Mamsellenmord in der Friedrichstadt. Horst Bosetzky

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Название Mamsellenmord in der Friedrichstadt
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783955520335



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Verantwortung trug. Allerdings gab es auch Berliner, die, ungeachtet dieser Berufsbezeichnung, alle bürgerlichen Mädchen beziehungsweise unverheirateten Frauen mit der Bezeichnung Mamsell belegten, kam es doch vom französischen Mademoiselle her.

      Für den Unbekannten indes war eine Mamsell vor allem eine Köchin. Einen Plan hatte er nicht, er ließ sich treiben und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Doch der Dämon wurde immer ungeduldiger und drohte, ihn selbst zu töten, wenn er nicht bald eine beleibte Mamsell tötete.

      Er kam ans Ufer der Spree und bog rechts in den Weidendamm. Dort war an einem kleinen Graben, der immer wieder zugeschüttet werden sollte, der »Hammelkopf« gelegen, eine Restauration, in der die Leute der unteren Stände ihr weniges Geld in billigen Fusel umsetzten. Zwischen der niedrigen Längswand und dem Bollwerk verlief ein schmaler Pfad, den er nun entlangschlich, um einen Blick in die Küche zu werfen. Die Gelegenheit wäre günstig gewesen, doch die Frau, die im Hammelkopf am Herd stand, war lang und dürr und damit nichts, womit sich sein Dämon zufriedengegeben hätte. Enttäuscht wandte er sich wieder um, nicht ohne einen schnellen Blick in den Gastraum zu werfen. Gott, das war doch Louise Aston, die dort in Männerkleidern hockte, ihren Geliebten an der Seite, und ihre Cigarre rauchte! Es wurde Zeit, dass der König sie aus der Stadt entfernte.

      Seine Unruhe wurde immer stärker. In den nächsten Stunden musste es geschehen, sonst verfiel er dem Wahnsinn und landete im Irrenhaus. Die Sinne schienen ihm zu schwinden, und um nicht auf das Trottoir zu stürzen, umklammerte er das Geländer, das neben dem Eingang zum Hammelkopf angebracht war. Als er sich wieder beruhigt hatte, lief er an der Spree entlang, überquerte ihre Arme und kam über die Neue Friedrichzur Spandauer Straße. An der Einmündung der Nikolaikirchgasse gab es so viele Destillen auf einem Haufen wie sonst nirgendwo in Berlin, und Adolf Glaßbrenner hatte dazu schon angemerkt: Ejal, wo der Berliner mit eenem Oooge hinkiekt - mit’s andre kiekta inne Destille. Es hatte sich in dem Unbekannten der Gedanke festgesetzt, dass sein erstes Opfer eine dicke Mamsell aus einer Kneipe oder einem Restaurant sein musste. Der Dämon wollte es so.

      In seinem Kopf dröhnte und zuckte es. Der Dämon lachte höhnisch: Erst wenn sich der Stahl deines Messers in einen warmen Körper bohrt, bist du erlöst. Blut will ich fließen sehen!

      Christian Philipp von Gontard lief die Dorotheenstraße in einem Tempo hinunter, das sich für einen Major der Königlich Preußischen Artillerie nicht schickte, aber traf er zu spät im Hörsaal ein, dann bekam er wieder Ärger. Nicht zu Unrecht hieß es: Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit. Er bog links ab und hetzte auch durch die Schadowstraße, bis er endlich Unter den Linden angekommen war und den Komplex der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule vor sich hatte. In der vertrat er das Fach Physik. Seine Zöglinge, alles gestandene Offiziere, erwarteten ihn mit einiger Spannung, und manche spotteten sogar, dass es ihnen so erginge wie dem Schüler in Goethes Faust : Ich bin allhier erst kurze Zeit, / Und komme voll Ergebenheit, / Einen Mann zu sprechen und zu kennen, / Den alle mir mit Ehrfurcht nennen. Seinen guten Ruf verdankte Gontard ebenso seinen profunden fachlichen Kenntnissen wie auch seinen Erfolgen bei der Aufklärung mysteriöser Verbrechen. Man klopfte geradezu enthusiastisch auf die Pulte, als er eingetreten war und seine Zuhörer begrüßt hatte. Diese Huldigung war ihm fast ein wenig peinlich, und so kam er schnell zur Tagesordnung, der gegenseitigen Vorstellung. Da hörte er manchen Namen, der ihm geläufig war und dessen Träger sich hervorgetan hatte, seit Albrecht der Bär die lange Liste der brandenburgisch-preußischen Fürsten eröffnet hatte, aber kein Stammbaum war derart verzweigt, dass er einen entfernten Verwandten vor sich hatte. »Und nun in medias res!«, konnte er endlich ausrufen und mit der Einführung in sein Fachgebiet beginnen, nachdem das Präludium eine gute halbe Stunde in Anspruch genommen hatte.

      »Was uns in der Theorie primär interessiert, meine Herren, ist die Ballistik, die Lehre von den geworfenen Körpern. Sie ist ein Teilbereich der Physik und beschreibt die Vorgänge, die einen Körper betreffen, der sich durch den Raum bewegt. Als Begründer der Ballistik gilt der Italiener Nicolo Tartaglia, geboren 1499 oder 1500 in Brescia, gestorben 1557 in Venedig. Ihm verdanken wir die Entdeckung der Wurfparabel. Die Wurfparabel ist die Flugbahn, die ein Körper beim schiefen Wurf in einem homogenen Schwerefeld beschreibt, wenn man den Einfluss des Luftwiderstandes vernachlässigt. Der Scheitel der Parabel befindet sich dabei am höchsten Punkt der Flugbahn, die Parabel ist nach unten geöffnet. Die ballistische Kurve dagegen ist die von der idealen Wurfparabel abweichende Kurve unter Einfluss des Luftwiderstandes. Grund für die Parabelform ist die Tatsache, dass während des Fluges nur die Schwerkraft auf den Körper einwirkt. Zur Berechnung wird die Anfangsgeschwindigkeit in die zueinander senkrechten Komponenten x und y zerlegt, die unabhängig voneinander behandelt werden können. Die horizontale x-Komponente ist völlig unabhängig von der vertikalen y-Komponente, die nach oben gerichtet ist.« Er kam nun zu den mathematischen Formeln und registrierte ein allgemeines Aufstöhnen bei seinen Zuhörern. Sie hatten erwartet, dass es in seinem Unterricht vergnüglicher zugehen würde. Er brach ab und sah in die wenig amüsierten Gesichter. »Gibt es Fragen, meine Herren?«

      Es meldete sich ein Offizier, der aus dem südlichen Brandenburg kam, sich als Georg von Glombeck vorgestellt hatte und der Schüler war, der Gontard am wenigsten gefiel. Warum das so war, hätte er nicht sagen können, aber in seinem Gesicht, das ihn an eine grinsende Bulldogge erinnerte, stand etwas zu lesen, das Gontard beunruhigend fand.

      »Reden wir bei Ihnen auch über Raketen in der Artillerie?«, fragte Glombeck.

      »Ja, aber erst am Ende des Semesters.«

      Glombeck lachte. »Ah, Sie müssen sich erst auf dieses Thema vorbereiten.«

      »Nein, ich muss nur schnell selber eine bauen, um Sie Ihnen vorzuführen.«

      Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite und konnte sich in sein Bureau zurückziehen. Für heute hatte er seine dienstlichen Pflichten erfüllt und nun endlich die Muße, sich seinen privaten Vergnügungen zu widmen - wenn es denn derzeit welche gegeben hätte. Weder zum Reiten noch zum Fechten trieb es ihn wirklich, und es gab auch kein mysteriöses Verbrechen aufzuklären. So blieb ihm nur das Flanieren und die Causerie, aber jetzt am frühen Nachmittag saß im Roten Zimmer des Café Stehely noch niemand, dessen Gesellschaft ihm zugesagt hätte. Schöngeistige Schwätzer, die es im Leben zu nichts gebracht hatten, waren ihm zuwider.

      Gerade als er sein Bureau aufschließen wollte, kam ihm Werner Siemens entgegen. Der Seconde-Lieutenant der Artillerie aus Lenthe bei Hannover war am 1. Oktober 1842 zur Artilleriewerkstatt Berlin versetzt worden, nachdem man ihn begnadigt hatte. Ursprünglich war er aufgrund der Teilnahme an einem Duell zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt worden. Seit dem Tod seiner Mutter musste er als ältester Sohn gegenüber seinen Geschwistern die Vaterstelle vertreten, und das kostete so viel, dass sein staatliches Salär bei weitem nicht ausreichte. So sah er sich gezwungen, mit seinen Erfindungen einiges hinzuzuverdienen, so mit der Versilberung und Vergoldung von Metallen auf galvanischem Wege.

      »Woran arbeiten Sie denn gerade?«, fragte Gontard, nachdem man sich kollegial-freundschaftlich begrüßt hatte. »Oder ist das noch ein streng gehütetes Geheimnis?«

      »Nein, nein.« Siemens zögerte nicht, darüber zu reden.

      »Im Augenblick versuche ich, den Zeigertelegraphen zu verbessern.«

      »Was bitte?« Gontard musste da eine Bildungslücke eingestehen.

      Werner Siemens holte zu einer längeren Antwort aus.

      »Der Zeigertelegraph dient zur Übermittlung von Nachrichten Buchstabe für Buchstabe. Er ist ganz einfach zu bedienen. Im Geber wie im Empfänger kreist gleichlaufend ein Zeiger, der manuell eingestellt wird. Wenn der Zeiger bei dem sendenden Apparat verstellt wird, führt dies zu einer entsprechenden Verstellung des Zeigers bei dem Gerät, das die Nachrichten empfängt. So können die einzelnen Buchstaben eines Textes mühelos übermittelt werden.«

      »Ah ja.« Gontard hatte verstanden. »Das ist ja viel einfacher als beim Morsetelegraphen. Man muss nicht erst das Morsealphabet lernen … zum Beispiel die Bedeutung von: dit, dit, dit - dit, dit - dit - da, da - dit - da, dit - dit, dit,