Wenn wir die Masken fallen lassen. Ulrike Quast

Читать онлайн.
Название Wenn wir die Masken fallen lassen
Автор произведения Ulrike Quast
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960086239



Скачать книгу

Ich denk‘ schon.“

      Da war es wieder. Ihr Lächeln, das die trüben Gedanken vertrieb. Ein Lächeln – wie eine Morgendämmerung. Oder wie eine rosa Mohnblume. Sind Mohnblumen nicht leuchtend rot?

      „Und … was machen Sie so? … Ich meine, wenn Sie nicht gerade auf Bahnsteigen rumstehen.“

      „Ich? … Seelen flicken. Jedenfalls …. versuch‘ ich‘s. Ich bin Psychologin…. Oh, kommen Sie. Schnell!“

      Der Zug war inzwischen eingefahren. Er stand schon eine Weile lang da. Der Schaffner riss die Wagentür auf und rief Robert und Katharina zu: „Beeilen Sie sich.“ Die beiden stiegen hastig ein. Als sie das Abteil betraten, fuhr der Zug auch schon los. Es gab noch genügend freie Plätze und das wenige Gepäck war schnell verstaut. Robert setzte sich auf einen Fensterplatz. Er saß Katharina gegenüber. So konnte man reden. So konnte man fast gleichzeitig ihre Augen sehen und aus dem Fenster schauen. Draußen ziehen Bilder vorüber: Häuser tauchen auf und rücken in die Ferne. Felder leuchten goldgelb. Weite Rapsfelder, die den Horizont berühren. Ein paar Wolken driften am Himmel vorbei. An den Straßenrändern stehen blühende Bäume. Telefonmasten überbrücken Entfernungen. Wie weit sie wohl reichen?

      „Wie weit fahren Sie denn?“, fragte Katharina. – ‚Ob sie Gedanken lesen kann?‘ … „Nach K., in meine alte Heimat.“ – „Aber … Dann geh‘n Sie wohl zurück?“ – „Nein, nur für kurze Zeit. Eigentlich will ich wiederkommen … Jetzt, wo ich Sie kenne…“ – „Aha. Sie kennen mich also. … Das geht aber schnell bei Ihnen.“ – „Manchmal schon…. Und? … Fahren Sie auch nach K.?“ – „Nein. Aber ganz in Ihre Nähe. … Ich mache eine Fortbildung – Hypnosetherapie.“ Robert blickte Katharina irritiert an: „Das ist doch Manipulation, oder?“ – „Manipulation? …. Wie kommen Sie denn darauf.“ – „Na? Und? … Manipulieren Sie nun?“ – „Nein.“ Katharina lachte. „Also, wirklich!…. Sie haben doch nicht etwa Vorurteile?“ – „Na gut. Soll ich ehrlich sein? Ihr Psychologen redet einem doch so lange ein, dass man verrückt ist, bis man‘s selber glaubt. Und ihr könnt Gedanken lesen. …. Oder etwa nicht?“ – „Ich? Natürlich nicht…. Aber … hinter der Fassade … Dort schau‘ ich schon ab und zu mal nach.“

      Robert wurde plötzlich still. Die Welt hinter der Fassade. Das andere, das unsichtbare Ich. Er hatte es erfahren. Eines Tages offenbarte es sich. Obwohl es ihm lange verborgen blieb. Weil er es ignorierte. Weil sich das Leben für Robert eher draußen abgespielte. – Seelenpiss. Das war früher nie seine Sache. Bis er sich auf eine Reise nach Innen begab. Unwillkürlich musste er nun an sie denken. Sie, die er begraben hatte. Ganz tief unten im Gedächtnis. Bei den Lebensirrtümern, die man am liebsten ungeschehen macht. Post-phalliatische Amnesie. Oder besser: Man geht an den Ausgangspunkt des Geschehens zurück. Klappe, die zweite. Als ob bereute Lebensentschlüsse mit einem verpatzten Rollenspiel zu vergleichen sind! Oder mit einem Fehlstart.

      Obwohl. Es gab Hinweise. Lange schon. Hinweise seiner Freunde. Seine eigenen Bedenken. Signale, die von ihr ausgingen. Die er nicht hätte wegwischen sollen. Ihre allzu kompromisslose Art, die Welt zu betrachten. Ihre Mitmenschen zu verurteilen. Diese Prinzipienreiterei. Und die Heimlichkeiten. Robert hatte manchmal das Gefühl, dass sie ihm etwas verschwieg. Etwas, das mit ihr und ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Etwas, das auch ihn anging. All das waren Anzeichen, die er hätte ernst nehmen sollen! Er säße nicht in diesem Zug. Er hätte nicht diese Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die sein altes, sein gewohntes Leben umstoßen würde. Sein Leben wäre ohnehin ganz anders verlaufen.

      Eine Stimme riss Robert aus seinen Gedanken: „Ihre Fahrkarten, bitte.“ Als Katharina dem Schaffner ihre Bahncard reichte, sah Robert ein großes B hinter ihrem Vornamen. B – wie „begegnen“. Robert kramte in seiner Tasche. Schließlich hielt er sein Notizbuch in der Hand und blätterte darin. Dann zeigte er Katharina eine Skizze: Farbige Linien, die zusammentreffen. Die sich in einem Punkt berühren. Ein Moment der Begegnung. Dann strömen die Linien in verschiedene Richtungen auseinander. Darunter waren unleserliche Worte gekritzelt.

      „Hier…. Sehen Sie mal. Das sind wir.“ – „Oh, tatsächlich?… Wie deprimierend…Haben Sie mal einen Stift?“ Robert zog für sie einen Bleistift aus der Jackentasche. Katharina nahm ihn und malte zwei Linien, die sich einander nähern. Der Platz in Roberts Notizbuch reichte nicht aus, und sie skizzierte auf der Fensterbank weiter: „So…. Das gefällt mir schon besser… Man trifft sich nämlich immer zweimal im Leben…. Die Dualität der Ereignisse. Wissen Sie?“ Robert nickte vielsagend. „Dass ihr euch im Westen auch damit beschäftigt…“ – „Na, da hoffe ich mal, dass ich Ihr Weltbild nicht erschüttert hab‘. … Aber Sie lächeln ja noch. … Dann… Warte mal. … Ich möchte dir noch was zeigen.“ Es fiel ihm auf, dass er sie plötzlich duzte. Sie schien jedoch nichts dagegen zu haben.

      Robert blätterte wieder in seinem Buch. Er wies auf eine mit Bleistift beschriebene Seite: „Hier, sieh mal. Du kannst es gern lesen.“ Die Sätze hatte er erst gestern notiert. Nun schaute er Katharina zu, wie sie las. Es war merkwürdig, dass er einer wildfremden Frau so einfach seine Aufzeichnungen anvertraute.

      „Klänge schweben durch den Raum. Sie erzählen Geschichten. Geschichten, die sich, kaum dass sie da sind, wieder verflüchtigen. Manche Klangfolgen erscheinen wieder. Tänzelnd bewegen sie sich aufeinander zu. Im Wechseltakt. Bis sie, eine in die andere, überfließen. Bis sie verschmelzen. – Ein letzter Tanz. Eine letzte Umarmung. Dann strömen sie wieder auseinander. Sie driften davon. Später der Moment des Umkehrens. Plötzlich. Motive steuern erneut aufeinander zu. Sie versinken ineinander. Sie werden eins. Das Weiche, Fließende und das Harte, Abgehackte. Ein Wechselspiel. Immer wieder.“

      „…Und das Schöne dabei ist … Du weißt vorher nie, wohin es dich lenkt. Du folgst einfach den Impulsen in dir. Und jeder Impuls führt dich zum nächsten. … In der Musik wie im Leben.“ – „Dann sind wir nur zufällig hier?“ – „Vielleicht… Vielleicht nicht… Da ist ja auch noch die Bestimmung. Die Vorherbestimmung.“ – „Und? Glaubst du an Zufälle?“ – „Na, klar. … Obwohl… Meinst du, dass wir uns heute wirklich nur zufällig begegnet sind?”

      3

      In K. war der Himmel bewölkt. Schon in den frühen Morgenstunden hing ein Dunstschleier über der Stadt. Der Tag blieb trüb und die Abenddämmerung setzte früher als gewöhnlich ein. Auch im Zimmer brannte kein Licht. Hella hatte die Vorhänge zugezogen. Sie saß im Halbdunkeln. Das tut sie öfter in letzter Zeit. Sie ist dann für keinen zu sprechen. Sie ist scheinbar lautlos und unsichtbar. Ihr Dasein ist ausgelöscht. Sie ist nicht existent. – Einfach ins Nichts eintauchen! Wie in einen Sog gezogen werden und sich auflösen. Nicht da sein, nicht gewesen sein, nicht werden. Weder im Raum noch in der Zeit existieren. Eine Vision, die sie sich gerne ausmalte. Eine Idee, über die sie nachsann. Die Idee von der Nicht-Existenz. Vom Nichtsein.

      Doch Hella saß da. Sie saß im Wohnzimmer und hielt diesen Brief in der Hand. Einen Brief von Robert. Nachdem sie ihn wieder und wieder gelesen hatte, zerknüllte sie das Papier. Sie drückte es fest zusammen. Bis ihre Finger zitterten. Die Worte kannte sie längst auswendig: „Ich werde nicht mehr zu dir zurückkommen. Wir haben uns auseinander gelebt und mir ist klar geworden, dass es mir ohne dich besser geht. Meine Entscheidung fühlt sich einfach richtig an. Ich hoffe, du verstehst das. Bitte glaub mir, es tut mir leid. Es tut mir leid um uns und unsere Träume! Robert.“ Er wolle noch diese Woche kommen und seine Sachen abholen.

      Das klang endgültig. Unumkehrbar. Ob es ihm wirklich ernst war? Hella schüttelte den Kopf. Sie hatte auf ihn gewartet. Auch dieses Mal. Und sie hatte gehofft. Als er ihr vor einem halben Jahr mitteilte, er würde die Gastprofessur in L. antreten, redete sie ihm zu: „Der Abstand wird uns gut tun.“ Sie gab vor, seinen resignierten Blick nicht zu bemerken. Zwei Tage später fuhr er weg, ohne sich von ihr zu verabschieden. Nur ein Zettel lag auf dem Küchentisch: „Mein Zug geht um 9.28. Du schläfst noch. Ich wecke dich nicht. Mach’s gut. R.“ Früher hätte er sie gebeten, ihn auf den Bahnhof zu begleiten. Früher hätte er sich nicht von ihr losreißen wollen. Wahrscheinlich wäre