Название | Kleinstadt für Anfänger |
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Автор произведения | Rainer Pleß |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957442437 |
Es war also anno Domini 2003, als mich ob dieser Erkenntnisse mein einzig geliebtes Eheweib bei der Hand nahm und sprach: „Alter, wir leben hier in unverantwortlicher Zufriedenheit vor uns hin und haben uns bisher keinen einzigen Gedanken darüber gemacht, dass sämtliche bundesdeutschen Finanzminister und Finanzministerinnen, Arbeitsminister und Arbeitsministerinnen, ja, sogar Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen unsertwegen keinen Schlaf mehr finden und ständig bittere Tränen über unsere Zukunft vergießen müssen, sodass sie bereits Kopfweh haben wegen unserer unbesonnen Art, in den Tag hineinzuleben und ihnen unzählige Sorgenfalten darüber wachsen, wer wohl zukünftig für ihr Gehalt aufkommen soll. Die heute Dreißigjährigen reichen da schon rein zahlenmäßig gar nicht aus. Das Volk kann die Welt nicht noch einmal verändern, jetzt muss sich endlich auch mal das Volk ändern. Und Volk bist auch du, mein Lieber, …“
Da wurde ich sehr nachdenklich und erinnerte mich daran, dass es bereits zu DDR-Zeiten so eine Sache war mit der Rente. Hieß nicht „sozialistisch sterben“ den Löffel zwei Tage vor dem 65. Geburtstag abzugeben? Oder erinnern Sie sich nicht mehr an das Gerücht, demzufolge jeder bei Eintritt in das Rentenalter ein gelbes Mützchen bekommen sollte? Jeder Rentner wäre demnach verpflichtet gewesen, das gelbe Mützchen zu tragen und jeder Kraftfahrer sollte am Quartalsende mindestens drei gelbe Mützchen abgeben.
Aus heutiger Sicht ließe sich das noch durch die Zahlung einer Abwrackprämie für Rentenempfänger ergänzen! Bei Abgabe eines gelben Mützchens erhält der Abgebende z.B. eine KFZ-Steuer-Gutschrift von 3,1 Prozent.
Da wir (nämlich mein ehliches Gemahl nebst mir) aber bei aller zu beschließenden Neuorientierung ein Dasein als Politiker von vornherein ausgeschlossen hatten (denn ehrlich währt am Längsten), behielten wir die Wiederbelebung dieses Vorschlags zur Regulierung der Alterspyramide für uns und orientierten uns auf das Wesentliche.
Nach verschiedenen erfolglosen Versuchen gaben wir es auf zu versuchen, aus Rentenanwärtern heute Dreißigjährige zu machen. Das erwies sich leider als der falsche Ansatz.
Doch die Diktatur der Freiheit ließ uns nicht ruhen.
Nach heftigen Debatten und durchdiskutierten Nächten kamen wir dann im vierten Jahre des neuen Säkulums zu der unwiderlegbaren Erkenntnis, dass die Moderne sich nicht nur in der Kunst selbst überlebt habe und die aktuellen Methoden weder in der Finanzpolitik noch im wirklichen Leben zu irgend einem brauchbaren Ergebnis taugen könnten.
Mehr und mehr brach sich die Erkenntnis Bahn: Wir müssen uns wieder auf die Werte der Alten besinnen und diese nicht nur in der Bildungspolitik nach Brauchbarem durchsuchen! Es war nicht alles schlecht, auch nicht damals, als der Märchenwald noch hinter den letzten Häusern des Dorfes begann und noch nicht im Plenarsaal des Bundestages eingeschlossen worden war.
Also beschlossen mein Weib und ich, in die weite Welt hinauszuziehen und unser Glück zu suchen.
Wir schnürten unser Bündel und wanderten über sieben Berge und um sieben Seen, die gerade im Leipziger Neu-Seenland im Entstehen waren, bis wir eines Tages hier in Pegau ankamen.
Wir fuhren (oder wurden gefahren) einmal durch diese gute und schöne Stadt und verliebten uns stande pedes in dieselbe. Hier gab es noch Menschen auf Straßen und Gehwegen, die miteinander schwätzten, war die eine oder andere Person in kleidsamer Kittelschürze beim Weg zum Einkauf noch zu erkennen, zierten viele wunderhübsche, saubere, renovierte Häuschen den Wegesrand und es schien alles so zu sein, wie es sein sollte. Wir hatten unsere Insel gefunden.
Nun sind wir da und Sie müssen mit uns leben, bitteschön.
Darüber hinaus war es uns natürlich auch fürderhin wichtig, an unserem neuen Lebenskonzept weiter zu arbeiten. Nach längeren hitzigen Debatten und Diskussionen kam uns nämlich die Erkenntnis, dass es mit einem einfachen Ortswechsel nicht getan sein könne. Auch wenn wir als Einwohner einer Kleinstadt wesentlich bequemere Bürger für unsere Staatsführung sind, als es Großstädter jemals werden können.
Aber mit unserem Umzug in eine Kleinstadt verzögern wir doch nicht den Zusammenbruch der Sozialsysteme, der unter der jetzigen, spätestens aber unter der nächsten Bundesregierung gesetzmäßig erfolgen muss. Wir müssen uns endlich eigenverantwortlich ökonomisch stabil aufstellen, unabhängig, selbstständig machen und dadurch den Weltfrieden in unserem Land für unsere Bundesregierung zelebrieren lernen. Und wenn uns dieses gelungen ist, Bundeskanzlern oder Bundeskanzlerinnen ihren ruhigen Nachtschlaf zu sichern, dann müssen wir auch bereit sein, diese gewonnene Selbständigkeit in die Welt hinaus zu tragen und auch der dritten und vierten Welt zu vermitteln.
Tauben füttern an der St.Hedwigs Kapelle
Also werden wir bis zu unserem einhundertsten Geburtstag voll arbeiten, dann nach Quakenbrück ziehen, um dort dem gemeinnützigen Verein zur elektronikfreien Kommunikation humanoider Lebensformen unsere Erfahrungen aus den fünfziger bis achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ehrenamtlich zur Verfügung zu stellen und weitere fünfundzwanzig Jahre später in die Wüste gehen, um dort einen Zirkel für Ikebana, das sogenannte Wüstenikebana, aufzubauen.
Weiter geht unser Lebenskonzept bisher noch nicht. Ich gebe auch zu, mich darob sehr zu schämen. Aber was weiß man denn heute, wie sich die Situation der Krankenkassen in den nächsten zwei bis drei Jahren entwickelt und ob Quakenbrück als selbständige Gemeinde in siebenunddreißig Jahren überhaupt noch existiert? Oder die Wüste?
Männer und Frauen in einer kleinen Stadt
Ich bin nur ein Zugezogener. Einer der Sorte allerdings, die sich bemüht, ein wirklicher, ein tatsächlicher, ein echter zu werden, ein Pegauer Bürger nämlich. Was zugegebenermaßen nicht so einfach ist wie es klingt. Weiß doch inzwischen ein jeder Bewohner ländlicherer Gefilde, dass ein Städter, der aufs Land zieht, zu einer echten Landplage werden kann und von den Ureinwohnern auch so behandelt wird.
Ü 50
Wir sind aus dem Norden, von Pegau aus betrachtet. Sozusagen Fiscköppe; Fischköppe vom Pleißestrand. Halbmenschen aus faschingsarmer Gegend, die ohne es zu wissen, in die heimliche Hauptstadt des Mitteldeutschen Faschingsgeschehens geraten sind. Fasching seit 1964 in ununterbrochener Reihenfolge! Jedes Jahr zwei Programme, ein Umzug, ein neues Prinzenpaar, -zig abgeschnittene Krawatten und ein ganz besonderes Lebensgefühl. Das äußert sich mitunter in Bemerkungen amtierender Vereins-Würdenträger: „Wir sind hier die Meinungsmacher!“ Glauben Sie mir, das kann auch harte Drohung sein.
Ich trug bei meiner Geburt wirklich nicht, wie bei Pegauer Säuglingen üblich, eine Pappnase, und wenn ich aus meinem Kinderwagen schaute, so hatte ich zumeist eine neckische Bommelmütze auf dem Kopf und keine Narrenkappe. Außerdem war das erste Wort, das ich sprechen konnte, „Mama“ und nicht „Helau“. Dennoch war ich in meiner frühen Jugend durchaus ein Freund karnevalistischen Übermuts. Bis mir durch ein einschneidendes, alles veränderndes und hochdramatisches Ereignis an einem bis dato fröhlichen Faschingsabend das weitere Vergnügen an solcherart jugendlich froher Dollerei in lustigen Verkleidungen ein für alle Mal verleidet ward. Es war nämlich wirklich bei buntem Fastnachtstreiben vor nunmehr dreiundvierzig Jahren, da packte mich ein Weib beim Schopfe und ließ mich seither nicht mehr los. Und ich war so pappnasenmäßig in Stimmung und Frohsinn gehüllt, dass ich mich ohne jede Spur von vernünftigerweise instinktiv geleisteter Gegenwehr meinem damit besiegelten Schicksal ergab.
Der Fasching war für lange Zeit erledigt. Manche Männer zerhacken die Bank im Park, auf der sie ihre spätere Gemahlin kennengelernt haben. Ich ging nicht mehr zum Karneval.
Und ich musste auch keine Bank zerhacken, das übernahm für mich der Vorgängerbetrieb der MIBRAG, der baggerte gleich den ganzen