Mit dem Mut einer Frau. Jane Pejsa

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Название Mit dem Mut einer Frau
Автор произведения Jane Pejsa
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783865064493



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Erntekrone der alten Frau und überreicht sie feierlich dem Herrn von Kieckow und Klein Krössin.

      Gutshaus in Kieckow

      Wieder ertönt die Posaune, diesmal mit der Melodie eines Erntedankliedes, das an diesem Sonntag in jeder Kirche auf jedem Landsitz in ganz Preußen gesungen wurde, solange die Erinnerung zurückreicht:

      Nun danket alle Gott

       Mit Herzen, Mund und Händen …

      Nun ist der Gutsherr an der Reihe. In dem Bewusstsein, in Vaters Fußstapfen zu treten, richtet Jürgen, die Erntekrone in Händen haltend, das Wort an die Menge. Das Thema dieses Erntedankliedes aufnehmend, dankt er Gott für die reiche Ernte und allen Bewohnern von Kieckow und Klein Krössin für ihre geleistete harte Arbeit, ihre Ehrlichkeit und ihre Treue zu Gott, dem Vaterland und dem Hause Kleist. Abschließend dankt er dem verstorbenen Herrn von Kieckow dafür, dass die Familie Kleist nun wieder in der traditionellen Landwirtschaft in diesem alten preußischen Gebiet tätig sein kann. Wegen seiner angeschlagenen Gesundheit ist die Rede kurz, manche Zuhörer sind jedoch zu Tränen gerührt.

      Nun tritt der Vorarbeiter vor, um dem Gutsherrn mit den traditionellen Worten zu antworten. Er nimmt diese Gelegenheit mit besonderer Ergebenheit wahr, da auch das Dorf unter der jahrelangen Verpachtung des Guts gelitten hat. Anschließend dreht er sich seinen Männern zu, die mit ihm zusammen den Hochruf ausbringen: »Er lebe hoch, lebe hoch, lebe hoch.« Er wird traditionsgemäß dreimal ausgerufen – einmal für den Gutsherrn, einmal für die Herrin und das dritte Mal für die Kinder des Gutshauses. Zu jedem Wort schlagen die Männer ihre Sensen im Takt aneinander. Wieder stimmen die Dorfbewohner ein Lied an, während der Gutsherr die Erntekrone an einem gut sichtbaren Platz auf der Vorderseite des Hauses aufhängt, wo sie bis zur nächsten Ernte bleiben wird.

      Dies war nur der erste Akt. Der zweite Akt ist das Festessen, das in dem leeren Kornspeicher stattfindet. Ein Dutzend lange Tische wurden für das Festmahl aufgestellt, auf der einen Seite sitzen der Gutsherr, seine Familie und seine Freunde, die andere Seite ist für die Dorfbewohner reserviert. Als alle sitzen, erhebt sich der Pastor, um das Tischgebet zu sprechen. Dann müssen alle noch einmal aufstehen, und als sie endlich so weit sind, folgt ein »Hoch« auf den Kaiser. Nun kann die Mahlzeit serviert werden, die mithilfe aller 40 Dienstboten, die auf die eine oder andere Weise mit dem Gutshaus in Verbindung stehen, zubereitet wurde. In dem großen, hohen Raum herrscht ausgelassene Stimmung, man hört fröhliches Gelächter.

      Nach dem Essen erhebt sich Jürgen von Kleist, einen riesigen silbernen Weinkelch in der Hand. Er lädt alle ein, mit ihm zu trinken, nimmt einen Schluck und gibt den Kelch an Ruth weiter, die ebenso daraus trinkt; der Kelch wird von Person zu Person den ganzen Tisch entlang weitergereicht. Ein Dienstbote steht bereit, um den Kelch zum nächsten Tisch zu bringen, wo er wieder weitergereicht wird, und weiter zum nächs­ten Tisch, bis jeder von dem Wein getrunken hat.

      Draußen auf dem Rasen rennen die Kinder ausgelassen hin und her. Sie können ihre Vorfreude kaum verbergen, denn sie wissen, dass der dritte Akt speziell ihnen gilt. Mitten unter den Kindern befinden sich auch Hans Jürgen, Spes, Konstantin und Maria. Nun kommt der große Moment für die neue Herrin. Ruth veranstaltet für die Kinder eine Reihe von Spielen – Sackhüpfen, Blindekuh und ein Wettklettern –, die sie selbst als Kind gern gespielt hat. Für die Gewinner gibt es kleine Preise, die offiziell mit Handschlag übergeben werden.

      Der letzte Akt findet auf der Wiese unter den Bäumen statt. Dafür haben die Männer des Dorfes bereits die langen Tische und Stühle nach draußen gebracht. Die Dienerschaft deckt die Tische und schleppt Kannen mit Kaffee und Kuchentabletts herbei, während alle Plätze um die Tische herum schnell besetzt sind. Entsprechend der Tradition, die vor zwei Jahrzehnten von Ruths Schwiegermutter eingeführt wurde, geht Ruth mit den Kaffeekannen von Tisch zu Tisch und schenkt persönlich den heißen Kaffee in leere Tassen oder füllt unermüdlich halb leere nach, bis die Dorfbewohner bei Sonnenuntergang und der einsetzenden Kühle des Abends nach Hause zurückkehren. Immer wieder bedanken sie sich überschwänglich, oft mit Tränen in den Augen, und verabschieden sich bis zum nächsten Jahr.

      Im nächsten Jahr wird jedoch kein Erntedankfest stattfinden; erst eine Generation später wird dieses Fest wieder in Kieckow gefeiert werden.

      1896, November. Durch das Fest wurde Jürgens Gemütszustand stark verbessert, es konnte jedoch nicht dazu beitragen, seine ständig fortschreitende Krankheit aufzuhalten. Ruth ist stolz darauf, wie sehr Jürgen und den Dorfbewohnern dieses von ihr ganz allein organisierte Fest gefallen hat, ihre frohe Stimmung schlägt jedoch schnell um, als sie Jürgens schlimmer werdende Schmerzen bemerkt. Es fällt ihm bereits schwer, zu essen, er magert zusehends ab. Sein Arzt verschreibt ihm abermals einen einmonatigen Ortswechsel, diesmal in ein Sanatorium im Süden. Einen ganzen Monat lang erholen sich Jürgen und Ruth, die mit ihrem fünften Kind schwanger ist, in einem Kurort in den Bergen. Pflichtbewusst trinken sie das Wasser, baden in den mineralischen Heil­bädern und halten sich an eine milde Diät, die den Kranken gesund machen und der werdenden Mutter guttun soll. Jürgens Zustand bessert sich jedoch nicht merklich.

      1897, Mai. Die dritte Tochter von Ruth und Jürgen wird in der Residenz des Landrats von Belgard geboren. Wenige Tage später wird sie in der alten Marienkirche auf den Namen Ruth getauft, das Wasser dazu wird der Taufschale aus Kie­ckow entnommen. Ihre Mutter vergießt Tränen des Glücks und der Trauer, ahnt sie doch, dass ihre jüngste Tochter den Vater nie richtig kennenlernen wird.

      Oktober. Die Residenz des Landrats in Belgard steht fast leer, seit der Landrat nicht mehr in der Lage ist, seinen beruflichen Pflichten nachzukommen. Leidend schleppt er sich auf dem Gut umher, sitzt allein auf der Veranda und versucht, im Anblick des Waldes Trost zu finden. Weder seine Frau noch die Kinder, nicht einmal seine jüngste Tochter, können seine Leiden lindern, da die Schmerzen unerträglich geworden sind. Nach Ansicht des Arztes leidet Jürgen an einer Nierenerkrankung, die sich in ihrem weiteren Verlauf auch auf sein Gehirn auswirken wird. Die Diagnose bestätigt sich, denn mittlerweile erkennt Jürgen kaum mehr seine eigenen Kinder. Zwar hat der Arzt jede Hoffnung auf Heilung aufgegeben, aber dennoch schlägt er Ruth vor, Jürgen noch einmal in ein Sanatorium zu bringen.

      Ruth ist hin- und hergerissen zwischen den Bedürfnissen ihres Mannes und ihren Mutterpflichten, letztendlich entscheidet sie sich zugunsten ihres Mannes. Der Winter steht vor der Tür und es kostet Ruth ihre gesamte Kraft, Jürgen in ein Sanatorium in den österreichischen Alpen zu bringen. Unter Mithilfe des Kutschers und des Gutsverwalters wird er in die Kutsche geladen zur Fahrt nach Belgard, wo er in ein Zugabteil, das in ein Kojenbett umgebaut worden war, getragen wird. Von da ab ist sie allein mit ihrem Patienten und versucht, ihm die Reise so bequem wie möglich zu machen. In Dresden müssen sie in einen anderen Zug umsteigen, um nach Österreich zu gelangen. Lange vor der Ankunft in Dresden verschlechtert sich Jürgens Zustand so dramatisch, dass Ruth den Entschluss fasst, nicht weiterzufahren. In Dresden angekommen, holt sie Hilfe herbei und lässt ihren sterbenden Mann in ein Hotelzimmer bringen.

      November. Jürgen von Kleist verlässt diese Welt in einem ihm fremden Hotelzimmer in Dresden. Ruth kehrt mit dem Sarg ihres verstorbenen Mannes im Zug nach Kieckow zurück. Ihr ganzes Leben lang hat sie ein Übermaß an Tränen vergossen, auch wenn es manchmal gar nicht notwendig war, aber jetzt fließt keine einzige.

      Der große Saal ist schwarz dekoriert, Jürgens Sarg steht bis zu seiner Bestattung in der Mitte des Raumes. Ruth, die noch kaum Todesfälle in der Familie erlebt hat, fühlt sich zunächst getröstet durch die kleineren Kinder, die, scheinbar ungestört durch den Sarg, weiterhin ihren Spielen nachgehen. Eines Nachmittags jedoch, als sie am Zimmer der Buben vorbeikommt, dringt herzerweichendes Weinen durch die geschlossene Tür. Sie betritt das Zimmer und findet den siebenjährigen Konstantin in tiefem Schmerz auf dem Boden liegend. Als sie ihn in die Arme nimmt und ihn endlich beruhigen kann, bittet der Junge sie, den Sarg zu öffnen, damit er einmal noch seinen Vater ansehen könne. Ruth muss es ihm verweigern. Nie wieder in seinem Leben wird Konstantin Tränen vergießen. Es wird gelegentlich vorkommen, dass sie