Mamsellenmord in der Friedrichstadt. Horst Bosetzky

Читать онлайн.
Название Mamsellenmord in der Friedrichstadt
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520335



Скачать книгу

Sie mit Gott, dann gehen Sie mit keinem Spitzbuben.«

      »Das wäre nur der Fall, wenn Sie mitkommen würden«, murmelte Werpel, der genau wusste, dass Tillack schon so manchen Menschen übers Ohr gehauen hatte.

      Ihre erste Station war also der Tabakwarenhändler Krummrey, den sie baten, seine Hauswirtschafterin zwecks Befragung nach vorn ins Ladenlocal zu holen. Die Mamsell Jolanthe Junge erschien auch sogleich, konnte sich aber nicht erinnern, dass sie in letzter Zeit von einem Kerl lüstern angeguckt oder gar bedrängt worden wäre.

      »Da war nüscht mehr, Herr Kumsargus, seit ick ma dem Bölzke ’n paar jescheuert habe.«

      »Wer ist das, Bölzke?«

      »Eena von die Eckensteha.«

      »Nun gut.« Werpel machte sich eine Notiz und verzichtete auf irgendwelche Nachfragen. Sich in der Charité umzuhören erschien ihm erfolgversprechender.

      In einem Flügel der Alten Charité, erbaut von 1785 bis 1800, war die größte Abteilung für Irre und Wahnwitzige im deutschen Raum entstanden, und Ernst Horn war als erster Professor für Psychiatrie in Deutschland berufen worden. Obwohl Horn der Ansicht gewesen war, dass Geisteskrankheiten körperliche Leiden waren, hatte er versucht, die Kranken mit Zwangsmaßnahmen wie Drehstuhl, Drehbrett und Tretmühle zu therapieren, aber auch dadurch, dass er sie für längere Zeit in einem Sack unterbrachte und damit isolierte. Seit 1828 leitete Karl Wilhelm Ideler unter weitgehender Übernahme dieser Behandlungsprinzipien die Irren-, Deliranten-, Krampfabteilung der Charité. 1834 war man in die Neue Charité umgezogen, ohne dass sich die Bedingungen verbessert hätten.

      »Wer hier landet, kann jede Hoffnung fahrenlassen«, sagte Werpel, als sie das Gebäude betraten.

      »Denn vadufte ick mal lieba!«, rief Krause. »Sie brauchen mir ja nich mehr.«

      Werpel ließ ihn ziehen. Die Gefahr, sich mit ihm bei Professor Ideler zu blamieren, erschien ihm zu groß.

      Karl Wilhelm Ideler, der aus Bentwisch bei Wittenberge stammte, war mit seinem Grundriss der Seelenheilkunde, erschienen 1835, bekannt geworden. Werpel ließ sich von einem Assistenten bei ihm melden. Nach einer Viertelstunde wurde er vorgelassen.

      »Was führt Sie zu mir?«, fragte Ideler.

      Werpel fühlte sich gar nicht wohl dabei, wie ihn der Irrenarzt musterte, und redete deswegen ein wenig wirr.

      »Ja, wegen der Rotkappe … Die soll die Jolanthe abgestochen haben. Also die Sau vom Tillack. Das soll ein Kobold gewesen sein. Nicht der Tillack, das ist ein Grundbesitzer, sondern der Mann, der seine Sau …«

      »Machen Sie sich einmal frei!«, befahl ihm der Professor.

      »Ich bin kein Irrer«, rief Werpel, »ich bin Criminal-Commissarius!«

      »Ja, ja, gestern war einer hier, der hat sich als Kronprinz Wilhelm ausgegeben«, sagte der Assistent.

      Es dauerte Minuten, bis das Missverständnis ausgeräumt worden war und Werpel endlich fragen konnte, ob man einen Insassen vermisse, dem zuzutrauen sei, Tiere, insbesondere Schweine, abstechen zu wollen. »Vielleicht um sich in einen Blutrausch zu versetzen.«

      »Nein, von unseren Kranken ist keiner entwichen«, antwortete Ideler. »Aber derjenige, von dem Sie berichten, dass er auf das Schwein eingestochen hat, wird alsbald bei uns eingeliefert werden. Denn unser Gott bestraft alle Sünden, und sei es dadurch, dass er einen Menschen irre werden lässt und damit auf die unterste Stufe des Menschseins setzt.«

      Als Werpel die Charité verließ, war er noch immer etwas verstört.

      Bäume gab es nur wenige auf Berlins Straßen und Plätzen, da aber, wo sie zu finden waren, Unter den Linden zum Beispiel, im Thiergarten oder an den Ufern der Spree, erfreuten sie das Auge mit ihrem frischen hellen Grün. In so manchem Hof blühten die Apfel-, Kirsch- und Birnbäume, und wenn die Fenster offen standen, um die reine Frühlingsluft in die muffigen Zimmer zu lassen, hörte Gontard die Kinder singen:

       Der Mai ist gekommen

       Die Bäume schlagen aus,

       Da bleibe, wer Lust hat,

       Mit Sorgen zu Haus!

       Wie die Wolken wandern

       Am himmlischen Zelt,

       So steht auch mir der Sinn

       In die weite, weite Welt.

      Das Lied war neu, die Musik stammte von Justus Wilhelm Lyra, der Text von Emanuel Geibel, dem Liebling des Königs. Trotzdem hörte Gontard es gern, und die letzte Zeile ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Auch ihm stand der Sinn nach der weiten, weiten Welt, vor allem nach Amerika. Immer wieder trug er sich mit dem Gedanken auszuwandern, dem engstirnigen Preußen zu entfliehen, wo alles demokratische und liberale Denken, wenn es laut geäußert wurde, mit Verbannung oder Festungshaft endete. Das Verfassungsversprechen, das Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1815 gegeben hatte, war auch dreißig Jahre später noch nicht eingelöst worden. Kein Wunder war es also, dass das Auswanderungsfieber in Preußen ebenso wie in den anderen deutschen Landen immer weiter um sich griff, hervorgerufen natürlich auch durch die elende Lage, in der sich Arbeiter und Handwerker befanden, und die Tatsache, dass immer nur der älteste Sohn einen Bauernhof erben konnte.

      Gontard hatte den richtigen Animus gehabt: Kußmaul saß schon im Café Stehely, blätterte in einem Roman und wartete auf ihn. Man begrüßte sich mit gewohnter Herzlichkeit.

      »Was liest du denn da?«, fragte Gontard.

      Kußmaul lachte. »Das, was die bevorzugte Lektüre unseres Königs ist: August Lafontaines Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschichte französischer Emigrierter

      Gontard verzog das Gesicht. »Lafontaine ist ein eitler und oberflächlicher Schwätzer.«

      August Heinrich Julius Lafontaine, 1758 in Braunschweig geboren und 1831 in Halle an der Saale gestorben, war von Haus aus Theologe und 1792 dem preußischen Heer als Feldprediger in die Champagne gefolgt. Danach hatte er sich auf sein Landgut zurückgezogen, über sechzig triviale wie auch sentimentale Romane verfasst und es zu einem der meistgelesenen Schriftsteller in den deutschsprachigen Ländern gebracht.

      Der Freund verteidigte seine Lektüre. »Ich muss mich mit den Hugenotten vertraut machen, denn Luise ist nicht wenig stolz auf ihre Herkunft.«

      Diese Bemerkung bezog sich auf seine Braut Luise Kahlbaum, deren Großmutter eine Cathérine Gillieux gewesen war. Sie konnten dieses ergiebige Thema aber nicht weiter vertiefen, denn in diesem Augenblick trat Kußmauls Bruder Adolf an den Tisch. Er hatte gerade sein medicinisches Staatsexamen abgelegt und war in Heidelberg Assistent von Karl von Pfeufer geworden.

      »Pfeufer ist ein interessanter Mann«, erklärte er. »Vor zwei Jahren hat er die Zeitschrift für rationelle Medicin mitbegründet. Gemeinsam haben wir uns die Aufgabe gestellt, physiologische und pathologische Tatsachen auf physikalische und chemische Prozesse zurückzuführen.«

      »Und was ist mit der Seele?«, fragte Gontard.

      »Haben Sie jemals eine Seele gesehen? Hat Daguerre jemals eine Seele auf seine photographischen Platten gebannt?«, kam die Gegenfrage.

      So uneinig sie sich in dieser Frage waren, so einig waren sie sich in der Einschätzung der politischen Lage und in der Forderung nach einer demokratischen Verfassung.

      »Aber die bekommen wir nicht unter diesem König«, sagte Adolf Kußmaul. »Bei Friedrich Wilhelm IV. kann ja die Abneigung gegen alle Reformen nur als pathologisch bezeichnet werden.«

      »Pst!«, machte Gontard, denn die Politische Polizei hatte ihre Schnüffler überall sitzen.

      »Hoffen können wir nur auf den Sohn unseres Königs«, erklärte Friedrich Kußmaul.

      Sein Bruder staunte. »Ich denke, er ist impotent?«

      »Pst!«,