Etwas Russland. Gerd Heinecke

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Название Etwas Russland
Автор произведения Gerd Heinecke
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783961455928



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mühte sich ein Wolgafahrer mehrmals vergebens, die Kofferraumklappe zu schließen. Immer wieder sprang sie widerborstig und selbständig auf. Die russischen Dolmetscher machten uns darauf aufmerksam, während sie sich erheiterten. Sie kannten das Problem. Das käme hier öfters vor, dass manche Käufer ihr neues Fahrzeug direkt im Herstellerwerk abholen, die mitunter tausende Kilometer dafür anreisen und schon nach wenigen Metern Fahrbetrieb sich mit einer nicht schließenden Kofferraumklappe herumschlagen müssen. Ironisch meinten sie: „Das ist russische Wertarbeit.“ Das Werk hatte eine Außengrenze von mehr als einem Kilometer im Quadrat. Das erste Know-how stammte aus den USA von Henry Ford. 1929 errichtete er wesentliche Produktionsanlagen. Die Häuser für sein Baustellenpersonal, ebenfalls 1929 errichtet, waren 1993 immer noch gutaussehende und gefragte Wohnungen. Als Technik- und Autointeressierte äußerten wir einen Besichtigungswunsch, welcher auch genehmigt wurde. Im Werk erfolgte nicht nur die Endmontage der Fahrzeuge. Alle Teile, die ein Fahrzeug braucht, wurden ebenfalls innerhalb des Werkes gefertigt. Eine Zulieferung der Teile über das öffentliche Straßennetz war überflüssig, ausgenommen Material. Allerdings hatten wir gerade Pech, um die Anlagen in Produktion zu sehen. Innerhalb der Fertigungshallen drängte sich dicht an dicht eine Menschenschlange von ca. 50 – 60 Metern, um zu einem bestimmten geöffneten Fenster zu gelangen. Heute ist Zahltag, wurde uns mitgeteilt. An dem Schalter wurde gerade der Monatslohn ausgezahlt.

      Politisch bekannt war N.N. auch durch die Verbannung von Andree Sacharow. Er war der Vater der sogenannten Zar-Bombe, die größte Wasserstoffbombe, die jemals gezündet wurde. Nachdem bei ihm ein Umdenken einsetzte, wurde er in der Sowjetunion zum Bürgerrechtler und Regimegegner und deshalb in einer Wohnung mitten in N.N. Tag und Nacht bewacht. Diese wollte ich mir anschauen. Bei unserer Exkursion dorthin hatten wir das Glück eine Mitbewohnerin des Hauses zu sprechen, die ihn noch persönlich gekannt hatte und über die Bewachungspraktiken des KGB viel erzählen konnte.

      Zu erwähnen ist noch, dass zur Einweihungsfeier unserer Anlage im April 1993 kein geringerer als der zukünftige Ministerpräsidentschaftskandidat Boris Nemzow allen zur Fertigstellung gratulierte. Damals in seiner Eigenschaft als Gouverneur von der Oblast (Region) Nischni Nowgorod. Ein Politiker, der sich nie verbogen hatte und 22 Jahre später am 27 Februar 2015 unweit des Kremls durch 4 Schüsse ermordet wurde.

       PETROWKA

      Hatte ich doch selbst die Ursache in diesem Fall gesetzt, so konnte ich es bei anderen Unannehmlichkeiten weder beeinflussen, noch voraussehen. Am 8. März 1994, dem immer noch Heiligen Feiertag in Russland und in der Ukraine (Frauentag), trat ich meine Heimfahrt an. Ich wollte möglichst innerhalb der ersten Etappe noch über die polnische Grenze bis Przemysl kommen, um dort zu übernachten. Dass ich das an diesem Tag noch schaffen würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Diese Fahrt war mit genau 1.642 km die weiteste Etappe, die ich während meines Einsatzes in Russland an einem Tag je gefahren war. Ich kam von der Krim (Petrowka). Aufgrund des Feiertages zu dieser Tageszeit waren die Straßen autoleer. Es ging zügig voran. Nachdem ich 6 Uhr früh losfuhr, die Sonne zwischenzeitlich über den Horizont stieg und lange Schatten warf, kam mir ein Krankenwagen mit aufgesteckter Rotkreuzfahne und Alarmsignalen entgegen. Etwa gegen 7 Uhr fuhr ich am GAI von der Stadt Armiansk (genannt Inselwache, hier endet die Halbinsel) ohne kontrolliert zu werden vorbei. Ungefähr 6 km später standen am Straßenrand zwei Milizionäre, die offensichtlich einen herrenlosen PKW bewachten, der umgekippt auf der linken Seite ca. 20 Meter vom Straßenrand entfernt im Steppensand lag. Unerklärbar war mir, wie auf schnurgerader Straße so ein Unfall passieren konnte, zumal kein anderes beteiligtes Fahrzeug zu sehen war. Diesem Gedanken nachhängend, riss mich ein Polizeijeep, der sich urplötzlich quer vor mich auf die Fahrbahn stellte, aus meiner monotonen Fahrerei. Zwei Insassen sprangen aus den Beifahrertüren, von denen einer sich etwa 6 m vor meiner Frontscheibe aufstellte und der andere sich von links meinem inzwischen halb geöffneten Fahrerfenster näherte. Spätestens als beide ihre im Anschlag gehaltenen und auf mich gerichteten Kalaschnikows durchzogen und ich ihre schusssicheren Westen und Stahlhelme bemerkte, wusste ich, es ist Ernst. Meine beiden Hände legte ich auf den oberen Rand des Lenkrades. Während der eine von vorn mich anvisierte, murmelte der andere am Fenster ein knappes Dobri Den (Guten Tag). Nachdem dieser durch die Scheiben das Innere meines Kleinbusses inspizierte, wobei er an der Längsseite entlang ging und die Mündung seiner Kalaschnikow ständig auf das Businnere zeigte, stiegen sie beide in ihren Jeep und fuhren weiter in die Richtung, aus der ich gekommen war, davon. Nun fingen meine Überlegungen erst richtig an. Um zu erfahren, was das alles sollte, welche Zusammenhänge es gab zwischen Krankenwagen, Autounfall und diesem makabren Stopp, sollte ich noch etwa zwei Stunden warten müssen. Grübelnd fuhr ich weiter und musste nach fast 50 km nochmals fast die gleiche Kontrolle erleben. Ein Mann liegend im Straßengraben und ein zweiter kontrollierte. Gleiche Kleidung, gleiche Bewaffnung, gleicher Ernst. Wiederum 80 km weiter musste ich mich nochmals einer routinemäßigen GAI-Kontrolle unterziehen, zu der mich ein Milizionär bat, diese zwei neben ihm stehenden Soldaten doch etwa 60 km mitzunehmen. Da ich einwilligte, konnte ich nun erfahren, was im Raum Armiansk, also auf der Halbinsel Krim, passiert war. Zu dieser Aufklärung verhalf mir wiederum eine Milizkontrolle am GAI. Ich wurde gestoppt und nach meinen Dokumenten befragt. Doch bevor der Milizionär meine ihm hingereichten Papiere entgegennahm, fiel sein Blick auf die beiden mitfahrenden Soldaten in meinem Auto. Er ließ sofort ab von meiner Person und kontrollierte Ausgangsscheine und sonstige Papiere der beiden Soldaten. Nach dem dort alles in Ordnung war und wir weiter fuhren, fragte ich zielgerichtet die beiden, warum gerade sie so interessant sind für die Polizei. Sie gaben mir zu verstehen, dass heute früh gegen 7 Uhr in Armiansk zwei bewaffnete Soldaten mit Waffen und scharfer Munition desertiert seien. Und hatten, um an Geld, Zivilkleidung und möglichst zu einem Fahrzeug zu gelangen, das erstbeste Auto auf der Landstraße abschossen. Der Vorgang spielte sich exakt zehn Minuten vor meiner Durchfahrt an diesem Punkt ab. Mir fiel ein, dass ich früh zehn Minuten später als geplant erst gestartet war. Ein halbes Jahr später bei meiner erneuten Hinreise zur Baustelle erfuhr ich, dass die beiden Soldaten dann in Jalta, also im Süden der Krim, gestellt worden waren. Meine Richtung damals war zum Glück nicht die ihrige.

      Mit diesen Erfahrungen über das tolerante Verhalten gegenüber fremden Eigentums, fuhr ich einige Monate später zum bereits fertigstellten Fleischkombinat wieder auf die Krim. Jeder der eigene Erfahrungen in Russland oder der Ukraine hat weiß, dass es nicht ausreicht, irgendein Hotel für die Übernachtungen zu finden, um sich für die bevorstehende Fahrt am nächsten Tag zu regenerieren. Es ist genauso wichtig, dass das Fahrzeug über Nacht auf einem eingezäunten, beleuchteten und bewachten Parkplatz steht. So kommt es nicht selten vor, dass nach Erreichen seines Hotelzimmers man nach 22 oder 23 Uhr zwei bis drei Kilometer fahren musste, um sein Auto von der Straße weg in Sicherheit zu bringen. Die Einstellgebühren dort betragen zwischen 5 und 10 DM. Man muss angeben, wann das Auto am nächsten Morgen abgeholt wird. Nach dieser Reihenfolge werden diese geschichtet. Das abgeschlossene Fahrzeug wird in eine Parklücke geschoben und früh wieder herausgezogen, da die seitlichen Abstände zu den Nachbarfahrzeugen meist nur maximal 20 cm betragen. Nun braucht man ein Taxi, um zurück zum Hotel zu gelangen. Am nächsten Morgen die gleiche Prozedur in umgekehrter Richtung. Die Auswahl des Taxifahrers ist die Schwachstelle in der Sicherheit und ist genau zu prüfen. Es ist wichtig zu wissen mit wem man fährt. Sind mehrere Taxifahrer am Taxistand untereinander im Gespräch, übermittelt das ein gewisses Vertrauen. Nach einiger Zeit der Beobachtung kann man sich dann entscheiden. Gibt es keinen sicheren Verwahrungsort für das Auto, dann schläft man entsprechend unruhig, weil man stündlich aus dem Hotelfenster schaut, um sein geparktes Fahrzeug im Straßenlicht sehen und auf Unversehrtheit kontrollieren zu können.

      Das Problem hatte ich auf der Krim eigentlich nicht. Von der Montagezeit her, die bereits mehr als ein Jahr zurücklag, wusste ich, dass dort eine eigene Wohnung mit Garage auf mich wartete. Die Entfernung beider betrug untereinander zwar auch 1, 5 km, aber das nahm man der Sicherheit wegen gern in Kauf. An diesem 6. Mai 1994 wurde ich von unserem Kunden wie immer herzlich empfangen. Die russische aber auch die ukrainische Gastfreundschaft dürfte hinreichend bekannt sein und braucht man hier nicht näher zu erläutern. Es wird viel erzählt, es gibt viele Trinksprüche und natürlich immer dazu das russische Nationalgetränk. Wenn es genug ist mit den Promillen, gibt es kaum Mittel der Sache Einhalt zu gebieten und sich auszuklinken.