Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa

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Название Mit dem Mut einer Frau
Автор произведения Jane Pejsa
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865064493



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      Jürgens Schwester Elisabeth, sein Bruder Hans Anton, der Graf und die Gräfin von Zedlitz sowie Ruths Schwestern und Brüder sind mit ihren Ehepartnern in Kieckow versammelt. Elisabeth trägt Trauerkleidung und um den Hals das goldumrandete Stolbergsche Kreuz. Davon nimmt Ruth jedoch keine Notiz, ihre Trauer ist zu tief. Sie trägt das lange, schwarze Kleid, das damals für sie genäht wurde, als ihr Schwiegervater Hans Hugo starb.

      Von nah und fern kommen Besucher, um an der Beerdigung teilzunehmen und um der jungen Witwe zu dem schweren Verlust ihre Anteilnahme auszusprechen, deren verstorbener Mann die Hoffnungen auf die Zukunft Preußens und des Deutschen Reiches verkörpert hatte. Die Kirche von Kieckow ist zum Bersten gefüllt, allein der Platz des Gutsherrn bleibt leer – für Ruth ein sehr schmerzhafter Hinweis, dass Jürgen nie wieder an ihrer Seite sein wird. Im Friedhof neben der Kirche war bereits ein Grab ausgehoben, nach dem Gottesdienst ordnet die Witwe jedoch an, der Sarg solle nicht auf den Friedhof, sondern in die Gruft unterhalb der Kirche neben die Särge seiner Eltern getragen werden.

      Nachdem der Sarg dort abgestellt ist, bittet Ruth, allein gelassen zu werden. Mit der kleinen Ruth auf dem Arm führt sie dann ihre vier größeren Kinder die drei Stufen hi­nunter in die Gruft. Hans Jürgen hält Spes fest an der Hand, Maria klammert sich schutzsuchend an Konstantin. Ruth versammelt ihre Kinder rund um den Sarg und spricht Worte zu ihnen, die sie noch nicht verstehen: »Treu bis zum Tode – so war euer Vater und auch euer Großvater vor ihm. Das werden auch wir sein. So lautet mein Glaube, möge es auch der eure werden – treu bis zum Tode.«

      An den darauffolgenden Tagen verabschieden sich die Freun­de und Familienmitglieder nach und nach von der trau­ernden Familie in Kieckow. Schließlich ist nur noch Ruths Vater geblieben. Ruth, die zum ersten Mal mit ihm allein ist, wirft sich ihm in die Arme. Nun stürzen alle Tränen, die seit Jürgens Tod unterdrückt waren. »Vater, ich schaffe es nicht«, weint sie. Ohne zu zögern antwortet er: »Jetzt im Moment kannst du es nicht, mein Kind, aber du wirst es lernen.« Die beiden sprechen von der Zukunft Kieckows.

      Unter den Junkern gibt es kaum Fälle, in denen Landbesitze nach dem Tod des Herrn von der Witwe weitergeführt werden. In der Familie Kleist war dies einmal bereits der Fall, als die verwitwete Mutter des ersten Hans Jürgen Mut genug hatte, Groß Tychow und Klein Krössin zu erhalten, bis ihr Sohn erwachsen war. Seither ist ihre Beherztheit immer wieder bewundert worden. Ruths Vater versichert ihr, sie sei aus dem gleichen Holz geschnitzt und könne es ebenso schaffen. Ruth erklärt sich bereit, die Herausforderung anzunehmen, auch wenn sie wenig Vertrauen in ihre Fähigkeit, ein Gut zu leiten, setzt.

      Nach der Abreise des Vaters ist Ruth allein mit ihrer Trauer, ihren Kindern, dem Gutshaus, zwei Dörfern und einem großen landwirtschaftlichen Betrieb. Sobald seine Kutsche außer Sichtweite ist, geht sie an das Büfett im Speisesaal, entnimmt zwei Kerzenleuchter aus Zinn, zwei lange Kerzen, Streichhölzer und einen Feuerstein, eilt dann zu dem großen Garderobenschrank in der Eingangshalle, wählt einen Umhang mit Kapuze, zieht ihn an und verlässt leise das Haus. Die Sonne ist längst untergegangen, aber es ist noch nicht Zeit zum Abendessen. Sie läuft die Straße hinunter, nach links durch das Dorf, am Teich vorbei zur Rückseite der Kirche und steigt die drei Stufen zur Gruft hinab. Sie öffnet die Tür und betritt den dunklen, feuchten Raum. Vorsichtig tastet sie sich zum Altar, steckt die Kerzen in die Leuchter und entzündet sie mit einem Streichholz. Mehr als eine Stunde lang ist sie mit Jürgen allein, als die Hausdame in der Tür steht. »Gnädige Frau? Frau von Kleist, Ihre Kinder warten auf Sie und das Baby weint. Bitte kommen Sie zum Abendessen.«

      1898, Juni. Zuversichtlich und voller Energie kommt Ruths Vater aus Großenborau in Kieckow an, bereit, die Situation des Landbesitzes mit seiner Tochter und dem Verwalter zu besprechen. Er wird in Belgard mit der Kutsche abgeholt und zum Gutshaus gebracht, wo er an der Tür von Ruth und einer Schar Kinder begrüßt wird. Dass die junge Mutter, gerade 32 Jahre alt, sogar zu Hause von Kopf bis Fuß tiefstes Schwarz trägt und ihr Gesicht mit einem schwarzen Schleier bedeckt, beunruhigt ihn. Dennoch ist es ein fröh­liches Wiedersehen, als alle zusammen in der Bibliothek den Tee einnehmen. Ein Diener geleitet dann den Vater hinauf ins Gästezimmer im ersten Stock. Er öffnet gerade erst seine Tasche, als es schon an der Tür klopft. Es ist die Hausdame. »Der Herr Graf möge mich entschuldigen, ich würde ihn gerne einen Moment sprechen.« Graf Robert bittet sie einzutreten und schließt die Tür; beide bleiben stehen. »Es geht um Ihre Tochter, Frau von Kleist; es stimmt etwas nicht mit ihr. Jede Nacht ist sie unten in der Gruft und sitzt bei den Toten. Mindestens einmal die Woche beteiligt sie sogar die Kinder daran. Ich weiß, es ist nicht gut für sie, aber ich habe da keinen Einfluss. Ich wollte nur, dass Sie wissen, wie es steht. Bitte entschuldigen Sie mich, Herr Graf.«

      Mit einem Knicks verabschiedet sie sich, geht zur Tür, öffnet sie und ist verschwunden.

      Zwei Tage lang lässt sich der Vater Zeit, um zu beobachten. Besonders auf seine älteste Enkelin Spes richtet er sein Augenmerk, die, jetzt zehn Jahre alt, ihn ein wenig an seine Tochter Ruth erinnert. Sie besitzt dasselbe Temperament wie Ruth, ihr fehlt jedoch ein wenig die starke Führung, die nur ein Vater geben kann. In Gedanken nimmt er sich vor, hier später vielleicht behilflich zu werden. Ansonsten findet er die Kinder in jeder Weise vorbildlich, was ihm unter vier Augen auch von dem Kindermädchen und der erst kürzlich eingestellten Gouvernante bestätigt wird. Wie ihm der Verwalter berichtet, ist die Aussaat in vollem Gange und der landwirtschaftliche Betrieb scheint in guten Händen zu sein. Über die Schulden, die auf Kieckow lasten, kann er jedoch nur mit Ruth sprechen. Dafür, entscheidet er, ist aber noch nicht die richtige Zeit gekommen.

      Am dritten Abend seines Besuchs spricht er seine Tochter in der Bibliothek direkt an: »Ruth, es ist an der Zeit, mit dem Trauern aufzuhören. Nimm Hut und Schleier ab, sie sind nicht mehr gut für dich. Kümmere dich um deine Kinder, bevor du es vielleicht einmal bereust. Und lass die Toten in Frieden ruhen, auch deinen Mann Jürgen. Gib morgen den Arbeitern die Anweisung, drei Gräber auszuheben, bestatte die Särge und verriegele die Tür zur Gruft. Ich halte den Zustand unter der Kirche für barbarisch, ja sogar für unchristlich.«

      Ruth schockieren die Worte ihres Vaters und wieder fließen die Tränen so, dass sie nicht sprechen kann. Der Vater wartet geduldig, bis sie die Fassung wiedergewinnt. Dann erklärt sie ihm, die Särge von Jürgens Eltern seien nicht beerdigt worden, da sich nach dem Tod von Jürgens Vater die Geschwister nicht entschließen konnten, ihre Eltern auf dem Friedhof von Kieckow zu bestatten. Warum, wisse sie nicht, da Jürgen nie darüber sprechen wollte. Dass es mit Jürgen so nicht weitergehen könne, wisse sie. In Wirklichkeit täte es ihr weh, seinen Sarg in der dunklen Gruft sehen zu müssen, aber bislang konnte sie sich einfach noch nicht zu der Anweisung durchringen, ihn begraben zu lassen. Sie geht zu ihrem Vater und umarmt ihn voll Dankbarkeit.

      Am Morgen von Vaters letztem Tag in Kieckow ergeht die Anordnung, den verstorbenen Gutsherrn beerdigen zu lassen. Am Nachmittag begeben sich Ruth, ihr Vater und die fünf Kinder zum Friedhof, wo der Pastor ohne allzu viel Emotionen eine fast nüchterne, mit vielen Gebeten angereicherte Andacht hält. Nach der Segnung hebt der Vater seine Hand, als wolle auch er die Gruppe segnen. Stattdessen erklärt er mit einer Stimme, die sonst im Parlament angebracht ist: »Die Zeit der Trauer in Kieckow ist vorbei.«

      Am nächsten Morgen begleitet Ruth ihren Vater im offenen Wagen nach Belgard. Sie sitzt neben ihm und dem Kutscher auf der Bank, sie trägt ein einfaches, schwarzes Kleid, dazu einen schwarz-weißen Umhang und ihren schwarzen Hut, jedoch keinen Schleier mehr. Auf der Straße zwischen Kieckow und Klein Krössin winken die Männer von den Feldern ihrer Herrin und dem Besucher zu. Die beiden winken zurück und lächeln freundlich.

      Juni. Nachdem Ruth nun nicht mehr in die Gruft gehen muss, hat sie eine andere Möglichkeit gefunden, ihren unersetzlichen Verlust zu überwinden. Sie hat sich vorgenommen, die Geschichte ihrer Ehe niederzuschreiben, damit sie und ihre Nachfahren den Mann niemals vergessen, den sie über alles liebte – Jürgen von Kleist aus Kieckow. In den langen Abendstunden des Sommers sitzt sie an ihrem Schreibtisch und beginnt, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. Die Erinnerungen werden nie beendet werden. Während ihres langen Lebens schreibt Ruth immer wieder ein wenig weiter, vor allem, wenn Ereignisse der Gegenwart zu schmerzlich sind, um darüber nachzudenken. Sie erinnert sich daran, was Jürgen so einzigartig machte, ihn von allen anderen Männern