Erdenkinder. Günter Neuwirth

Читать онлайн.
Название Erdenkinder
Автор произведения Günter Neuwirth
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783990400340



Скачать книгу

      „Und du bist also ein echter Manager?“

      Robert wog den Autoschüssel in der Hand. Die Aussicht, jetzt wieder eine monotone Autofahrt anzutreten, wirkte nicht sehr motivierend. Er hatte schon so viele Autofahrten hinter sich, natürlich, als Angestellter in einem hochmodernen Softwareunternehmen hatte man auch hochmobil zu sein. Egal ob mit dem Auto oder dem Flugzeug, Distanzen hatten keine Rolle zu spielen, schließlich arbeitete man auf internationalem Niveau, auf dem europäischen Markt. Und lange Zeit hatte er auch fabelhaft mit seinen Kollegen über Vor- oder Nachteile dieses oder jenes Autos stundenlang diskutieren können, doch zuletzt waren solche Gespräche für ihn immer uninteressanter geworden, banaler, sich immerzu auf der Stelle um Nichtigkeiten drehend. Und nach Jahren hatte er endlich sein lange angestrebtes Ziel erreicht und nannte nach einigen Citroens und VWs endlich einen Audi sein eigen, aber jetzt, da er dieses Fahrzeug besaß und damit auch wieder nur tausende Kilometer auf dem Weg in die Rente abspulte, erschien ihm dieser sehnliche und ihn zu fleißiger Arbeit motivierende Wunsch hohl, banal, nichtig.

      „Projektmanager, um genau zu sein. Ich bin im technischen Projektmanagement tätig.“

      Meinrad musterte Robert eingehend, er hatte ihn mit kontinuierlich steigendem Amüsement die ganze Zeit über genau beobachtet. Der Mann wirkte wie ein Schauspieler, dachte Meinrad, durchaus gutaussehend, aber offensichtlich nicht besonders talentiert. Man konnte Roberts schauspielerische Darbietung kaum von den Kulissen unterscheiden, ein Anzug, ein Mobiltelefon, ein rasiertes Kinn, ein schickes Auto. Und was sonst? Meinrad spürte einen Kitzel, hinter die schauspielerische Maskerade und die Kulissen zu blicken. Was dachte so ein Managertyp?

      „Ich wollte auch mal unbedingt Manager werden. So vor zwei Jahren war ich total fixiert darauf. Du siehst ja, wie ich aufgewachsen bin. Seit über fünfzehn Jahren geht das schon mit meinen Eltern so. Zuerst der Selbstversorgerbauernhof, wo wir fast verhungert wären, danach diese oder jene Ökokommune, jetzt die Erdenkinder. Meine Eltern sind ziemlich stur, was die Ablehnung der Zivilisation betrifft, dabei waren sie mal voll drinnen im System. Meine Mutter war Mathematiklehrerin auf einem Gymnasium und mein Vater hat Informatik studiert und war eine Zeitlang Programmierer. Dann sind sie ausgestiegen und ich natürlich mit, war ja noch ein Kind. Und so mit fünfzehn hab ich meine Rebellenphase gehabt. Pubertät halt. Bio? So ein Blödsinn! Selbstversorgung? Das machen nur Trottel und Versager! Leben im Einklang mit der Natur? Scheißdreck! Beton, Aluminium und Plastik gehören viel intensiver genutzt! Ich habe Zeugnisse gefälscht und mich bei diversen Firmen um einen Posten beworben. Da hättest du mich sehen sollen. Saubere Fingernägel, pikobello geschnittenes Haar, ein Anzug mit Krawatte, alles war so, wie ich es in den Wirtschaftszeitschriften gesehen habe.“

      Robert ließ sich vom Gelächter des jungen Mannes anstecken und lauschte seiner Erzählung durchaus interessiert.

      „Ich will Manager werden, will eine todschicke Armbanduhr und einen Laptop, habe ich meinen Eltern gesagt. Sie haben zwar gemeckert, mir aber trotzdem so viel Geld vorgeschossen, dass ich einen Anzug kaufen und ein kleines Zimmer in Linz mieten konnte. Tatsächlich habe ich einen Job in einer großen Druckerei gekriegt. Die erste Woche war total toll. Habe jeden Tag vier Tassen Kaffee getrunken, habe täglich zwei, drei Überstunden gemacht, habe alle Arbeiten im Blitztempo erledigt. Mein Vorgesetzter hat mich sogar schon zu bremsen versucht, aber keine Chance, schließlich habe ich mir ja ausgerechnet gehabt, nach vier oder fünf Wochen in der Firma ein Manager zu sein. Aber nach zwei Wochen habe ich mir gedacht, dass mein Chef draufgekommen ist, dass ich in Ökokommunen aufgewachsen bin, und dass er mir deshalb die blödesten, langweiligsten und sinnlosesten Arbeiten zuschanzt. Nach drei Wochen habe ich bemerkt, dass das gar nicht wahr ist, sondern, dass alle in der Firma so blöde, langweilige und sinnlose Arbeiten verrichten. Und als ich dann verstanden habe, dass ich die nächsten vierzig Jahre so blöde, langweilige und sinnlose Arbeiten verrichten muss, habe ich gekündigt, meinen Eltern das ausgeborgte Geld zurückgegeben und bin dann zwei Monate mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Das war lässig, das hat Spaß gemacht. Die zwei Monate waren eine total gute Zeit.“

      „Du hast Zeugnisse gefälscht? Wieso denn das?“, fragte Robert mit hochgezogenen Augenbrauen.

      „Ich habe ja keine richtigen Schulzeugnisse. Ich habe die Pflichtschulreife. Wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, habe ich immer die nötigen Prüfungen gemacht, aber unterrichtet wurde ich von meinen Eltern und anderen in der Kommune, vor allem von Gebhardt. Du kannst mir glauben, meine Mutter hat ja Mathe studiert, die behördlichen Prüfungen zum Nachweis meines Bildungsfortschrittes waren für mich ein Klacks. Für alle Kinder in der Kommune sind diese Prüfungen höchstens Aufwärmübungen. In der Schule lernt man ja in Wahrheit nicht Mathe oder Geschichte oder Englisch, sondern man lernt zu gehorchen, still zu sitzen, keine Fragen zu stellen, man lernt ein Affe im System zu sein. Ich habe in einem Baumhaus mit den Kumpels Wurzelziehen gelernt und bei der Arbeit im Gemüsegarten hat mir Senta die Geschichte der griechischen Antike erzählt. Ich weiß bis heute noch jede Einzelheit. Wer war der Begründer der systematischen Naturwissenschaften? Hm, weißt du das noch aus deiner Schulzeit?“

      Robert dachte nach und schüttelte verneinend den Kopf.

      „Aristoteles. Obwohl der ja eigentlich ein Philosoph war. Aber in der Antike gab es diese Differenzierung der Wissenschaften nicht so wie heute. Verstehst du, solche Dinge werde ich mir bis an mein Lebensende merken.“

      Robert blickte auf seine Armbanduhr. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu, es wurde Zeit aufzubrechen, denn er hatte noch zwei Stunden im Auto vor sich. Und morgen wartete ein weiterer Tag im Büro, schließlich musste er die Themen des heutigen Workshops dokumentieren.

      „Du stehst auf Angelika, nicht wahr?“

      Die Frage traf Robert wie ein Faustschlag.

      „Äh, wie kommst du da drauf?“, entgegnete er verdattert.

      „Na ja, das war schwerlich zu übersehen. Kein Stress, ist eh nicht peinlich. Alle stehen auf Angelika, sie ist die fescheste Frau von hier bis nach Kentucky und retour.“

      Meinrad trat ganz nahe an Robert heran und flüsterte verschwörerisch.

      „Willst du sie nackt sehen?“

      Robert trat unangenehm berührt einen Schritt nach hinten, fort von diesem merkwürdigen Jugendlichen. Meinrad nickte geheimnisvoll in Richtung Wald.

      „Schau mal, Angelika, Sabine und Estelle gehen zum Bach. Wir haben da hinten im Wald unser Badezimmer. Open Air natürlich, bei uns ist fast alles Open Air. Die drei gehen oft gemeinsam zum Baden. Ich habe mir schon vor längerer Zeit ein Versteck in einem Baum eingerichtet. Super Blick auf den Badeplatz. Früher bin ich oft mit Severin dort gewesen. Zum Onanieren. Keiner außer Severin weiß davon. Absolut diskret.“

      Robert sah, wie drei junge Frauen im Wald verschwanden, eine von ihnen erkannte er selbst aus der Ferne an den fließenden Bewegungen und an ihrer Kleidung als Angelika. Eine überwältigende Begierde brach in Robert hervor, eine jede rationale Erwägung und verkorkste Scham hinwegschwemmende Flut. Er kämpfte dagegen an, er sträubte sich, er fühlte sich blamiert vor diesem siebzehnjährigen Burschen, doch die Aussicht, diese Göttin beim Baden beobachten zu können, rang alle Hindernisse nieder. Er starrte Meinrad an. Dieser feixte Robert an.

      „Dann los. Wir müssen vorsichtig sein, damit uns niemand sieht. Folge mir.“ Die beiden huschten ins Dickicht. Robert mühte sich, an Meinrad dranzubleiben. Wie unpassend er gekleidet war, ein Businessanzug und schwarze Lederschuhe passten einfach nicht zu einem Lauf durch den Wald. Sie schlugen einige Haken, vergewisserten sich, dass ihnen niemand folgte und sie auch von niemandem gesehen wurden. Schließlich kamen sie in ein lichtes Waldstück mit alten, wuchtigen Rotbuchen.

      „Da müssen wir hinauf.“

      Meinrad kletterte behände auf die unteren Äste des Baumes und ließ ein Seil hinab.

      „Mit dem Seil schaffst du das bestimmt. Wir müssen hoch hinauf.“ Robert trat von einem Bein auf das andere. Sollte er da wirklich auf einen Baum hinaufklettern, um drei junge Frauen wie ein perverser Spanner zu begaffen?