Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger

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Название Streben nach der Erkenntnis
Автор произведения Klaus Eulenberger
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783957449665



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um sie zu trösten, wieder aufzubauen und ihnen gar eine Abfindung zu geben. Ich verneige mich tiiiiief vor einer solchen Haltung!

      Mein Vater hatte eine Einstellung in den Bleierzgruben Albert Funk Freiberg gefunden und die Abteilung Einkauf übernommen. Allerdings war nun für ihn folgendes Problem zu lösen: Wie komme ich möglichst schnell und ohne Umsteigen und Wartezeiten dorthin? Er kaufte sich ein kleines Motorrad mit 125 Kubikzentimeter Hubraum – eine ILO. Diese kleine Knatterkiste hatte hinter dem Fahrersitz nur einen kleinen Metallgepäckträger. Vater hatte sicherlich nicht die große Erfahrung mit Kraftfahrzeugen, auch wenn er dies immer wieder betonte. So erzählte er uns, dass er während des Krieges einen hochrangigen Nazioffizier mit einem PKW chauffieren musste. Als er ihn einmal zu einer Beratung an einem kleinen Wäldchen gefahren hatte, passierte ihm ein ziemliches Missgeschick. Der Offizier ging zu seiner Beratung. In der Zwischenzeit spürte Vater Blasendruck und stellte sich dazu an einen Baum. Plötzlich kam sein Kommandeur zurück mit dem schnoddrigen Befehl: „Eulenberger, fahren Sie retour!“ Vater suchte krampfhaft den Zündschlüssel, fand ihn weder in Hose noch Jacke. Der Offizier schnarrte: „Na, was ist denn los, Eulenberger? Aber nun, hopp!“ Vater wurde immer nervöser und erinnerte sich daran, dass er an dem Baum viel Flüssigkeit verloren hatte. Vielleicht ist da der Schlüssel herausgerutscht, dachte er sich, wahnsinnig nervös und inzwischen mit zittrigen Händen. Er kniete sich hin (während der Rückfahrt stellte er fest, dass seine Hosen an den Knien arg durchgeweicht waren) und suchte krampfhaft auf dem durch die gelbe Flüssigkeit durchweichtem Boden nach dem Schlüssel, was ihm dann auch mit mehreren Verletzung durch Tannennadeln, die ihm in die Fingerkuppen und Fingerballen eingedrungen waren, gelang. Dass sein General zwischendurch weiter knarrende Befehle gab, musste er ganz einfach verkraften. Endlich saß er wieder im Auto und wurde mit der folgenden, unwilligen Anbrüllrede konfrontiert: „Das passiert mir nicht noch einmal! In Zukunft muss das schneller gehen! Sie sind ja so langsam wie eine Schnecke – da ist ja längst der Feind da! Was riecht hier denn so komisch, fast so süßlich wie Pisse? Ist ja auch egal, ich zünde mir halt eine Zigarette an!“

      Mit seiner ILO kam Vater scheinbar recht gut zurecht, allerdings schrammte er einmal – Gott sei Dank! – knapp an seinem Ende vorbei. Er kam zügig, vom Unterdorf her, angefahren, vorbei am Dorfteich links und dann rechts an der Gaststätte Leistner. Nun brauchte er nur noch den schmalen Weg mit steilem Anstieg zu unserem neuen Haus hochfahren. Schlagartig kam ein Traktor mit Hänger vom Sportplatz heruntergefahren und querte seinen Weg. Vater wollte das Gas wegnehmen aber – um Himmels willen, um Himmels willen! – er gab Gas und seine ohnehin schon schnelle ILO jagte auf den Traktor zu. Gedankenschnell fuhr er mit Schenkeldruck nach links, dann nach rechts, am Traktor vorbei, und raste den Anstieg hoch. Oben bremste er stark und stand. Sicher war er sich der Gefahr bewusst, denn er pumpte aufgeregt Luft und es dauerte ein Weilchen, bis er ruhiger wurde. Dann aber, typisch Vater, kam sein ständiger Optimismus und seine Lebensfreude sofort schlagartig wieder in ihm hoch, er lachte schallend, stieg ab und ging zügig zu dem Traktorfahrer hinunter, welcher ihn mit ernstem Gesicht erwartete. „Herbert – das war fast dein Exitus! Wie konntest du nur? Hast du mich zu spät gesehen? Für mich hast du ja noch einmal enorm Gas gegeben, als du mein Fahrzeug sahst, wiiiie das?“ Er war aschfahl im Gesicht, seine Hand zitterte, als er sie meinem Vater gab. Mit strahlendem Gesicht gab Vater ihm zur Kenntnis, dabei feixte er noch laut: „Weißt du, Arthur, das ist mein neuer Fahrstil! Sprunghaft und zügig an Gegnern vorbei und hoch zu der 78 (das war unsere Hausnummer). Du siehst doch, wie souverän mir das gelungen ist.“ Dann unterhielten sich beide in Ruhe und Vater erzählte: „Kannst du dir vorstellen, dass ich den Gänsehals aufdrehte, anstatt ihn zuzudrehen.“ Mein Vater war immer lustig, fast immer, sprach gern von Gänsehals und auf- und zudrehen, anstatt vom Gasdrehgriff zu sprechen. „Ich wollte also den Gänsehals von mir wegdrehen, also nach vorn drehen, d. h. Gas wegnehmen, und nicht zu mir drehen und damit Gas geben, Arthur. Glaub mir, auch ich war zu Tode erschrocken.“ Arthur gab ihm noch ein paar Ratschläge, in Zukunft etwas bedächtiger unterwegs zu sein. Vater versprach es.

      Nun wohnten wir also nicht mehr auf dem Bauerngut, sondern in einem nicht sehr großen Mietshaus. Wir hatten eine Wohnung im Erdgeschoss, was meinen Eltern überhaupt nicht behagte. Auf meine Frage gaben sie an, lieber im, ihrer Meinung nach, vornehmen ersten Stock, logieren zu wollen. Prompt ergab sich auch später – als wir nach Freiberg zogen: In der ersten und zweiten Wohnung wohnten wir auch dort – natürlich! Ich meine – im Erdgeschoss. Vom Hausflur aus trat man rechts in unsere Küche, von der ging es weiter in die Stube und von da in die Schlafstube. Bad war nicht vorhanden, die Toilette (Plumpsklo) war draußen vom Flur aus zugänglich. Der Hausbesitzer und unser Vermieter, Herr Schnatterer, war ein älterer Mann, den ich nie einmal lachen sah. Er trug eine starke Brille und hinter der blickte er immer sehr bösartig in die Welt, flößte mir große Angst ein. Nie sagte er ein freundliches Wort zu mir und ich war immer froh, wenn ich ihn überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Sein Charakter zeigte sich, wenn auf dem Huckelfußballfeld nebenan ein Spiel lief. Wie gesagt, dieses Spielfeld lag gleich neben einem kleinen Garten hinter unserem Haus und streckte sich von da ab längs hin, d. h., gleich hinter unserem Garten war eines der beiden Fußballtore – und dies war ein Drama und eine Tragödie, vor allem natürlich für Herrn Schnatterer. Natürlich wurde viel auf dieses Tor geschossen, wie das halt so in dieser Sportart üblich ist. Zum Schutz von Haus und Garten war ein riesiges Stahlnetz hinter dem Fußballtor aufgebaut, welches aber genauso viele freie Stellen wie intaktes Stahlnetz besaß. Infolgedessen landete der Ball häufig im Garten, mitunter knallte er auch an die Hausfassade. Lautes Schimpfen und Fluchen, danach polterndes, eiliges Hinabrennen auf der Holztreppe vom ersten Stock in das Parterre – Schnatterer rückte wutschnaubend an. Er rannte in den Garten und mit wilden Flüchen gegen die Sportler nahm er den Ball auf und verschwand im Schuppen. Meist kamen danach ein, zwei Spieler, um den Ball wieder einzufordern. Ohne ein Riesengeschrei ging dies nicht ab und meist zogen sie auch wieder ohne Ball ab. Was das in dieser Zeit nach dem Krieg, wo es kaum etwas gab, bedeutete, ist sicher klar. Auf alle Fälle war diese Streiterei recht unangenehm für uns und meist ging ich raus (manchmal ging auch Vater mit) auf den Fußballplatz, um dem Geschehen beizuwohnen. So war ich nur von dort aus Zeuge von Schnatterers Entrüstungsanfällen und seiner Kleptomanie. Das Schlimmste, was einmal passierte, war, dass ein Ball, der in den Himmel ging, an ein Fenster im ersten Stock flog – Glas splitterte. Ich war dieses Mal nicht auf dem Fußballfeld und stürmte hinaus, um meine Neugier zu befriedigen. Herr Schnatterer holte den Ball, rannte in den Schuppen, nahm ein riesenlanges, spitzes Messer und stach damit einfach hinein. Dort, wo er hineinstechen wollte, war aber das Leder noch einigermaßen dick und intakt. Die Schneide rutschte ab und stach in seinen Zeigefinger – das Blut tropfte beträchtlich. Plötzlich kamen drei Spieler und sahen das Dilemma. „Herr Schnatterer, sind Sie verrückt? Das ist unser letzter Ball. Sie haben kein Recht dazu!“ Schnatterer kam, durch seine Verletzung wahrscheinlich noch mehr, in Rage und brüllte wie ein Vieh: „Und ob ich das kann! Dies ist mein Privatgrundstück und ihr habt kein Recht, mein Fenster zu zerstören. Ich werde euch verklagen und jetzt verschwindet von meinem Grundstück!“ In erneuter Entrüstung nahm er wiederum das Messer und stach an einer anderen Stelle hinein. Diesmal glückte sein Vorhaben. Zischend ging die Luft heraus. Die Spieler schauten empört und rachsüchtig. „Das werden Sie bereuen! Da brauchen wir auch nicht ihr Fenster reparieren lassen, wenn sie unser Eigentum kaputt machen.“ Kopfschüttelnd und schimpfend gingen die drei wieder auf den Fußballplatz.

      Es war aber keinesfalls so, dass es keine Steigerung mehr gab. Sonntag zehn Uhr – wunderschönes Wetter, mild und Sonnenschein. Angesetzt war das Spiel Rotation Freiberg gegen FSV Hainichen. Mein Freund Günther und ich sind pünktlich zur Stelle und setzen uns bequem auf die oberste Wölbung der Böschung. Alles läuft gut für die Heimmannschaft. Der Rechtsaußen will wahrscheinlich eine Flanke hereingeben, es wird aber mehr ein Torschuss, welcher über den Torwart hinweg ins Dreiangel geht und sich am Ende stark senkt. Wir sind begeistert und pfeifen um die Wette. Günther hat es drauf, mit einem gekrümmten Zeigefinger zu pfeifen. Ich benötige dafür vier Finger, habe aber vielmehr Dampf bei meiner Pfeiferei, d. h. es ist schriller und deftiger, was ich zustande bringe. Unsere Abwehr lässt von der Mitte des Feldes einen Befreiungsschlag los, welcher weit über das Tor geht und prompt eine Kluft im Stahlnetz findet. Sofort tritt der Hausbesitzer auf den Plan, hält beide Handinnenflächen an den Mund, um seiner donnernden Schimpfkanonade mehr Nachdruck zu verleihen.