Meine Geparden sind auf dem Weg. Vahid Monjezi

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Название Meine Geparden sind auf dem Weg
Автор произведения Vahid Monjezi
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954885893



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warf der junge Mann die Keulen so nach oben, dass sie sich zweimal in der Luft drehten. Er fing sie wie ein Akrobat wieder auf und drehte sie nach vorn, als wäre er mit einem unsichtbaren Wesen im Kampf. Die Trommelschläge wurden immer schneller.

      An einer Wand befand sich ein großes Gemälde aus drei Bildern. Das erzählte den Kampf zwischen dem Märchenhelden Rostam(16) und dem weißen Ungeheuer Dewen. Rostam hält eine Holzkeule – so wie die Holzkeulen, die die Athleten in der Zurkhaneh haben – und ein Schwert in seinen Händen. Er versucht, damit den Kopf des Dewen zu treffen. Im letzten Bild starrt das Ungeheuer mit seinen großen roten Augen auf Rostam und versucht, ihn zu greifen.

      Ich fragte Adels Vater: „Wie endet diese Geschichte?“

      Er schaute mich freundlich an und lächelte: „Ehrlichkeit gewinnt immer.“

      Mariwan: „Ich meine das mit dem Ungeheuer?!“

      Adels Vater: „Das wahre Ungeheuer ist in jedem von uns. Es ist das, was besiegt werden muss. …

      Die Zurkhaneh ist ein Ort, an dem wir lernen, wie wir mit dieser bösen Seite kämpfen müssen.

      Denn Lüge und Unrecht sind zwei Krallen dieses Ungeheuers. Die Liebe und die Menschlichkeit sind Keule und Schwert in den Händen der Helden. Der Kampf der Helden ist unendlich, sie müssen täglich dem Unrecht widerstehen. Immer auf’s Neue.“

      Morshed sang weiter:

      Einen Mühlstein rafft‘ er auf,

      zu Rostam kam er wie ein Rauch.

      Du bist vermutlich des Lebens satt,

      dass du kommst zu der Dewen Stadt.

      Als Rostam das hörte, mit starkem Ton,

      sprach er: „Bösartiger Unglückssohn!“

      Ich bin Rostam vom Ritter Sam,

      von Gerschasp ich den Ursprung nahm.“

      Mit Klauen des Löwen packt‘ er ihn,

      hob ihn empor und warf ihn hin,

      Er warf ihn hin wie ein Leu auf die Flur,

      so dass dem Leibe die Seele entfuhr.(19)

      Die Trommel wurde lauter und die Schelle läutete eine neue Runde im Ring ein.

      Ein Athlet legte sich rücklings auf den Boden. Zwei schwere Holzschilde, die aussahen wie alte Kriegsschilde, hielt er in den Händen und kämpfte damit wie ein Soldat mit einem unsichtbaren Angreifer.

      Es sah aus, als ob ihn ein Feind mit Schwert und Lanze angreifen wollte und er versuchte, die gedachten Angriffe mit seinen Schilden abzuwehren.

      Die Stimme des Morshed klang bezaubernd. Jedes Mal, wenn er zu singen begann, schloss er unbewusst seine Augen und versetzte sich in einen tranceähnlichen Zustand.

      Es schien so, als wäre er nicht mehr bei uns oder auf seiner Kanzel, sondern feierte in Trance mit seinen antiken Helden.

      Von Beruf war Morshed ein Kunstmaler. Er hatte in der Sanabad-Straße ein kleines Atelier, in dem er für einige traditionelle Cafés und Zurkhanehs Wandmalereien gestaltete.

      Ab und zu zeichnete er besonders feine Bilder aus der alten persischen Geschichte auf Musikinstrumente, die Adels Vater herstellte.

      Die Mimik und die Bewegungen der Menschen waren so lebendig, dass man dachte, Morshed hätte sie für ein paar Sekunden aus ihrer Zeit ausgeliehen und sie wollten in der Geschichte weiterleben.

      Als das Training in der Zurkhaneh zu Ende war und die Athleten weggegangen waren, stellte uns Adels Vater Morshed vor. Soheil, Adel und ich waren stolz, Morshed, der eben noch so schön in der Zurkhaneh gesungen hatte, jetzt persönlich gegenüberzustehen. Überglücklich reichten wir ihm die Hand.

      Soheil kannte ich schon, als er noch ganz klein war. Wir sind zusammen aufgewachsen und mit Adel war er einer meiner besten Freunde. Damals wusste ich nicht, dass er ein afghanischer Flüchtling ist.

      Sein Vater war beim russischen Angriff 1979(20) auf Herat* getötet worden. Als der Krieg sich in alle Richtungen in Afghanistan ausbreitete, ging seine Mutter mit ihm und seiner kleinen Schwester Shiwa ins Asyl in den Iran. Sie zogen in unser Viertel, uns gegenüber und in das Nachbarhaus von Adel ein. Es war eine kleine alte Wohnung im Kellergeschoss.

      Soheils Mutter musste, um mit ihrer Familie überleben zu können, jede Arbeit annehmen.

      Sie putzte in anderen Häusern, machte die Wäsche und manchmal betreute sie alte und pflegebedürftige Leute.

      Soheil arbeitete wie ich in den Sommerferien immer bei einem Schuster in unserem Viertel, und unterstützte so seine Mutter. Wenn ich ihn bei der Arbeit neben mir sah, entdeckte ich einen ruhigen kleinen Jungen mit glatten Haaren, die vom Scheitel aus fein nach der Seite gekämmt waren, und hellen grünen Augen, die in seinem blühenden Gesicht glänzten.

      Als wir aus der Zurkhaneh heraustraten, war es ziemlich dunkel und ungemütlich.

      Der Herbst zeigte uns sein kaltes Gesicht und trieb die Menschen auf den Straßen und dem Basar an, sich schneller zu bewegen.

      Diesen Basar liebte ich. Dieses alte Gebäude mit seinen roten Ziegelwänden.

      Diese wunderbare Architektur mit den hohen gewölbten Stuckdecken. Darin so viele verschiedene Geschäfte.

      Der Kräuterladen, die Buchhandlung, die Bäckerei, das Stoffgeschäft, der Goldschmied und der Puppenmacher. Alle boten friedlich nebeneinander ihre Waren an. Damals gab es noch viele Handwerker in ihren kleinen Läden.

      Bei Sonnenaufgang roch man überall das frischgebackene Steinbrot.

      Direkt am Eingang des Basars wurden Honigsüßigkeiten mit Pistazien gekocht.

      Es war ein betörender Duft von Sesam, Kardamon und Rosenwasser.

      An einem gemütlichen Platz im Basar lud Morshed uns zu heißen roten Beeten ein.

      Wir standen um einen großen vierrädrigen Holzkarren und sogen den süßen Dampf in uns auf.

      Zwei große runde Bleche mit langen Metallspießen standen auf der Karre. Auf den Spießen waren Dutzende rote Beete aufgefädelt und wurden durch den Dampf langsam gar.

      Direkt unter den Blechen befand sich ein Ölherd.

      Der Rote-Beete-Verkäufer schöpfte mit einer Kelle den heißen Saft vom Blech und goss ihn geduldig über die Spieße. Die saftigen roten Beete glänzten im Licht der Gaslaternen.

      Wir Kinder genossen mit großem Appetit Stück für Stück von unseren Tellern. Sie schmeckten süß und saftig und nichts konnte uns ablenken, außer den ungewöhnlichen Gesprächen, die zwischen Erwachsenen geführt wurden.

      Morshed sagte zu Adels Vater: „Bringen Sie doch am Freitagabend(21) die Kinder mit.

      Adels Vater schaute uns drei an: „Es wäre eine neue Erfahrung für die Kinder.“

      Morshed: „Je eher sie es kennenlernen, desto besser ist es. …

      Wenn wir länger warten, bekommen sie vorher eine Gehirnwäsche in der Schule.“

      Ich dachte so bei mir: Wie kann man ein Gehirn waschen?

      In diesem Moment liefen Yalda und ihre Mutter von der anderen Seite des Basares kommend an uns vorbei.

      Yaldas Mutter winkte uns zu.

      Es waren mehrere Wochen vergangen, seit ich Yalda das letzte Mal gesehen hatte.

      Sie waren nach Siawashs Tod für einige Zeit zu ihrem Onkel nach Teheran verreist.

      Yalda lächelte mir zu