Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz

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Название Leben auf brüchigem Eis
Автор произведения Eveline Luutz
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960082040



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eng aneinandergeschmiegt in einem Bett. Sie berührten und liebkosten sich. Aber im Bett trug Annelies stets einen Baumwollschlüpfer, dem Friedhelm den Beinamen „Liebestöter“ verlieh. Er markierte so etwas wie eine Grenze, welche Friedhelm lange nicht zu überschreiten wagte. Erst im Sommer, es herrschte eine schier unerträgliche Hitze und sie hatten abends noch im Meer ein Bad genommen, fiel diese Schranke.

      In den nassen Badesachen waren sie beide über den Deich ins Haus gehastet. Hier entledigte sich Annelies des nassen Badeanzuges. Einen winzigen Moment stand sie ganz nackt da, gleich würde sie den Schlüpfer überstreifen, die Grenze wieder errichten. Jener kurze Moment völliger Nacktheit genügte Friedhelm. Er ergriff ihre Schultern, drehte ihr Gesicht zu sich und bat sie, sich in ganzer Schönheit anschauen zu lassen. Annelies sträubte und schämte sich, doch Friedhelm streifte behänd seine Badehose ab. Er breitete die Arme seitlich aus und forderte sie gutgelaunt auf, ihn anzuschauen. Sie musterte ihn aus einer Mischung von Neugier und Scham.

      „Findest du mich hässlich, Liese?“, provozierte Friedhelm sie gutgelaunt.

      „Ich finde dich schön.“

      „Und ich dich noch viel schöner.“ So prompt wie die Worte fielen, wanderte die Hand über ihren Körper, den Rücken und den Bauch und schließlich zwischen ihre Beine. Automatisch zuckte Annelies zusammen. Die Berührung tat ihr nicht weh und doch bat sie ihn, aufzuhören.

      „Nicht, ich bin da so schmutzig.“

      „Das bist du nicht. Gerade haben wir gebadet. Du bist absolut sauber. Hab doch keine Angst. Habe ich dir je wehgetan?“

      Sie verneinte, duldete die Hand, später den Mund. Es dauerte noch Monate, ehe sie erstmals einen Orgasmus erlebte, das heftige Zucken im Bauch, von wo eine Woge wohliger Wärme ihren ganzen Körper überflutete. Ermattet und überaus glücklich lag sie in den Kissen. Sie glaubte an einen Zufall, der sich allerdings als wiederholbar erwies und einmal nach einem solchen Orgasmus flüsterte sie Friedhelm zu, sie wünsche sich ein Kind von ihm.

      Auch das ging nicht so ohne weiteres. Die Zunge zwischen ihren Beinen, das gefiel ihr inzwischen. Sie fand es auch in Ordnung, Friedhelm mit ihrer Hand zu befriedigen. Aber ihre Beine zu öffnen, um den harten Penis in sich aufzunehmen, dazu bedurfte es einiger Anläufe.

      „Tja, wie dat Leben speelt, es wundert mi oft. Nie hätt ick glovt, dat ick mal am Sex Freude finden könnt, nach alledem. Friedhelm is de best Mannsbild west, dat ick hev finden kunnt“, schloss sie ihre ungewöhnliche Geschichte.

      Nun tropften doch ein paar Tränen auf das Tischtuch, doch selbst die zeugten davon, dass die Tante sich schon seit geraumer Zeit mit dem unabwendbaren Ende von Friedhelms schwerer Krankheit abgefunden hatte. Sie haderte nicht mehr mit dem Schicksal. Anfangs, als die Diagnose noch frisch war, da war sie optimistisch und voller Hoffnung gewesen, dass Friedhelm genesen werde. Bei unseren letzten Besuchen, war diese Hoffnung gänzlich versiegt gewesen. Man musste sich dem Onkel gegenüber nicht verstellen, musste nicht so tun, als fehle ihm im Grunde genommen nichts. Man konnte teilnahmsvoll mit ihm über den Verlauf der Krankheit, über Höhen und Tiefen reden.

      „Ich lebe ohnehin schon in der Zugabe“, scherzte der Onkel oft, darauf anspielend, dass er vor vielen Jahren so schwer erkrankte, dass sein Leben auf der Kippe stand. Über viele Wochen hinweg lag er damals im Koma. Seine Genesung stellte ein Wunder dar, an das kaum noch jemand geglaubt hatte. Die Jahre, die seither vergangen waren, betrachteten Tante und Onkel als geschenkte Zeit.

      Jetzt erst, nachdem ich die Geschichte ihrer ersten Begegnung, des vorsichtigen Abtastens und Findens, kannte, begriff ich, warum die Tante so innig an Friedhelm hing, was sie damit gemeint haben könnte, wenn sie sagte, es gebe Dinge, die man nie im Leben gut machen könne, selbst wenn man unendlich dankbar sei. Das Leben, das Friedhelm ihr geschenkt hatte, gehörte wohl zu diesen Dingen.

      Annelies’ Geschichte berührte mich tief. Ich kannte sie allzeit fröhlich und gütig. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass sie soviel Bitteres durchlebt hatte. Schweigend schritt ich neben Mama durch die schlafenden Gassen, hin zu unserer Ferienwohnung. In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen, immer wieder drängte sich das Gehörte in mein Bewusstsein. Die Brandung rauschte leise. Ich jedoch fühlte mich ungeheuer aufgewühlt.

      „Hast du gewusst, dass Tante Annelies als junges Mädchen vergewaltigt worden ist?“, wandte ich mich an Mama, die sich ebenfalls schlaflos im Bett herumwälzte.

      „Ja und nein. Im Detail kannte ich die Geschichte nicht, aber einmal erzählte mir Papa davon. In welchem Zusammenhang, das habe ich vergessen. Als Tante Annelies heute darauf zu sprechen kam, fiel es mir wieder ein … Das ist wirklich eine bemerkenswerte Geschichte, eine, die unter die Haut geht, trotz ihres guten Endes.“

      Am Karfreitag frühstückten wir bei Tante Annelies und fuhren dann mit ihr zum Friedhof. Der Fußweg vom Parkplatz bis zu dem frischen Grabhügel fiel der Tante so schwer als habe ihr die Beichte am Vorabend alle Kraft geraubt. Sie klammerte sich ängstlich an Mamas Arm. In den letzten Wochen hatte die Tante stark abgenommen, aber noch immer war sie recht füllig. Sie verweilte nur ein paar Minuten am Grab, dann drängte sie hastig fort von dem unwirtlichen Ort. Wir setzten sie bei ihrer Tochter, Mamas Cousine Sabine, im Nachbarort ab und fuhren dann nach Geestade hinüber, um nach Großmutter zu schauen.

      Wie mochte sie, eine alte Frau, die Aufregungen und Strapazen des gestrigen Tages verkraftet haben?

      Anders als bei meinem gestrigen Besuch blinzelte die Sonne durch die spärlichen Wolkenlücken. Das Haus wurde durch die Sonne in ein freundliches, aber kaltes Licht getaucht. Es wirkte nicht bedrohlich wie am Vortag, sondern einladend. Noch ehe eine von uns beiden aus dem Auto gestiegen war, trat Griseldis vor die Haustür und empfing uns mit der ihr eigenen theatralischen Aufgeregtheit:

      „Mutti liegt noch im Bett. Sie will niemanden sehen und nicht aufstehen. Tut mir leid. Aber gut, dass ihr kommt, ich habe euch etwas zu sagen …“

      In ihrer Stimme schwang Wichtigkeit. Mama ignorierte ihre Schwester und deren Worte vollkommen. Sie entbot Grisi weder einen Gruß, noch schenkte sie ihr einen Blick. Sie gab ihr einfach keine Gelegenheit, die angekündigte Botschaft zu verkünden. Ich, die ich meine Mutter gut kannte, merkte an dieser Reaktion, wie wütend sie noch immer auf ihre ältere Schwester war. Ungeachtet der Botschaft, welche Griseldis verkündete, ging Mama zielstrebig um das Haus herum, zu Großmutters Domizil.

      Tatsächlich lag meine Großmutter im Bett, obwohl die Uhr auf Mittag zu eilte. Die Vorhänge im Schlafraum waren zugezogen. Bis zur Nase, als wolle sie sich verbergen, hatte Großmutter das Deckbett gezogen. Indes sie schlief nicht mehr.

      Mama klopfte an die weit offen stehende Schlafzimmertür, schritt dann energisch in den Schlafraum und zog mit einem Ruck den Vorhang auf. Das helle Licht eines klaren Frühlingsmorgens flutete ungehindert herein. Griseldis, die uns wie ein Hündchen nachgeeilt war, lehnte triumphierend im Türrahmen.

      „Da siehst du es selbst.“

      Mama blieb ihr auch jetzt die Antwort schuldig.

      „Was soll das, Mutter? Ich will dich abholen, nach Zingst. Oder willst du nicht noch einmal zum Friedhof?“

      Der Köder, den Mama ihrer Mutter zuwarf, verfehlte seine Wirkung nicht. Augenblicklich schlenkerte Großmutter ihre Beine aus dem Bett.

      „Ja, gut, dann mach ich mich fertig.“

      Während Großmutter das tat, besuchten Mama und ich Opa Max’ Grab auf dem hiesigen Friedhof. Es stand ganz allein in der Grabreihe und wirkte verloren, obgleich der Winterschmuck darauf verriet, dass jemand das Grab pflegte. Oft hatte Mama mir gestanden, dass ihr dieses klotzige Grabmal, der große schwarze Granitblock und der mit Blumen bepflanzte Erdhügel, absolut nichts bedeuteten. Nichts verband sie damit, keine Gefühlsregung, keine Verpflichtung und erst recht keine Erinnerung an den lebendigen Max Ludewig, ihren Vater. Dennoch flohen wir manchmal aus Griseldis’ Haus, einem noch unwirtlicheren Ort als dem Friedhof, hierher.

      Heute stand Mama ungewöhnlich versunken vor dem monumentalen Grabstein. Ihre Gedanken wanderten irgendwo umher, sie weilten nicht hier, auf dem Totenacker. Ich beobachtete meine Mutter von der