Wir leben weiter ins Ungewisse. Группа авторов

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Название Wir leben weiter ins Ungewisse
Автор произведения Группа авторов
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783866743090



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Flüchtling«, und dann kam Oma schon herausgestürzt. Opa hatte Dich zuerst und gleich erkannt, obwohl er Dich ein halbes Jahr nicht gesehen hatte.

      In Quendorf ließen wir – wie wir’s schon lange geplant hatten – den Krieg über uns hinweggehen. 21 Personen waren wir schließlich, die Schüttorfer kamen an einem der nächsten Abende an: Nach einem Bombenabwurf auf Schüttorf waren sie aus einem brennenden Nachbarhaus aus den Kellerfenstern herausgekommen und suchten nun in Quendorf Zuflucht. Bis zuletzt arbeiteten wir an unserem Bunker, aber drin waren wir nicht. Unsere Gegend hatte auch keinen Beschuss. Aber unheimlich war, wie die Artilleriegeschosse über uns wegheulten und dann in Richtung Schüttorf krepierten, noch unheimlicher, wie die eigene Artillerie in unsere Richtung schoss. Und dann hörten wir die Panzer rollen, und immer noch kamen versprengte deutsche Soldaten vorbei: meist junge Kerlchen, ganz erschöpft und ausgehungert. Oma schöpfte Milchsuppe aus, wir strichen Butterbrote, und dann zogen sie weiter: früher oder später in die Gefangenschaft hinein. Nach Tagen erschien das erste Tommy-Auto auf dem Hof, wir saßen, etwas bange, in der Küche. Es klopfte, drei Engländer erschienen und sagten das formlose Wort »eggs«, nahmen die Eier in Empfang, legten ein paar Klümpchen3 auf den Tisch: »For babies« und verschwanden. Das wiederholte sich immer wieder, Schlimmeres passierte auf unserem Hof nicht, wirklich ein besonderes Geschenk: Denn auf anderen Höfen wurde viel gefordert, geplündert oder zerstört.

      Du bekamst von aller Aufregung etwas mit und wusstest doch nicht, was los war. Du warst in den ersten Tagen ziemlich verstört, dazu kam eine ganz gehörige Erkältung von der Sturmfahrt her. Aber mit der Zeit lebtest Du ich gut ein, hattest Freude an Deinen Vettern und Kusinen und benahmst Dich entschieden gut. Änne sorgte wie ein Mütterchen für Dich: Fütterte Dir Deine Bröckchen, putzte – unter Deinem heftigen Protest – Deine Nase und wusch mit Begeisterung Deine Windeln, sogar die schmutzigen. Es war schön, dass Oma und Opa so auch ihr sechstes Enkelkind näher kennenlernten, und ich glaube, sie haben dich richtig lieb bekommen.

      Du fühltest Dich so daheim in Quendorf, dass ich ohne Sorge losfahren konnte, um in Lingen nach unseren Habseligkeiten zu sehen. Das erste Mal kam ich erfolglos zurück: Man ließ mich nicht über die Haneken-Brücke. Aber am 23. April gelang es endlich. Lingen sah traurig zerschossen aus. Ich war erleichtert, wenigstens von weitem doch alle drei Kirchtürme zu erkennen, und froh war ich, als unser Haus noch stand. Frau Staedtke begrüßte mich: »Machen Sie sich auf das Schlimmste, das Allerschlimmste gefasst.« In unserem Haus hatten sie wie die Wilden gehaust: erst die SS, dann die Engländer, dann Fremdarbeiter (Polen, Holländer, Russen) und dann wohl auch Lingener Frauen. Es war ein unbeschreibliches Durcheinander: Alles war aus den Schränken und Schubladen gerissen, beschmutzt, zertrampelt, bewusst durcheinandergebracht. So stand z. B. unser hinteres Bett im Keller aufgeschlagen, Deine nicht gestohlene Wäsche lag auf den Kohlen, unsere Fotografien lagen zwischen zerschlagenen Eiern und ausgeschütteten Saftflaschen und Marmeladengläsern im Keller, Dein Kindermehl fand ich in Staedtkes Küchenschrank wieder, ein Teil unserer Teller stand im Unterrichtsraum usw. usw. Und sehr, sehr viel fehlte. Papa hat hier, wenn er heimkommt, nur noch einen Hut, einen Schlafanzug und ein paar Socken und einen schwarzen Schlips! Uhren, Radio, Fahrrad, Wäsche, Wolle, Kleider, Kleidchen und Strampelhöschen und Gummiunterlagen von Dir – alles gestohlen. Das Empfindlichste sind vielleicht die fehlenden Matratzenteile in Papas Bett. Fast alle Fensterscheiben sind entzwei, und Glas gibt’s nicht. So habe ich Holz, Pappe und Papier vor die Fenster genagelt. Im Wohnzimmer war keine andere Hilfe als größere Fensterflügel in die Füllung zu nageln, nun sind die Fenster aber auch ganz zu und können gar nicht geöffnet werden. Und das im Mai! Aber der Durchzug war zu schlimm, besonders für Dich.

      Am 2. Mai bin ich wieder mit Dir hier angekommen. Du zogst, im Körbchen schlafend, in Lingen ein und wurdest mit ganz großem Hallo begrüßt. Das Schönste war, wie Du Dein Heim begrüßtest: mit Freude und Ausgelassenheit, die ich wohl noch nie an Dir sah. Du lachtest Frau Staedtke in einem fort an, krochst auf Almuths Krankenbett herum und quietschtest vor Freude. An Schlafen dachtest Du nicht, obwohl es schon 9 Uhr war.

      Ja, nun sind wir wieder daheim und müssen erst einmal Ordnung schaffen. Wie gut, dass Haus und Möbel erhalten sind.

      Vorgestern Abend wurde die Kapitulation der deutschen Truppen in Holland und Norddeutschland gemeldet. Wo unser Papa ist und wie’s ihm geht? Über einen Monat hörten wir nun nichts von ihm. Aller Verlust an schönen Dingen wiegt nichts – wenn er nur gesund heimkehrt.

      Im Juli 1945 wurde Johann Tibbe aus englischer Gefangenschaft entlassen; dort hatte er bereits als Pastor gearbeitet. Ende September zog die Familie nach Hamburg-Altona in das oberste Stockwerk des Kirchengebäudes der evangelisch reformierten Gemeinde, in eine Wohnung, die zwar erhebliche Bombenschäden aufwies, aber auch einen weiten Blick über die Elbe und den Hafen.

      Aus dem Tagebuch von Trudi Tibbe

      Briefe von Annemarie Techand (1917–1996), Kunsthandwerkerin. Der erste Brief geht an ihre Mutter, der zweite an Mutter und Schwester. Im Februar 1945 aus Danzig geflohen, sind Mutter und Schwester in Lüchow bei Verwandten untergekommen, während Annemarie und ihre Freundin Friedel in Hildesheim, Niedersachsen, landeten.

      Annemarie Techand ist 1945 achtundzwanzig Jahre alt.

      Hildesheim, d. 4.3.45

      Liebe Mutti!

      Heute will ich mal an Dich einen Brief schreiben. Bis jetzt schrieb ich ja immer nur Hanna. Ja, heut ist Hannuschs Geburtstag und wir sagten schon vorhin, wäre alles so gekommen, wie man es sich dachte und wir hätten nach Hause fahren können, hättest Du heut sicher das letzte Glas Erdbeeren zur Torte aufgemacht. So knabberten wir zwei übriggebliebene Pfefferkuchen von Weihnachten und mussten auch zufrieden sein. Ob ihr euch einen Kuchen habt backen können? Ja, mit der Ernährung, das wird jetzt schwierig. Es gibt jetzt kein markenfreies Stammgericht mehr, Gas haben wir noch keins zum Kochen (haben es aber schon beantragt) und Kartoffeln haben wir auch keine, da hat Friedel die Marken dummerweise im Rosenstock abgegeben, wir wollen sie uns aber wiedergeben lassen. Sicher können wir noch von Frau Fezaruk welche erben, sie hat uns ja immer welche gegeben. Friedel hat immer dollen Hunger, mit mir geht’s. Und meine schönen Zusatzmarken fallen auch weg. Nur noch ein paar Liter Milch haben wir. – In unserer neuen Wohnung ist es sehr nett. Heute haben wir zwar sehr gefroren. Die Gasheizung ging erst nachmittags anzustellen, war vormittags ganz schwach nach den gestrigen Bombenabwürfen. Gut, dass uns Friedel vorgestern Nachmittag auf der Polizei anmeldete, gestern stand sie schon nicht mehr. Am 24., als wir entlassen wurden, schmissen sie paar dicke Bomben auf Hildesheim. Es gab dreihundert Tote und einige der schönsten alten Straßen sind hin. Ja, die Hildesheimer waren leichtsinnig. Jetzt sind die Stollen überfüllt, schon, wenn gar nichts los ist. Gestern Abend war es beängstigend, so wahnsinnig überfüllt, dass wir jetzt nicht reingehen wollen, sondern im Splittergraben4 vorm Haus bleiben, oder in den Wald gehen. Heute war nun den ganzen Tag kein Alarm, das ist wie ein Geschenk. Unsere Wäsche haben wir gar nicht trocken bekommen, d. h. die Bettwäsche schon, die haben wir heute aufgezogen, Friedel hat heut Vormittag geplättet, ich blieb im Bett und nähte. Bis jetzt schliefen wir zusammen in »roten«5! Man kommt sich so verwahrlost vor. Eine Zeitlang war kein Wasser, oft kein Licht! Meine Haare sind seit Danzig nicht gewaschen. Die Klamotten vom Umziehen verknüllt und nicht in Ordnung. Der ewige Schieß-Alarm. Jetzt ist auch noch mal solch ein scheußliches, kaltes Mistwetter! Friedel schimpft so wegen der Wäsche. Der Trockenplatz ist zwischen niedrigen Obstbäumen, dass die großen Stücke immer an die Zweige anschlagen und ganz dreckig werden. Wir haben uns so geärgert. Tante Dora hätte wohl nicht einmal Bettwäsche für mich zum Wechseln? Ihr lasst gar nichts von Euch hören. Schreib mir doch gleich, ob Du lieber dicke oder dünne Schlüpfer oder Strümpfe auf Deine Karte haben möchtest! Hat Vater mal geschrieben? Ich will mal jetzt an ihn schreiben. – Machst Du jetzt dort den Haushalt, Muttchen? Sicher doch. Aber Du hast ja Hanna zur Hilfe. Am liebsten möchte ich manchmal meine Sachen packen und auch zu Euch kommen. Aber ihr habt sicher schon knapp Platz und was sollte ich dort arbeiten? Ich bin so froh, dass ich mit Friedel zusammen sein kann und ihr seid wenigstens auch zusammen! Nun schreibt mir bloß bald mal. Hoffentlich sind die zwei Päckchen und Hannas Geburtstagsbrief schon