Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt. Uwe Klöckner-Draga

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Название Renate Müller - Ihr Leben ein Drahtseilakt
Автор произведения Uwe Klöckner-Draga
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783939478423



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Sie mal, ich habe gehört, Sie tanzen gern. Meine beiden Töchter geben am Samstag ein gewaltiges Atelierfest. Wenn Sie Lust haben, kommen Sie hin.‘ - Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass der Kollege Dr. Müller Töchter hatte. Ich dachte sofort, es müßten hübsche Töchter sein. Denn sonst wäre Dr. Müller mit seinen Einladungen sparsam gewesen. Ich sagte blindlings zu. Denn damals war in Berlin die große Zeit der Budenzauber, der Kostümfeste und besonders der Atelierfeste, und dafür war ich immer zu haben. Das Atelierfest bei Müllers war großartig. Es hatte das gewisse Etwas, das man lange nicht bei allen solchen Abenden vorfand. Dieses gewisse Etwas war stets das Entscheidende. Es kam meistens von den Gastgebern und bereitete unverzüglich vom ersten Moment an gute Laune und Heiterkeit. Die beiden Müllerstöchter Renate und Gabriele strömten gute Laune und Zutraulichkeit und Unbekümmertheit und Herzlichkeit mit solcher Heftigkeit aus, dass es Überwindung kostete, nicht kurzerhand aller beider Lippen zu küssen, ganz egal, was es dabei absetzen konnte. Sie kennenzulernen, machte die nachglühende Schönheit vieler versäumter Augenblicke wieder gut. Karl-Eugen Müller seinerseits hatte jedem Gast strikt verboten etwas mitzubringen, er hatte selber für auserlesene Getränke gesorgt, und in solchen Auslesen war er ein anerkannter Fachmann. Des lauten Lobes war kein Ende. Und auch des Tanzens war kein Ende. Gleich bei der ersten jungen Dame, die ich aus dem Gewühl griff, erschrak ich ein bißchen. Sie hatte nichts an. Das heißt, sie hatte doch etwas an, denn so zügellos ging es bei Müllers nicht zu. Aber die schlanke Schönheit, mit der ich tanzte, nein, sie konnte einfach nichts anhaben. Aber sie hatte doch etwas an. Etwas Purpurrotes. Doch es war so dünn, dass sie einfach nichts anhatte, wenn man mich recht verstehen will. Und sie tanzte so eng, dass mir Hören und Sehen verging, obwohl mein Beruf mir Hören und Sehen zur ersten Pflicht machte. Dann holte ich mir, nach Luft schnappend, Renate. Ich sah sie zum ersten Mal. Sie war eine Schönheit, wunderbar gewachsen, mittelgroß, von zarter Üppigkeit der Formen, wenn es so etwas wie zarte Üppigkeit überhaupt geben sollte, sie war vergnügt, sie war außerordentlich witzig, sie war sehr klug, sie hatte alle meine Aufsätze gelesen, wovon ich ihr kein Wort glaubte. Und sie hatte etwas an. Gabriele, war dunkelhaarig mit Augen wie Blendlaternen und der erloschenen Stimme einer verlorenen Seele. Aber diese verlorene Seele sagte wunderbare Dinge, und wenn ich nur drei ihrer Sätze behalten hätte, wäre ich als Schriftsteller ein gemachter Mann.

      Wie bei allen solchen Festen wurde jeder mit jedem für diesen Abend per du. Ich fragte Renate: ‚Was tust du eigentlich so im Leben?‘

      Sie sah mich geradezu erschrocken an: ‚Das weißt du nicht? Das hat Vater dir nicht gesagt? Ich bin Schauspielerin bei Jessner am Staatstheater.‘

      Ich sagte: ‚Ach du meine Güte.‘ Ich traute nämlich Schauspielerinnen nicht über den Weg, Ich war und bin mit vielen befreundet. Aber ich traute keiner. Renate sagte: ‚Ich bin natürlich noch nichts. Ich bin eine Null. Aber in ein paar Tagen haben wir Premiere. Und da hat mir Jessner, der Gute, eine kleine Rolle gegeben, meine erste Rolle.‘

      Ich sagte: ‚Jessner, der Gute. Hoffentlich kannst du was.‘

      ‚Wer schreibt bei euch die Kritik?‘ fragte sie und sah mich erwartungsvoll an.

      ‚Ich nicht.‘ - Ich wußte übrigens nicht, wer die Kritik schreiben würde.

      Entweder war es unser Höllenhund Alfred Kerr oder unser herzensguter Fritz Engel.

      Ich sagte: ‚Glaubst du, dass du etwas kannst?‘

      Sie lachte etwas zerfahren. ‚Du bist gut! Ich bin eine besessene Schauspielerin. Weißt du, was das heißt? - Das heißt, dass ich sogar, wenn ich nichts könnte, glauben müßte, dass ich etwas kann. So verrückt bin ich.‘

      Ich sagte: ‚Du meine Güte!‘ Denn alle Schauspielerinnen waren verrückt. Ich sagte: ‚Und was hast du in deiner Rolle zu tun?‘

      ‚Ein paar Sätze zu sprechen. Und dann muß ich ein bißchen tanzen.‘

      Ich sagte nichts. Es war zu wenig, als dass man hätte etwas sagen können. Plötzlich fuhr sie mich an und kniff mich in den Arm: ‚Glaubst du, Kerr geht hinein?‘

      Ich wußte es nicht, aber ich begriff das Schwergewicht dieser Frage. Unser aller herzensguter Fritz Engel war der Senior in der Theaterkritik, ein älterer milder, sehr korrekter, sehr liebenswürdiger Kollege. Seiner ganzen Wesensart nach räumte er in den Theatern und unter den Ensembles nicht mit dem Flammenwerfer auf, noch sang er gewaltige Hymnen mit Orgelwucht. Alfred Kerr aber mit seinem brennenden Temperament, mit seinem wütenden Elan, mit seiner glühenden Unbedingtheit war das große Kritikergenie des ganzen Reiches, ein Klassiker, wofür ich ihn heute noch halte und immer halten werde. In seinen leidenschaftlichen Händen konnten Leben oder Tod, Triumph oder Vernichtung eines Stückes liegen, und er war das schwarze oder das heitere Los der Schauspielerschaft. Seine ätzende Ironie (der Kern seiner Begabung), seine profunde Sachkenntnis und ein traumhaft sicherer Instinkt für Talente, Halbtalente, Bluffer und Nichtskönner waren unangreifbar und wurden nur von Schwächeren seines Berufes bestritten. Seine unbekümmerten, oft von neuen Worten und Begriffen, die es bisher in deutscher Sprache nicht gegeben hatte, funkelnden Lobgesänge vermochten sozusagen über Nacht eine unerwartete Karriere zu begründen. Das wußte ich, das wußte Berlin, das wußte jedermann, und das wußte auch Renate Müller.

      Sie sagte: ‚Ich wollte, Kerr ginge hinein.‘

      Ich sagte ziemlich zögernd: ‚Hör mal, du Schlange, ich werde mich erkundigen, ob Engel oder Kerr schreibt. Und wenn ich dich anrufe und sage Kerr, und du bekommst Zustände, ist das deine Sache.‘

      ‚Zustände habe ich sowieso.‘

      ‚Dann bist du abgehärtet.‘

      Wir standen aus der Ecke auf, in der wir uns unterhalten hatten, nur gestört von den Liebkosungen, denen sich dicht bei uns zwei junge Leute hingaben.

      ‚Verdammt noch mal‘, sagte ich, ‚habt ihr alle so schöne Brüste?‘ Renate sagte: ‚Ja, alle.‘

      Rings um mich entdeckte ich nämlich in diesem Moment, dass alle Mädchen und Frauen hier auserlesene Busen besaßen. Auch Renate - auch Renate.

      Ich grübelte, während wir tanzten. Ich hätte gern irgend etwas für Renate getan. Aber was? Ich dachte, wenn sie auf der Bühne denselben Charme zeigt, den sie hier hat, wenn sie auf der Bühne genauso landfrisch, so hübsch aussah, wenn sie genauso natürlich und unbefangen blieb wie an diesem Abend, dann mußte vielleicht diese wirklich reizende Person auch in einer kleinen Rolle Erfolg haben. Wenigstens einen kleinen, wenigstens ein bißchen. Und Alfred Kerr behielt oft Kleinigkeiten, die ihm gefallen hatten, im Gedächtnis, Kleinigkeiten, die schwachen Kritikeraugen nicht auffallen. Dass ihm solche Kleinigkeiten auffielen, war Glückssache.

      Ich grübelte, Renate an meinem Herzen, während wir tanzten. Und ich grübelte lange.

      ‚Es ist hübsch, dass du nicht sprichst, während wir tanzen‘, sagte die Müllerstochter.

      ‚Oh Gott‘, sagte ich, ‚rede um Himmels willen bloß nicht so viel.‘

      Ich war mit mir einig geworden. Ich hatte mich zu einer ganz und gar unausdenkbaren, unmöglichen und lebensgefährlichen Unternehmung entschlossen, wobei ich an das uralte Wort dachte: Schlage dich nur tapfer durch, wer auch dabei geschlagen werde. Meine Freunde, haltet die Luft an! - Am anderen Morgen, dem Tag der Premiere, ging ich einen Stock höher. In das kleine Zimmer, in dem der Dr. Kerr seine Korrektur zu lesen pflegte. Seine ärgerliche Stimme: ‚Herein!‘ Er war immer ärgerlich, wenn man ihn beim Korrekturlesen störte. Ich schluckte ein paarmal, dann sprang ich mit einem Hechtsprung in das Unmögliche.

      ‚Herr Doktor Kerr, ich möchte Sie korrumpieren und bestechen.‘

      Er wandte den Kopf, senkte ihn etwas und sah mich über den Rand seiner Lesebrille an, dann legte er den Bleistift auf den Tisch. ‚Setzen Sie sich und legen Sie los.‘

      Ich setzte mich auf den äußeren Rand des Stuhls und legte los. Und wieder einmal merkte ich, dass ich einen ‚guten Tag‘ hatte. Ich erzählte Doktor Kerr alles, was auf dem Atelierfest passiert war. Ich erzählte bis zum gefährlichen Ende. ‚Sie tanzt wundervoll‘, schloß ich. Dabei hatte ich das Gefühl