Tragödie im Courierzug. Uwe Schimunek

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Название Tragödie im Courierzug
Автор произведения Uwe Schimunek
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520373



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der kleine Mann lauter auszuatmen, je leiser er sprach. Nach den letzten Worten blieb Gontard kein Zweifel mehr: Der Sergeant war besoffen, voll wie eine frisch geladene Muskete. Er gab ein Bild des Jammers ab. Wurde der Kerl immer kleiner? Gontard beschloss, den Unteroffizier nicht weiter zu quälen, und entfaltete das Papier.

       Sehr geehrter Herr Oberst-Lieutenant von Gontard,

       ich habe einen wichtigen Auftrag in einer delikaten Angelegenheit. Sie scheinen mir die einzig passende Person für diese Causa zu sein. Bitte sorgen Sie dafür, dass Sie am Wochenende abkömmlich sind! Alles Weitere erkläre ich Ihnen am Nachmittag. Finden Sie sich zu diesem Behufe bitte gegen vier Uhr in meinem Bureau ein. Hochachtungsvoll

       Generalmajor von Schnöden

      Das klang freundlich, ließ aber kaum Widerrede zu. Gontard hatte nicht die geringste Vorstellung, was der Schulleiter der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule von ihm wollte. Er drehte das Blatt herum. Auf der Rückseite stand selbstverständlich auch keine Erklärung. Gontard richtete sich auf und sagte: »Herr Sergeant, informieren Sie Herrn Generalmajor von Schnöden, dass ich zum gewünschten Zeitpunkt bei ihm sein werde! Und jetzt dürfen Sie wegtreten.«

Zwei

      Ferdinand von Gontard lief den Flur der Kommandantur des Grenadierregiments König Friedrich Wilhelm II. Nr. 10, genannt 1. Schlesisches, hinunter. Der Gang flößte ihm Respekt ein. Oft kam er als kleiner Lieutenant nicht in diesen Teil der Kasernenanlage, und wenn es jemanden aus dem Fußvolk hierher verschlug, dann drohte nicht selten Ärger.

      Wen Ferdinand von seinen Vorgesetzten auch ansprach wegen des Leichenfundes, alle wimmelten ihn ab und verwiesen auf den Kommandeur des 1. Bataillons, Generalmajor Meinrad von Frohwitz. Bei dem liefen alle Fäden der Garnison in Breslau zusammen, er war nur noch dem Kommandeur des gesamten Grenadierregiments, von Kortzfleisch, unterstellt. Also blieb Ferdinand nichts anderes übrig, er musste zum »Alten«, wie Frohwitz in der gesamten Garnison genannt wurde. Wer immer über den Bataillonskommandeur redete, sprach dessen Spitznamen mit einer Mischung aus Spott und Ehrfurcht aus. Frohwitz’ offensichtlicher Gebrechlichkeit bei Appellen stand sein scharfer Verstand gegenüber. Altgediente Offiziere behaupteten gar, Frohwitz könne Gedanken lesen. Das hielt Ferdinand zwar für übertrieben, aber es war auch ihm in den wenigen Begegnungen mit Frohwitz bisher schwergefallen, dessen durchdringendem Blick standzuhalten.

      Im ersten Stock hingen die Porträts verdienter Offiziere der Garnison. Die Uniformen auf den Gemälden waren über und über mit Orden, Ehrenzeichen und Kordeln besetzt. Da erzählten die alten Offiziere immer etwas von Blut und Treue, und dann behängten sie sich mit opulentem Glitzerkram wie Weiber. Ferdinand dachte an seinen Vater, der sich über die hohen Offiziere und deren pompöse Abbildungen stets lustig machte. An dieser Galerie hätte er seine helle Freude gehabt. Ferdinand dagegen bekam bei jedem weiteren ernsten Gesichtsausdruck ein mulmigeres Gefühl.

      Am Ende der Galerie bog der Gang zu Frohwitz’ Dienstzimmer ab. An der Ecke saß ein Corporal und gähnte.

      »Ich möchte zu Herrn Generalmajor von Frohwitz, um eine Meldung zu machen«, sagte Ferdinand.

      »Geht nicht«, nuschelte der Mann.

      Ferdinand zögerte einen Augenblick. Vor ihm saß zwar lediglich ein Corporal, dem eine solch unhöfliche Rede einem Lieutenant gegenüber nicht zustand, aber immerhin handelte es sich um den Diensthabenden vor dem Zimmer des Bataillonskommandeurs. Zudem war der Kerl bestimmt zehn Jahre älter als Ferdinand. Wie würde sein Vater, der Oberst-Lieutenant von Gontard, sich in dieser Situation verhalten? Zumindest würde er sicher nicht vor einem Corporal kuschen.

      »Ich habe etwas Wichtiges zu melden, Herr Corporal.« Ferdinands Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Und reden Sie gefälligst in vollständigen Sätzen mit mir!«

      Der Corporal guckte wie ein Saufkumpan kurz vor einer Kneipenschlägerei. Wenigstens gähnte er nicht mehr, sondern sagte laut: »Ich habe meine Befehle, Herr Lieutenant. Der Generalmajor möchte nicht gestört werden.«

      »Was ist denn das für ein Gebrüll?«, hallte es aus dem Gang.

      Ferdinand erkannte die Stimme des Kommandeurs. Der Alte klang müde, so als habe er gerade ein Vormittagsschläfchen beendet. Frohwitz näherte sich mit gemessenen Schritten – oder schlurfte er?

      Der Corporal sprang auf und zeigte auf Ferdinand. »Der junge Lieutenant missachtet Ihre Befehle, Herr Generalmajor!«

      »Mit Verlaub, ich habe eine wichtige Meldung zu machen.« Ferdinand wandte sich direkt dem Alten zu. »Ich habe nur versucht, das dem Corporal zu vermitteln.«

      »Hm.« Der Alte schaute Ferdinand eindringlich an. Da war er wieder, dieser forschende Blick. Nach einem Moment fuhr der Kommandeur fort: »Dann kommen Sie doch mit, Herr Lieutenant!« Frohwitz trottete gen Dienstzimmer, und Ferdinand folgte ihm.

      Der Corporal hätte mit seinem Blick das Fegefeuer einfrieren können. Ferdinand genoss den Erfolg.

      Im Dienstzimmer setzte sich der Kommandeur hinter einen barocken Secretär und sagte: »Sie müssen dem Corporal sein ungehobeltes Verhalten verzeihen. Wenn die Diensthabenden nicht so abweisend wären, fände ich nie Ruhe.«

      Ferdinand merkte, wie seine Kinnlade herunterklappte. Grinste der Alte ihn an?

      »Nun, mein junger Herr Lieutenant, ich habe gehört, Sie haben interessante Neuigkeiten.«

      Wusste der Alte schon Bescheid? Und wenn ja, woher?

      »Berichten Sie!«

      »Ich habe an der Oderwiese eine Leiche entdeckt.«

      »Das ist mir bekannt, Herr Lieutenant.«

      Also tatsächlich … Ferdinand wusste nicht, was er dem Kommandeur noch berichten sollte. Er sagte: »Ich bin nicht sicher, ob ich die Zivilbehörden unterrichten soll. Ich habe meinen direkten Vorgesetzten bereits über den Fund informiert, aber keine klare Anweisung erhalten.«

      Frohwitz hob einen Brieföffner vom Schreibtisch und richtete die Klinge auf Ferdinand. »Haben Sie bei der Leiche Hinweise auf eine Zugehörigkeit zur Armee Seiner Majestät gefunden?«

      »Nein, Herr Generalmajor. Wobei die Kleidung kaum noch zu erkennen war. Einen Helm habe ich jedenfalls nicht entdeckt.«

      Der Kommandeur tippte mit der Spitze des Brieföffners gegen den Zeigefinger seiner linken Hand. »Bei einem toten Zivilisten gäbe es keinen Zweifel, den würden wir den Zivilbehörden überlassen. Bei einem Armee-Angehörigen würden wir uns hingegen der Sache annehmen …«

      »Ich kann Ihnen dahingehend leider keine zuverlässige Auskunft geben.«

      Frohwitz legte den Brieföffner zurück auf die Tischplatte und schaute auf wie ein Großvater vom Märchenbuch. »Ihrem Vater eilt der Ruf voraus, solchen Fällen selbst auf den Grund zu gehen. Sie haben keine derartigen Ambitionen?«

      »Sie meinen …«

      »Ich würde sagen, Sie melden sich am Nachmittag wieder bei mir, Herr Lieutenant, und dann sehen wir, welche Informationen Sie zusammengetragen haben. Bis dahin behandeln wir die Sache vertraulich.«

      Christian Philipp von Gontard lief die Linden entlang. Um genau zu sein, drängte er sich durch das Gewimmel – zwischen den Waschweibern mit ihren Körben hindurch, vorbei an Lumpensammlern, Bürgersleuten und Landeiern, die auf der Suche nach Halt in der großen Stadt waren. Alle paar Schritte bot ein Kolporteur brüllend seine Ware feil. Und das war nur das Fußvolk, das sich die Straße mit den Kutschen, Reitern und Pferdeomnibussen teilen musste. Gontard kam es so vor, als ob der Verkehr im Herzen der Residenzstadt immer dichter würde. Die Menschen schienen kaum zum Luftholen zu kommen vor lauter Eile. Wurde er einfach zu alt für diesen Trubel?

      An der Friedrichstraße hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Ein fliegender Händler pries eine Zeitschrift an: Die Gartenlaube.