Interaktives Lehren an der Hochschule. Bernd Sommer

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Название Interaktives Lehren an der Hochschule
Автор произведения Bernd Sommer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783960082064



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und das Aufarbeiten der Stasi-Akten nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands in den Jahren nach 1989 brachten unter anderem die Erkenntnis zu Tage, daß mindesten zwei Stimmen aus der damaligen Opposition von der Staatssicherheit der damaligen DDR gekauft worden waren.

      Barzel scheiterte mit seinem Antrag wegen zwei Stimmen weniger als den erforderlichen 249 Stimmen.

      Es war das einzige Mal, daß während meiner Zeit im Gymnasium in der Schule Fernseher aufgebaut wurden, und die Schüler sämtlicher Altersstufen aufgerufen waren, diese aktuelle politische Entscheidung live am Bildschirm zu verfolgen. Dafür fielen sogar die laut Plan vorgesehenen Unterrichtsstunden aus.

      Zwei Lehrer aus dieser Zeit sollten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in meiner Persönlichkeitsbildung und meiner Lebensplanung einnehmen.

      Der eine, ein strenger, konservativen Werten anhängender Latein- und Geschichtslehrer, der seine Schüler, darunter auch mich, lebendige Geschichte fernab jeglicher Zahlenauswendig-Lernerei nahe brachte, dem es auch gelang, mich zu einem begeisterten Anhänger der lateinischen Sprache und römischen Kulturgeschichte zu formen.

      Herr P. besaß das unnachahmliche Talent, bei seinen Schülern ein echtes Interesse für das Alte Rom zu wecken, das er als Grundlage der abendländischen Kultur schlechthin betrachtete.

      Zudem war es Herrn P. in seinem Unterricht jederzeit ein besonderes Anliegen, ausgehend von Texten der lateinischen Literatur einen Bezug zu der aktuellen Bedeutung existentieller Themen oder gesellschaftlicher Probleme herzustellen.

      Ob es nun um geschichtliche Hintergründe, religiöse Grundlagen, politische Strömungen, kulturelle Errungenschaften, sportliche Ereignisse oder philosophische Fragestellungen ging, Herr P. diskutierte mit uns auch stets über aktuelle Entwicklungen.

      Latein war das Fach, was mir am meisten lag. Es war der Lehrer, keine Frage, der mich faszinierte, andererseits aber auch das Fach selbst, die Sprache Latein, die eine klare Struktur, einen logischen Aufbau besaß, zudem interessierten mich die Originaltexte von römischen Philosophen. So wählte ich, was zu dieser Zeit eher ungewöhnlich war, Latein zu meinem vierten Abiturfach, zu meinem mündlichen Prüfungsfach.

      In dieser mündlichen Abitur-Prüfung wollte Herr P. mich auf 15 Punkte, also auf eine glatte Eins, prüfen. Das war unausgesprochen, aber für mich deutlich spürbar. Ich war, und dies soll sich keineswegs überheblich anhören, der Primus in Latein. Wir waren zu sechst in diesem Kurs, ich schrieb mit die besten Klausuren und war mündlich sehr aktiv, was ich zu einem großen Teil der besonders intensiven Beziehung zu Herrn P. zu verdanken habe. Auch hier wird das Thema Beziehung zwischen Menschen deutlich sichtbar, was das Wecken von Interesse und das Lernen als solches angeht.

      Thema der Abitur-Prüfung, von mir vorgeschlagen, mit Herrn P. im Vorfeld abgesprochen, war Lucius Annaeus Seneca, seine Schriften sowie die philosophische Richtung der Stoa, die Max POHLENZ, seinerzeit Professor für Klassische Philologie an der Universität Göttingen, als geistige Bewegung umschrieben hatte9.

      In dieser Prüfung waren neben dem Prüfungsvorsitzenden, Herrn P., auch der zweite an der Schule tätige Latein-Lehrer, Herr T. als Beisitzer anwesend, sowie, als interessierte Gasthörer, Pastor Dr. A. und Frau Dr. H., die ich aus dem Deutsch-Unterricht kannte.

      Zudem gesellte sich eine Freundin von mir, Katharina, als Gasthörerin in die Prüfung. Sie wollte einmal den Ablauf einer mündlichen Abitur-Prüfung miterleben, sie war zwei Klassen unter mir. Zusätzlich wollte sie mir, auch wenn dies von ihr nicht ausgesprochen wurde, Mut machen und mir zur Seite stehen.

      Ich habe mich sehr intensiv auf diese Abschlußprüfung vorbereitet, wollte ich doch die Gelegenheit, die sich mir hier bot, nutzen, um Herrn P. etwas von dem zurückzugeben, was ich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlichen Latein-Unterrichtes bei und von ihm gelernt hatte.

      Aber nicht nur das. Ich wollte über den Weg einer möglichst gut verlaufenden Prüfung Herrn P. auch danken für die durchgängige Betreuung und die vielen gedanklichen Anstöße während meiner Schulzeit.

      Die Prüfung war ein wirkliches Erlebnis. Die Fragen zu beantworten, fiel mir leicht. Ich war gut vorbereitet, die Fragen luden mich zu einer intensiven Auseinandersetzung ein.

      Ausgehend von den konkreten Aufgabenstellungen im Rahmen der knapp bemessenen Zeit entwickelte sich eine interessante, kontrovers geführte, intellektuell anspruchsvolle Diskussion um bedeutsame Aspekte philosophischer Betrachtungsweisen, in die sich auch Pastor Dr. A. mit seinen umfassenden Kenntnissen aus der philosophischen und theologischen Ideengeschichte einschaltete. Diese Prüfung hätte aus meiner Sicht gern drei Stunden gehen können, war aber zeitlich, leider, auf eine halbe Stunde begrenzt.

      Ich hatte vor, während und nach dem Prüfungsgespräch ein ausgesprochen gutes Gefühl, was durch das Ergebnis von 15 Punkten, also einer glatten Eins, der Höchstnote, auch bestätigt wurde.

      Es ging mir hier keineswegs um die Note. Noten in Form von nackten Zahlen haben in meinem Schulleben für mich keine wirkliche Bedeutung gehabt. Wichtig war, daß ich das zeigen wollte, was ich gelernt und worüber ich mir im Vorfeld intensiv Gedanken gemacht hatte. Dieses Vorhaben gelang.

      Ich bin mir, von heute aus betrachtet, nicht sicher, ob ich Herrn P. jemals gedankt habe. Nicht nur dafür, daß ich sehr viel gelernt habe, was die lateinische Sprache, Geschichte und Kultur angeht, sondern ich habe im Rahmen seiner ihm eigenen Form von Unterrichtsgestaltung Denken gelernt, kritisches Hinterfragen, das Verbindung-Herstellen von historischen Ereignissen zu aktuellen Entwicklungen in der Gegenwart.

      Allmählich bildete sich in mir die Einsicht heraus, daß Menschen zum einen als aktive Gestalter, als selbstverantwortliche Akteure ihres eigenen Lebens und damit als handelnde Subjekte, zum anderen aber auch als die Summe ihrer eigenen Geschichte, ihrer Biographie und damit als das Ergebnis der ihnen angediehenen Erziehung und Sozialisation angesehen werden können.

      Die sogenannten Junglehrer mit Bart, Zitat Frau F., wie sie Herrn W. und Herrn V. gewiß nicht ohne eine gehörige Portion an Neid und Eifersucht wegen deren Beliebtheit bei uns Schülern/​innen ausdrückend bezeichnete, legten auf durchweg andere Aspekte Wert.

      Hier war ein völlig anders gearteter Zugang möglich, Beziehungen aufzubauen, die es ermöglichten, im Unterricht miteinander zu arbeiten.

      Das war nicht ausgesprochenes, dennoch wahrnehmbares Gedankengut. Wir sollten uns mitverantwortlich fühlen für Erfolg und Nicht-Erfolg von Unterricht. Selbständiges Denken und aktives Mitarbeiten waren angesagt, nicht pures Auswendiglernen und Rezipieren. Die Meinungen und begründeten Einschätzungen von uns Schülern/​innen waren explizit gefragt. Das war eine wirkliche Herausforderung, und dies ausschließlich im positiven Sinne.

      In solch einer Atmosphäre hatten wir alle Möglichkeiten, zu sozial kompetenten Persönlichkeiten heranzuwachsen, die Verantwortung für ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln übernehmen konnten.

      Diese beiden Lehrer, Herr W. und Herr V., haben ihre Hochschulsozialisation in den bewegten und bewegenden 68er Jahren erfahren, der eine an der Philipps-Universität Marburg, der andere an der Freie Universität Berlin, beide Hochschulen damals anzusiedeln in reformerischrevolutionär-linkem Milieu.

      Beide Lehrer kamen zu Beginn der 1970er Jahre an das ländliche Gymnasium. Sie waren anders als die alteingesessenen, konservativen Kräfte, und dementsprechend modern war auch ihr Unterricht.

      Anfangs war dies für uns, die wir nicht daran gewöhnt waren, einen aktiven, mitgestaltenden Part am Unterricht einzunehmen, eine Überforderung. Mit zunehmender Zeit jedoch und näherem Kennenlernen stellten diese beiden Lehrer mit ihrem fortschrittlichen Unterricht ein wirkliches Gegengewicht zu den konventionell-reaktionären Lehrmethoden der 1950er und 1960er Jahre dar.

      Die zweite Persönlichkeit neben Herrn P., die auf mich von Beginn an auf gänzlich andere Weise Faszination ausübte, war einer dieser beiden Junglehrer mit Bart, Herr V.

      Die Umgangsformen, die er mit seinen Schülern pflegte, unterschieden sich von allen bisher bekannten. So lud er uns Schüler der von ihm betreuten Oberstufen-Kurse zu sich nach Hause ein.