Begleittafel

      Antwort: Nachdem Sie die ersten drei Punkte individuell für sich beantwortet haben, setzen wir unsere Betrachtung mit dem Bildthema fort. Hauptgegenstand ist zweifellos ein Paar. Als weitere Bestandteile erkennt man einen Innenraum, der offenbar ein Schlafzimmer ist, denn auf der rechten Bildseite befindet sich ein Himmelbett ganz in Rot. Im Bildhintergrund steht eine Liege oder eine ebenfalls mit roten Kissen bedeckte Bank. Von der Decke herab ragt ein mehrarmiger Leuchter. Zwischen dem Paar an der Wand im Hintergrund hängt ein runder Spiegel. Auf der linken Bildseite befindet sich ein geöffnetes Fenster. Auf dem Fußboden vor dem Paar steht ein kleiner Hund. Außerdem fallen zwei Paar Schuhe auf, die einen gut sichtbar in der unteren Bildecke, links des Mannes, die anderen von dominanter roter Farbe, etwas im Hintergrund, zwischen dem Paar vor dem Liegebett. Wir stellen fest, dass die Farben Grün, Rot und Braun dominieren und die Szene sehr genau und detailgetreu gemalt ist. Des Weiteren ersehen wir aus der Kleidung des Paares und der Einrichtung des Raumes, dass es sich um eine ältere Darstellung handelt. Je nachdem, wie gut sich jemand in Kostümkunde und Interieurs auskennt, lässt sich sogar das Jahrhundert bestimmen. Die pelzbesetzten Gewänder der Dargestellten, die kunstvolle Fältelung am Kleid der Frau sowie ihre spitzenbesetzte Haube lassen zudem auf begüterte Verhältnisse schließen. Die Einrichtung des Raumes bestätigt diesen Eindruck. Geht man nun ins Detail, erkennt man, dass auf dem Leuchter eine einzige Kerze steckt, die angezündet ist. Zudem wird die ganze Szene vom Spiegel wiedergegeben. Über dem Spiegel ist in verschnörkelten Buchstaben eine Inschrift an die Wand gemalt. Scharfe Augen vermögen die Worte „Johannes de Eyck fuit hic“ (Johannes van Eyck war hier) zu entziffern.

      Abb. 13:

      Wenn Sie dieses Bild im Original an seinem Stammplatz in der National Gallery in London oder als Abbildung in einem Buch sehen, erhalten Sie noch die folgenden Angaben mitgeliefert: >

      Künstler: Jan van Eyck Titel: Die Arnolfini-Hochzeit Datierung: 1434

      Technik: Öl auf Holz

      Größe: 82 x 60 cm

       Standort:

      National Gallery, London

      Was Sie vielleicht schon vermuteten, erschließt sich nun aus der Bildlegende: Es handelt sich um die Darstellung eines Hochzeitspaares, dem Namen nach eines italienischen. Tatsächlich ist es der Spross einer Kaufmanns- und Bankiersfamilie, Giovanni Arnolfini, mit seiner Braut Giovanna Cenami. Vielleicht tippten Sie sogar bei der Datierung ins 15. Jahrhundert richtig. (Hier soll man ruhig auch Spaß am Spiel haben!) Der Name des Künstlers schließlich verweist auf eine nördliche Herkunft, im Falle van Eycks auf das flämische Brügge. Der Maler ist kaum erkennbar im Spiegel zwischen den Eheleuten abgebildet. Was wir aber aus einer Reproduktion nicht erschließen können, ist die Größe eines Bildes. Mit den genannten Maßen von nicht einmal einem Meter Höhe und einer Breite von etwas über einem halben Meter ist das Bild möglicherweise kleiner beziehungsweise