Название | Malefizkrott |
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Автор произведения | Christine Lehmann |
Жанр | Триллеры |
Серия | |
Издательство | Триллеры |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867549509 |
In dem Etablissement, in dem sie sich laut Website hätte befinden müssen, war sie nicht gewesen. Ich hatte eine nette Unterhaltung mit dem Chef der Four Roses über den Generationenwechsel gehabt, sein Sohn wollte das Table-Dance-Lokal übernehmen. In anderen Clubs stellte man besser keine Fragen. Mit den Arachnes hatte ich später über Grenzgebiete geflachst und darüber, dass sich ihr SM-Club in der Grenzstraße am äußersten Rand eines Industriegebiets befand. Im Büro hatte das Buch mit dem callgirlroten Cover gelegen. Über Kunden äußerte sich die Domina nicht, aber es war unzweifelhaft ein Kunde gewesen, der ihr das Buch dagelassen hatte. »In den Shop kann ich es aber nicht stellen«, hatte sie erklärt. »Was die Kids tun, ist voll bizarr. Aber Fisting an einer 13-Jährigen, das kannst du als Literatur verkaufen, nicht aber als Pornografie in einem Shop für BDSM6.« Jana hatte ich dann in einem Schuppen in Ludwigsburg aufgetrieben.
»Und was für Dienste haben Sie sich vorgestellt, Herr Schrader?«, fragte ich den Kunden. »Französisch?«
»Was … äh … Nein. Ich unterrichte Rhetorik.«
»Ah so.«
»Und wie gesagt, lieber nicht am Telefon. Wann können Sie kommen?«
»Das kommt drauf an, wohin.«
»Dann nehmen Sie den Auftrag an?«
»Welchen Auftrag?«
»Sie müssen verstehen, aus bestimmten Gründen kann ich unsere Adresse nicht ohne Weiteres an Fremde weitergeben.«
Ich musste lachen. »Herr Schrader, Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich nicht in spätestens einer Stunde weiß, wo Sie wohnen.«
»Gut, dann in einer Stunde. Dann sehe ich auch gleich, was Sie können!« Damit legte er auf.
Wer sich provozieren lässt, hat schon verloren. Wahrscheinlich wäre ich jetzt noch am Leben, wenn ich mich gezwungen hätte, Michel Schrader nicht zu beweisen, was ich konnte. Aber Lehrerstimmen packten mich immer noch an Häkchen meiner Kindheit. Mein Vater war zu früh gestorben, als dass ich ihm hätte beweisen können, dass ich mehr war als nur ein Mädchen. Das ist meine Ausrede, warum ich habe handeln müssen.
Ich orientierte mich schnell im Netz. Lola Schrader – Malefizkrott, Amazon-Verkaufsrang 35245, kartoniert, 9,90 Euro. Das Buch war vor Weihnachten bei Yggdrasil in Tübingen erschienen. Der Verlag verriet auf seiner eigenen Seite, dass Lola Schrader die Tochter der Schauspielerin Marlies Schrader war. Bei Google Bilder erschien eine schmale Brünette. Ich erinnerte mich. Sie pilcherte meist eine Exfreundin, die noch ein bisschen intrigierte, ehe sie verlor. Sie gehörte einer Filmagentur in München. Tochter Lola Schrader war ihrem Facebookprofil zufolge Fan von Tokio Hotel. Von ihrem Gesicht sah man vor lauter Haaren nichts. Sie hatte 156 FreundInnen. Unter ihnen erkannte ich auch den Jungen wieder, der bei der Lesung gewesen war: Nino Villar. Lola wohnte in Stuttgart-Vaihingen. Schule: Fanny-Leicht-Gymnasium.
Michel Schrader zeigte sein gelehrtes Gesicht auf der Seite der Musikhochschule im Bereich Figurentheater. Dort prangte auch seine Privatadresse. Er wohnte ihm Österfeldgewann, Stuttgart-Vaihingen. Spaßeshalber schaute ich noch nach, ob er in einem Online-Telefonbuch verzeichnet war. Er war es nicht. Das Ganze hatte mich neun Minuten gekostet.
Umso mehr Zeit hatte ich für den Kleiderschrank.
Schrader hatte mich mit Herr Nerz angeredet, also sollte er auch einen bekommen. Aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen kam es mir außerdem darauf an, dass er mich nicht gleich als Gast von Lolas Lesung wiederkannte. Ich wählte den dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd, eine Durchschnittsvertreterkrawatte, schwarze Schuhe und den Trenchcoat. Ans Handgelenk schnallte ich eine von den klobigen Tiefseetaucheruhren, die Männer so lieben. Das Haar ölte ich nach hinten.
»So, ziehet Sie wieder amol in den Krieg?«, fragte Oma Scheible im Treppenhaus. »Passetse uf, gell!«
In Büchern nannte man eine Wiederholung Leitmotiv. Alte Leute schufen ständig Leitmotive. Ein Wort, das es, wie ich sicher wusste, auch im Englischen gab.
Es regnete noch. Die sonnigen Tage kamen erst später. Aber die ersten Deutschlandwimpel flatterten schon an den Autos an mir vorüber. An der Ecke Neckarstraße, Hackstraße erneuerten Maschinen das Gleisbett der Stadtbahn, die zum Gaskessel abbog. Ich holte Brontë aus der Garage. Die alte Dame aus der Familie Porsche, hochzeitsweiß mit nuttenroten Ledersitzen, muckte, als Regen ihre Windschutzscheibe nässte. Der Scheibenwischer knarzte.
»Es muss sein«, erklärte ich ihr. »Wegen der Performance!«
Das Autoradio teilte mir mit, dass unser Bundespräsident soeben zurückgetreten war, der Horst. Das habe es in Deutschland noch nie gegeben. Schlechte Performance. Dabei hatten wir doch erst am Samstag mit Lena den Grand Prix gewonnen. Gute Performance. Nettes junges Mädchen erklärt uns, wie das für schlanke Teenies ist, wenn sie sich verliebt haben. Die reine Physik, da gibt es kein Entkommen in die Vernunft. Sie glaubt sogar, der Kerl interessiere sich für die Lackfarbe der Zehennägel. Zwischen Opernkleidern und alten Melodien hopst im schwarzen Hängerchen die entzückende Jugend, die wir ja ansonsten gar nicht mehr kennen. Wir kennen nur die Schläger.
Stuttgart verstand übrigens von Performance auch nichts. Nicht einmal mehr Autostadt mochte sie sein. Alle Straßen, die Brontë gefallen hatten, weil raserisch und mehrspurig, waren ökolustfeindlich auf Tempo fünfzig zurückgestutzt und von Fußgängerampeln zerhäckselt.
Und in diesem Sommer herrschte eh Krieg. Nein, nicht Fußball. Es ging um den Hauptbahnhof mit seinem kreiselnden Mercedesstern und der Turmuhr aus den Fünfzigern, mit seinen Bossenwerkfassaden und den endlosen Seitenflügeln, an denen Passanten verhungerten und Ratten fett wurden.
Ich gehörte nicht zur Kulturelite der Stadt, aber ich sah es mit Wohlgefallen. Es schmeichelte mir. Denn beim Kampf um den Retrocharme des Hässlichen ging es im Grunde auch oder eigentlich um mich. Er war wie ich, dieser Hauptbahnhof: ungefällig, von altertümlicher Ästhetik, schroff, rau und verschlossen. Er war eine sperrige Demonstration gegen den bürgerlichen Schnörkelklassizismus anderer Metropolenbahnhöfe, zugleich jeglicher Modernisierung abhold, geistig tief im vorigen Jahrhundert verwurzelt und entschlossen, nichts dazuzulernen. Deshalb durften, wenn es nach mir ging, auch die Seitenflügel nicht abgerissen werden. Und wenn sich die Stuttgart-21-Gegner zu ihren Montagsdemonstrationen und Mahnwachen versammelten, dann taten sie es insgeheim für mich, für mein Narbengesicht, an das man sich gewöhnt hatte, und für meine Anstrengungen, nicht zu gefallen und mich dem zeitgemäßen CO2 -neutralen Glasbaudenken nicht zu unterwerfen.
Ich schickte Brontë durch die Tunnel nach Vaihingen hinauf und überließ den Rest des Wegs dem Navi. Er führte uns über die Bahnlinie ins Österfeldgewann, wo die Straßen Othello, Don Carlos oder Hamlet hießen. Brontë schnurrte zufrieden. In der Sackgasse zum Wald standen immerhin ein Porsche Cayenne und ein Z3. Wahrscheinlich würde sie den jungen Boliden Märchen aus Zeiten erzählen, als sich noch niemand um Auspuffemissionen kümmerte.
Das Haus mit dem Klingelschild Schrader war Teil eines dreihäusigen Neubaus mit großen Fenstern.
»Nerz«, sagte ich in die Gegensprechanlage.
»Pappo«, hörte ich aus dem Lautsprecher ein Mädchen rufen. »Da ist ein Nerz.«
Eine Antwort hörte ich nicht. Aber es knackte der Türöffner.
»Pünktlich sind Sie ja!«, empfing mich der filigrane Akademiker mit wachen grauen Augen und der Lehrerpersönlichkeitstonlage. »Angenehm, Herr Nerz!«
Mir gar nicht. Die Wohnung roch nach musischer Erziehung und Globuli.
»Schön, dass es geklappt hat«, konversierte Schrader weiter. »Möchten Sie ablegen?«
»Danke.« Ich legte den Trenchcoat über meinen Arm.
Lolas