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sichtliche Bestürzung der Demoiselle Albertine - ließ von Gontard Schlimmes befürchten. Erst einige Abende zuvor war ihm aufgefallen, wie sehr sie sich um Heidenreichs Wohlergehen bemühte, und der sprach stets in wohlwollendem Ton von ihr.

      »Sie kommen zu spät«, verkündete sie mit heiserer Stimme und schlug die Hände vors Gesicht. »Er ist tot.« Von Gontard, durchaus daran gewöhnt, Tatsachen als solche zu erfassen und hinzunehmen, gelang es diesmal nicht, seine Skepsis zu unterdrücken. »Heidenreich?«, fragte er ungläubig, als gäbe es in der hier angetroffenen Situation den geringsten Zweifel an der Identität eines möglichen Toten.

      »Heidenreich!«, bestätigte der Commissarius denn auch in beinahe befriedigtem Tonfall. »Sind Sie mit ihm verwandt?«

      »Ich bin sein Freund und Kollege. Major Christian Philipp von Gontard.«

      Der Commissarius nickte hoheitsvoll. »Wer hat Sie von seinem Ableben verständigt?«

      Gontard sah den Commissarius an, konnte jedoch dessen Gesichtszüge im Halbdunkel der Diele und gegen das schwache Licht aus Heidenreichs Stube nicht deutlich erkennen. Nur um sich nicht sofort mit ihm anzulegen, entschied er sich für eine Antwort auf die höchst überflüssige Frage. »Niemand. Ich bin gekommen, um nach ihm zu sehen. Was ist hier vorgefallen?«

      »Das wird sich herausstellen!«, entgegnete der Commissarius förmlich. »Sie wussten also von seiner … nennen wir es Unpässlichkeit.«

      Statt einer Antwort trat Gontard auf die Amtsperson zu und vermochte nun immerhin, einen Blick über dessen Schulter in die Stube zu werfen, in der Heidenreichs halbbekleideter Körper verkrümmt auf dem zerwühlten Bett lag. Auf einem Stuhl und auf dem Boden verstreute Kleidungsstücke verrieten wenig Sinn für Ordnung, Papiere und Bücher stapelten sich auf dem Tisch unter dem Fenster, und gleichermaßen vollgestopft wirkte auch der restliche Raum.

      »Hat man einen Arzt verständigt?«, erkundigte Gontard sich ungehalten.

      Gemessen verbeugte sich daraufhin der schwarzgekleidete Bärtige und stellte sich vor: »Doktor Henricus Bächerle, wenn Herr Major gestatten. Doctor medicinae und seit jüngstem hierorts ansässig und demnächst praktizierend.«

      Gontard verstand. »Sie wohnen hier im Hause?« Bächerle verbeugte sich erneut, diesmal noch ein Stück tiefer. »Seit nunmehr drei Tagen.«

      Die dunkle Haarpracht des Arztes wies eine schüttere Stelle auf, wie Gontard bemerkte. Seine sanfte Stimme klang angenehm und erinnerte an Heidenreichs singenden Tonfall.

      »Er war gestern Abend noch kerngesund«, stellte Gontard fest, was nicht ganz dem Zustand entsprach, in dem er den Freund verlassen hatte. Aber ein paar Gläser Wein brachten einen unverwüstlichen Kerl wie Gebhardt Heidenreich nicht um! Hatte man ihn auf dem Heimweg überfallen und ausgeraubt?

      Bächerle sah ihn durch seinen Kneifer mit mildem Blick an. »Mit Verlaub, Herr Major«, sagte er verhalten, »er war ganz offensichtlich stark betrunken.«

      »Sie haben also den gestrigen Abend mit ihm verbracht?«, mischte sich der Commissarius ein. »Ihren Freund möglicherweise sogar nach Hause begleitet?«

      Nein, das hatte er nicht, und das war vermutlich ein nicht wiedergutzumachendes Versäumnis, wie Gontard sich augenblicklich eingestand. Dass Heidenreich tot da drinnen lag, versetzte ihm einen Schock. »Ich muss ihn sehen!« Ungestüm versuchte er, den Commissarius beiseitezudrängen, der noch immer den Zugang zu Heidenreichs Stube versperrte, als gelte es, deren düsteres Geheimnis für die Ewigkeit zu bewahren. »Hat er irgendwelche Verletzungen?«

      Werpel wich nicht von der Stelle. »Erwarten Sie solche?«, fragte er bedeutungsvoll.

      Gontard verlor die Geduld. »Ich erwarte vor allem, dass man mich die Leiche betrachten und in gebührender Achtung von einem teuren Freund Abschied nehmen lässt«, äußerte er in scharfem Ton.

      Aus Albertine Knoppe brach es heraus: »Er sieht so furchtbar aus! Als hätte er sich schrecklich quälen müssen, der Arme.«

      Gontard senkte seine Stimme. »Sie haben ihn gefunden?«, erkundigte er sich mitfühlend.

      Sie nickte unter Tränen, und der Doktor Bächerle setzte zur Erläuterung, vielleicht auch zu ihrer Beruhigung hinzu: »Infolge einer Überdosis an Alkohol Verstorbene bieten selten einen erfreulichen Anblick …«, worauf die Demoiselle in heftiges Schluchzen ausbrach.

      Der Commissarius Werpel schien einzusehen, dass es nach dieser Erklärung nicht länger sinnvoll oder notwendig war, Gontard von der Leiche fernzuhalten, und gab endlich den Weg frei.

      So leicht aber war Gontard nicht zu beruhigen. »Darf man fragen, weshalb Sie hierher gerufen wurden?«, wandte er sich an Werpel. »Um welche Art von Criminalvergehen handelt es sich Ihrer Meinung nach?«

      »Das wird die Untersuchung ergeben«, antwortete der in steifem Amtston. »Die Criminal-Ordnung schreibt vor, dass der Körper eines Menschen, dessen Tod durch Gewalt, Zufall, Selbstmord oder eine bis dahin unbekannte Ursache bewirkt ist, niemals eigenmächtig beerdigt werden darf. Ein solcher Vorfall muss von demjenigen, der ihn entdeckt, sofort der Ortspolizeibehörde zur weiteren Veranlassung angezeigt werden.«

      Unter Schluchzen brachte Albertine Knoppe wie zu ihrer Entschuldigung hervor: »Ich habe einen Jungen zum Herrn Commissarius gesandt. Der Herr Doktor Heidenreich hatte mir doch anvertraut, es bestünde eine sehr große Gefahr …«

      Von Gontard horchte auf. Auch ihn hatte Heidenreich am gestrigen Abend mit dunklen Andeutungen überrascht, auf die er betrüblicherweise wenig gegeben hatte. Gespannt fragte er: »Um welche Art von Gefahr sollte es sich dabei handeln?«

      »Das eben kann oder will das Fräulein nicht näher ausführen!«, trompetete der Commissarius unzufrieden.

      »Dem Trunke Verfallene neigen gelegentlich zu irrigen Annahmen oder leiden unter überspannten Trugbildern …«, ergänzte Doktor Bächerle mit seiner sanften Stimme.

      Gontard sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Kannten Sie Doktor Heidenreich näher?«, fragte er.

      Bächerles bärtigem Gesicht war keine Gefühlsregung abzulesen. »Nein«, entgegnete er höflich, »ich habe ihn lediglich mehrmals auf der Treppe gehört.«

      Albertine hatte sich inzwischen gefasst. Gontard schien es, als wolle sie ihm etwas mitteilen, doch drängte Werpel nun plötzlich: »Wollen Sie Ihren Freund und Kollegen sehen oder nicht? Der Leichenwagen ist bereits angefordert. Wir warten nur noch die Ankunft des Hauseigentümers ab.«

      Gontard war drauf und dran sich zu empören. Den toten Freund mit dem »Nasenquetscher« zum Koppe’schen Armenhaus zu befördern - etwas Widersinnigeres fiel einem empfindungslosen Menschen wie Werpel nicht ein! Jeder in der Residenz kannte das armselige Gefährt mit dem flachen Behältnis darauf, das die Selbstmörder, all die Unglücks- und Wasserleichen und die unter fragwürdigen Umständen irgendwo und irgendwie aus dem Leben Geschiedenen in das gerichtliche Obduktionshaus, das berüchtigte Türmchen in der Auguststraße expedierte.

      Dem Commissarius schien die eilige Entscheidung angesichts Gontards Auftauchen und dessen Entrüstung wohl selbst nicht mehr ganz angemessen, weshalb er es für nötig befand, sie zu verteidigen: »Demoiselle haben uns versichert, dass hierorts keine Angehörigen des Verstorbenen ansässig sind.«

      »Herr Doktor Heidenreich steht in Königlich Preußischen Militärdiensten!«, war alles, was Gontard darauf in aller Deutlichkeit zu erwidern wusste und damit dem Commissarius endgültig das Ausmaß der Fehlentscheidung klarmachte.

      Was Werpel darauf erwiderte, überhörte Gontard. Er war an das Totenbett Gebhardt Heidenreichs getreten, ein schmales Matratzenlager nur, das der Dahingegangene in seinem Todeskampf anscheinend beschmutzt hatte.

      Minutenlang stand Gontard stumm und starrte auf den Leichnam. Heidenreich trug ein nicht sehr reinliches Hemd, den Unterkörper verbarg eine Decke. Auf der tief eingebeulten Lagerstatt war der gekrümmte Leichnam mit ausgestreckten Unterarmen auf die Seite gerollt. Es sah aus, als hätte jemand vergeblich versucht, die Leiche auf dem Rücken auszustrecken und deren Hände zu falten.