Abenddämmerung im Westen. Wieland Becker

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Название Abenddämmerung im Westen
Автор произведения Wieland Becker
Жанр Философия
Серия
Издательство Философия
Год выпуска 0
isbn 9783957448095



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muss ernsthaft bezweifelt werden, dass die heutigen politischen Eliten willens und fähig sind, einen derartigen Paradigmenwechsel als notwendig oder gar realistisch zu erkennen. Für sie, verflochten und verstrickt in die Netzwerke von Kapital und Wirtschaft, würde das einen radikalen Bruch mit ihrem Verständnis von Politik bedeuten.

      Ohne einen solchen Paradigmenwechsel wird die Armut des größten Teils der Weltbevölkerung mit ihren Auswirkungen – Verelendung, Hungersnöte, Perspektivlosigkeit und Ausbeutung – stetig zunehmen. Ebenso wird es keinen wirksamen Klimaschutz geben und die Zerstörung der Umwelt wird immer weiter und Existenz bedrohender fortgesetzt werden.

      Das Fehlen einer wirksamen Sicherheitsarchitektur hat – wie dargestellt – bis heute zur Folge, dass es unmöglich war und ist, militärische Konflikte, Bürgerkriege u. a. möglichst umgehend zu beenden oder gar präventiv zu verhindern.

      Das Beispiel Syrien beweist erneut, dass eine globale Sicherheitsarchitektur ohne Russland und China wirkungslos bleiben muss.

      Es mag apodiktisch klingen und für die westliche Welt wenig angenehm, aber bislang – und vor allem angesichts der Misserfolge der jüngeren Zeit – dürfte es für eine wirksame Strategie zur möglichst weitreichenden Friedenssicherung keine andere Alternative geben. Allerdings hängt der Erfolg zweifelsfrei ebenso von der Neugestaltung der globalen Wirtschaft ab.

      Geht man davon aus, dass die westlichen Industrienationen, in ihrem Selbstverständnis als Demokratien und Verfechter der Menschenrechte, sich selbst als führende Kraft in der globalisierten Welt bestimmt haben, dann wird es unvermeidlich sein, dass sie ihre Führungsrolle endlich als eine weitreichende Verantwortung für das Ganze begreifen. Bislang trifft man sich als G8 oder G20 im elitären Kreis, alle anderen sitzen nicht einmal am „Katzentisch“, wenn man davon absieht, dass derselbe symbolisch inzwischen für den ungeliebten Putin reserviert ist*. Auf Dauer wird die USA – wenn sie als Friedensmacht wirken will – nicht umhin können, auf China und Russland in dieser Frage mit der notwendigen Glaubwürdigkeit zuzugehen.

      Europa – wenn es sich als ernst zu nehmende Gemeinschaft formieren würde – könnte dann in diesen Prozessen durchaus eine wichtige Rolle übernehmen. Gerade Deutschland müsste sich nur auf die politischen Erfolge der „Neuen Ostpolitik“ Willy Brandts und Helmut Schmidts besinnen, um einen außenpolitisch wirkungsvollen Beitrag zu leisten. (Was allerdings notwendig machen würde, zu einer inhaltlich klaren und strategisch durchdachten Außenpolitik zurückzukehren, die von wirklich überzeugenden Persönlichkeiten vertreten werden müsste.)

      Breshnew, seines Zeichens der mächtigste Mann des östlichen Bündnisses, war mit Sicherheit alles andere als ein „angenehmer“ Gesprächspartner, vielmehr war er der Repräsentant der Gegenseite im „Kalten Krieg“ und verantwortlich für den Einmarsch in die ČSSR und die Zerschlagung des „Prager Frühlings“. Ohne die Gespräche mit Breshnew, die damals trotz aller Gegensätzlichkeit geführt wurden, wäre die Unterschrift Breshnews und der anderen Parteiführer der sozialistischen Staaten unter die Schlussakte der KSZE 1974 undenkbar gewesen. „Für Frieden und Sicherheit in Europa“ war das erste und einzige gesamteuropäische Dokument, das schließlich die weitere Entwicklung maßgeblich beeinflusste.

      Es geht nicht darum, Putin unkritisch zu sehen, aber eine geradezu maßlos einseitige politische Beurteilung dürfte niemals die einzige Basis für die Gestaltung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland sein. Ob Russland mit dem schweren Erbe der kommunistischen Herrschaft und seiner Größe und etwa 120 Millionen Einwohnern so stabil ist, dass ein Wandel hin zu demokratischen Verhältnissen nicht in ein neues Chaos führen wird, sollte bedacht werden. Aus diesem Betrachtungswinkel scheint vieles wenig hilfreich, was von der deutschen Politik bislang praktiziert wurde. Nicht jeder, der Putin kritisiert, ist gleich ein beispielhafter Demokrat. Egal, wer einmal Putins Nachfolger wird, er wird nicht viel anders herrschen können. Und dass ein Oligarch wie Chodorkowski außer „Kremlkritiker“ auch Steuerhinterzieher war, hält weder Medien noch Politiker davon ab, ihn geradezu zum Ausbund eines Demokraten zu machen (wie auch die Milliardärin Timoschenko in der Ukraine; es wäre doch ein „Wunder“, wenn ausgerechnet diese beiden ihr Riesenvermögen mit redlicher Arbeit erworben hätten).

      Da ohne Russland künftige Friedensbemühungen kaum Aussicht auf Erfolg haben, wäre es Aufgabe auch und gerade deutscher Politik, die Beziehungen zu Russland in diesem Sinne zu gestalten. Was nur möglich sein wird, wenn man Putin, ohne Verzicht auf eine kritische Sicht, als politischen Repräsentanten Russland ernst nimmt.

      Ein historisch gebildeter chinesischer Politiker wird sich bei typisch deutschen „Einlassungen“ zu Demokratie und Menschenrechten wahrscheinlich denken: Ihr habt gut reden. Wir müssen über eine Milliarde Menschen regieren, die noch nie Erfahrungen mit Demokratie gemacht haben. Auf die Kaiserzeit folgte die japanische Besetzung im II. Weltkrieg, nach der Befreiung die Revolution mit Maos Diktatur, bis schließlich mit Deng Xiao Ping Reformen – von oben – begonnen wurden, die China zur Weltmacht aufsteigen ließen. Und wie endete Euer erster Versuch in Demokratie? Mit einer verbrecherischen Diktatur und dem größten aller bisherigen Kriege.

      *

      Ohne eine Neugestaltung der Verhältnisse zwischen den westlichen Staaten zum Islam werden die globalen Probleme und Konflikte nicht zu lösen sein. Da die Beziehungen historisch belastet sind, auch und gerade im 20. Jahrhundert, machen die besonderen Schwierigkeiten und bislang nicht zu lösenden Gegensätze dies zu einer immensen Herausforderung.

      Um überhaupt eine Ebene für eine sinnvolle Kommunikation zu schaffen, müssten der Islam und die Millionen Muslime nicht mit den Maßstäben des einst christlichen Abendlandes gemessen werden. Zum anderen wäre die allzu oft dominierende Fokussierung auf terroristische oder radikale islamistische Gruppierungen insofern zu korrigieren, dass die in der Mehrzahl ihren Glauben lebenden Muslime, die ihrer Arbeit nachgehen und ihre Kinder großziehen, in ihrer Religiosität als weitaus größter Teil des Ganzen wahr- und ernst genommen werden.

      Wie bereits dargelegt ist der Islam Staatsreligion und keinesfalls homogen (Sunniten, Schiiten, Salafisten, Alawiten…) und besitzt keine Machtzentrale. Auch wenn es durchaus Kräfte gibt, die für mehr Demokratie, Aufhebung der traditionellen Frauenrolle u. a. eintreten, bleiben solche Entwicklungen regional beschränkt. Im Nachbarland können durchaus die so genannten „Gotteskrieger“ ihr Reich geschaffen haben. Im Kern geht es um die Einsicht, dass der Weg der islamischen Staaten zu demokratischen Strukturen ihr eigener ganz spezifisch auch von der Realität des Islam beeinflusster Weg sein wird; die wohlfeile, unrealistische Forderung des Westens – wie in der Zeit des „Arabischen Frühlings“ erhoben – möglichst umgehend Demokratie durchzusetzen, wird aber denen am meisten schaden, die sich dort dafür engagieren.. Nur ein der Realität aus ideologischen Gründen völlig Entrückter, konnte solche Erwartungen bzw. Forderungen formulieren. Es war doch von Beginn dieses „Frühlings“ an völlig klar, dass anstelle der lange vom Westen unterstützten Diktatoren die organisierten muslimischen Kräfte die Macht übernehmen würden.

      Von besonderer Einfalt – und für jede strategische Planung „tödlich“ – ist das Prinzip, stets und ständig in „Gut“ und „Böse“ einzuteilen. Dabei reicht es, um als „Gut“ zu gelten, schon aus, dass man gegen einen – aus westlicher Sicht - als „Böse“ Eingeordneten auftritt.

      Weitere Aufgaben für gemeinsames Handeln wären auch der Kampf gegen Drogenkartelle und andere Formen global vernetzter organisierter Kriminalität, insbesondere der Handel mit Waffen, Piraterie und seit jüngerer Zeit die Ausbreitung von Cyberkriminalität und -spionage.

      Wofür das alles? Die Antwort verweist auf das Kernproblem der Menschheit. Milliarden Menschen, die täglich hart und oft für einen kargen Lohn arbeiten, die ihre Kinder ebenso oft in armseligen Behausungen und unsäglicher Armut großziehen, die sich sozial und kulturell engagieren, auch wenn ihnen vielerorts keine Chancen auf Bildung gegeben sind, deren Existenz durch Hungersnöte und Naturkatastrophen ebenso bedroht ist, wie durch mordende Marodeure und andere meist paramilitärische Verbände, durch Vertreibung, durch Millionen Landminen und Seuchen …

      Sie alle haben ein Recht auf ein menschenwürdiges