Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk. Tino Hemmann

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Название Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 1 - Die Schlacht in Magnitogorsk
Автор произведения Tino Hemmann
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783954888559



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durchgeschnitten: »Joanna, es ist vorbei! Zwar wurde das Schmähliche besiegt, doch unserer Hinneigung ward keine Zukunft gegeben.«

      Sie heulte beklagenswert auf: »Oh nein, mein Tom!« Und warf sich fast auf ihn. »Du wirst gänzlich gesunden, versprich mir, dass du bei mir bleibst für all die Zeit, die uns gegeben wurde, in dieser Welt der Lebenden weilen zu dürfen!« Rasend schaute sie sich um, als wäre bereits alles zu spät. »Hilfe!«, rief ihr zierliches, sich überschlagendes Stimmchen. »Hilfe! Hilfe! Hilfe! So helft doch meinem einzig wahren, tapferen und edlen Geliebten!«

      Aber niemand konnte helfen, denn es war weit und breit keine andere Menschenseele zu sehen. Also blieb Joanna nichts weiter übrig, als heulend die eigenen Lippen auf die des sterbenden Jungen zu drücken und in ihn hinein zu flehen: »Bitte verlass mich nicht, Tom Dudley! Das darfst du nicht! Zum Sterben bist du viel zu jung! Ich bitte dich, bleib bei mir! Meine Zuneigung sei dir allzeit geschenkt! Nur bleib bei mir!«

      Stille.

      Dann aber, fast etwas unerwartet, ertönte die deutliche Stimme Dudleys ein letztes Mal: »Schon fühle ich die erbarmungslos brutale Kälte, die mein Herz für alle Zeit gefrieren lassen wird. Vorbei ist es mit der bezaubernden Wärme des Daseins. Oh ja! Es ist so weit, meine angebetete, vergötterte Joanna. Ich muss nun von dir gehen. Schau nur! Ich erblicke ihn bereits! Da ist er, der Gevatter Tod, er naht mit schnellen Schritten, im wehenden Leichentuchgewand, die blitzend geschärfte Sense zum letzten Schlag weit ausgeholt! Doch nehme ich mein Ende mit bestem Gewissen in Kauf, so viel Gutes erreicht zu haben. Denn all die abscheulichen Ganoven und Verbrecher, die unsere wundervolle Stadt tyrannisierten, konnte mein Schwert vernichten! Wenngleich ich selbst mit ihnen heimkehren muss, so jubelt doch allseits und trauert nicht! Was ist des einen Leben wert gegen all die Hoffnung, die er der Masse spenden wird? Leb nun wohl, Joanna, Liebste mein, leb wohl in der Obhut des Friedens, den ich dir zu geben versuchte. Leb wohl und vergiss mich niemals! Bis wir uns eines Tages im Himmel wiederfinden werden!«

      Ein letztes Röcheln und Stöhnen entfuhr seinem Mund, dann rollte der Junge vom Bordstein auf die Straße und blieb tot und starr auf seinem Rücken liegen; ja die Zunge hing ihm aus dem offenen, atemlosen Mund.

      Joanna fasste nach seiner Hand, hob sie an und ließ sie wieder fallen. »Gewiss, Tom Dudley! Der Jubel wird meine Tränen ersticken! Wie nur sollte ich dich jemals vergessen können?« Jetzt kreischte sie voller Leid und brach neben dem toten Geliebten zusammen.

      Diesem letzten Akt folge fast eine Minute lang andauernde Todesstille.

      *

      Das derbe Klatschen zweier Hände beendete schlagartig die Ruhe, weitere Hände suchten einen Rhythmus, das beifällige Klatschen steigerte sich zu einem tobenden Applaus. Fast mittig in der ersten Reihe des Schultheaters sprang ein hünenhafter Kerl von seinem Stuhl auf und rief ungeniert: »Bravo! Molodzy! Bravo!« Und schon erhob sich das gesamte Publikum nach seinem Vorbild. Mehrere Scheinwerfer tauchten die Bühne in grellbuntes Licht, rasende Musik des Orchesters ertönte, durch die aus Pappe gebastelte Tavernentür hüpften die restlichen Schauspieler des Schultheaters, allesamt um die zwölf, dreizehn Jahre, während der Darsteller des Protagonisten Tom Dudley noch immer regungslos auf dem Bretterboden lag.

      Der Mann aus der ersten Reihe, der über einen athletischen Körper verfügte, lediglich ein schwarzes ärmelloses Shirt unter dem zweifelsohne nicht billigen Jackett trug, sprang aus dem Stand auf die Bühne hinauf, lief zu dem am Boden liegenden Toten und schaute ernst von oben auf ihn herab.

      Der Junge rührte sich noch immer nicht, ihm hing die Zunge nach wie vor aus dem Mund. Und doch zierte allmählich ein Grinsen sein Gesicht.

      »Ich weiß, dass du hier bist, Papa!«

      Sein Vater, der wegen seiner muskulösen Gestalt und seines ungezügelten Auftretens von einigen älteren Kerlen im Publikum mit neidvollen und von etlichen jungen Damen mit eher gierigen Blicken bedacht wurde, streckte dem Jungen seinen rechten Arm entgegen und ergriff den linken Oberarm des Kindes. »Gut gemacht, Fedor. Nur etwas unrealistisch.« Als er den Jungen mühelos nach oben zog, ihn kurz in die Luft hob und dann auf den Bühnenbrettern abstellte, spannten sich seine Oberarmmuskeln derart, dass man befürchten musste, die Substanz der Jackettärmel würde nachgeben.

      »Unrealistisch?«, fragte der Junge mit kaum gebrochener hoher Stimme. »Wie meinst du das?«

      »Ihr habt die Welt viel schlimmer dargestellt, als sie es in Wirklichkeit ist«, erklärte Anatolij Sorokin. »Aber ...«

      »Aber was?«, fragte Fedor, während der Vater ihn zu einer mit den anderen Darstellern halbwegs synchronen, tiefen Verbeugung zum Publikum zwang.

      »Aber zweifellos. Der Typ, der diesen Tom Dudley gespielt hat, war mit Abstand der Beste. Keine Frage.« Sorokins Blick huschte zu jenem blonden Mädchen, das unter dem noch immer anhaltenden Beifall des Publikums ihn und vor allem seinen Sohn unablässig anschmachtete. »Außer vielleicht ...«

      »Papa?«

      »Außer die Darstellerin der Joanna vielleicht, die war auch sehr, sehr gut. Wenigstens scheint sie das Küssen vollendet zu beherrschen.«

      »Sie? Papa! Joanna heißt in Wirklichkeit Laura. Und die ist absolut nicht besser als ich!«, erwiderte der Junge. »Außerdem ... Du solltest nicht hier oben sein. Das ist peinlich.«

      Sorokin spielte den Ernsten. »Peinlich? Bin ich dir tatsächlich peinlich? Ich habe dich gefühlte vierhundert Mal zur Probe gefahren. Also werde ich wohl das Recht haben, mal kurz auf diesen Brettern stehen zu dürfen.« Er wandte sich ab, während Fedor die Augen verdrehte. Noch bevor Sorokin von der Bühne sprang, rief er jedoch: »In zehn Minuten am Bühneneingang! Okay?«

      Zehn Minuten später stand der Mann mit etlichen anderen Erziehungsberechtigten am Nebeneingang, zog an einer Zigarette und blickte wiederholt auf die goldene Armbanduhr. Der Frühsommerabend fühlte sich angenehm an, und obwohl kaum Wolken den Himmel bedeckten und einige Sterne funkelten, war es noch recht warm.

      Die blonde Laura erschien strahlend, warf Sorokin, der fast doppelt so groß war wie sie, einen verschämt liebevollen Blick zu und lief zu einer Frau in vornehmer Abendgarderobe. Deren Blicke trafen sich mit denen von Sorokin, während sie leise fragte: »Ist das der Vater des Russen?« Keineswegs sprach sie leise genug, als dass es Sorokin nicht hätte hören müssen.

      Verschämt nickte Laura der Mutter zu. Die wiederum nickte Sorokin zu und zwang sich eine beifällige Mimik ins Gesicht. Sorokin nickte ebenfalls, jetzt mit einem breiten, aufgesetzten Lächeln, das seine Zahnreihen blitzen ließ, und spürte den einatmenden Blick von Lauras Mutter. Dann verließen die beiden Damen die Bildfläche. Das Lächeln verschwand aus Sorokins Gesicht.

      Russen. Ja! Russen aus Magnitogorsk. »Magnitogorsk? Davon habe ich ja noch nie gehört.« Redeten Amerikaner von bleihaltiger Luft, dann lächelte Sorokin bedauernd. Ausschließlich in Magnitogorsk war die Luft tatsächlich bleihaltig. Nicht nur mit Blei, auch mit Schwefeldioxid und vielen Schwermetallen war sie geschwängert, ebenso das Wasser. Die meisten Kinder wurden krank geboren. Doch in Moskau stießen die Hinweise der verantwortungsbewussten Leute auf ein höchst überschaubares Interesse. Solange die riesigen Magnitogorsker Werke Stahl, Erze und Metalle im geplanten Umfang lieferten, waren Umweltprobleme für die Regierung ohne ernstzunehmende Bedeutung. Die Stadt am Ufer des Ural war mit inzwischen über vierhunderttausend Bewohnern fast genauso groß wie die mitteldeutsche Stadt Leipzig, in deren Nähe Sorokin seit zwölf Jahren mit seinem Söhnchen Fedor lebte. Eben dieses, sein Söhnchen, das bei der Umsiedlung gerade mal ein winziges Häufchen Mensch gewesen war, wurde heute von einer äußerst attraktiven dreizehnjährigen Blondine aufs Ärgste umgarnt! Und das, ohne dass sie den Vater des Söhnchens um Erlaubnis gebeten hätte.

      »Alles okay?«, fragte Sorokin und legte eine Hand um die Schultern des Jungen, um ihn zum Auto zu führen.

      Fedor nickte.

      »Und?«

      »Was und?«

      »Findest du sie nett?«

      »Wen?«

      »Wen schon? Diese Laura natürlich.«