Majdanek. Mordechai Strigler

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Название Majdanek
Автор произведения Mordechai Strigler
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783866744745



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      Die Autos bewegten sich schnell über den glatten Asphalt der Lubliner Landstraße. Es war ein wunderschöner Vorabend des Schawuotfestes.2 Die Sonne hatte sich herausgeputzt wie eine junge Braut mit golden strahlender Brosche und neckte spielerisch die jungen, aufgeregten Gräser an den Wegen. Ein milder Wind schmiegte sich verliebt an ihre Füße und schüttelte eifersüchtig die Köpfchen der Grashalme, die die Liebkosungen der Sonne genossen. Da und dort hob sich ein Kopf, wollten Augen, nur für eine Minute, ein Bad in der grünen Weiträumigkeit nehmen und vom lächelnden Spiel der Natur naschen. Ein Hagel aus Schlägen erstickte aber dieses letzte Aufwallen und trieb die Köpfe wieder hinunter. Der Motor rauschte und schleuderte zornig Wolken von Rauch hervor, so dass der erschrockene Staub über die Wege zerstob. Alle, die noch atmeten, schwiegen und sogen den Autolärm in sich auf. Die Schwächeren fingen an zu keuchen vor Atemnot. Ein Arm riss sich in hilfloser Unbedachtheit aus der Umklammerung in die Höhe, um eine bessere Lage zu finden. Der Ärmel rutschte hoch und etwas Rundes blitzte in der Sonne auf.

      Der rothaarige Wachmann gegenüber bemerkte etwas. In seinen versteinerten gelblichen Augen funkelte ein tanzendes Flämmchen auf. Er sprang vom Dach der Fahrerkabine und streckte sich über die gebeugten Köpfe. Er war ganz erhitzt vor Zorn und Begehren:

      Wer hat da eine Uhr, wer?

      Alle schwiegen. Die anderen Begleiter kamen ihm zu Hilfe. Sie schlugen die Köpfe und fluchten zeternd. Sie konnten aber nichts feststellen. Alle Körper waren so zusammengepresst, dass eine Kontrolle nicht möglich war.

      Der Rotschopf brannte vor Zorn. Seine flammenden Haare röteten sich zusammen mit seinem zornigen Gesicht. Er bewegte sich über die Köpfe, von einem zum anderen, seine Hände tasteten über Rücken, auf der Suche nach etwas. Seine Finger tauchten in die Tiefe von jemandes Tasche hinein und zogen von dort ein verknotetes, schmutziges Tuch heraus. Er wickelte es auseinander und holte zwei 500er Scheine heraus. Einer seiner Kameraden warf einen neidischen Blick auf das Glück des Rothaarigen und stimmte ein Geheul an:

      Was? Ihr habt Geld bei euch? Ihr Teufelsbrut! Wofür braucht ihr das alles, was ihr dabei habt? Man bringt euch doch nach Majdanek.

      Die Leute aber, als ob sie sich durch eine geheime Körpersprache lautlos abgesprochen hätten, schwiegen. Und selbst wenn jemandem die Schläge so verleidet gewesen wären, dass er in Gedanken bereit wäre, alles herzugeben, um den wüsten Schlägen ein Ende zu bereiten, wäre es ihm gar nicht möglich gewesen, einen Arm aus dem Gedränge herauszuziehen. Es verspürte auch niemand Lust, auch nur das kleinste Wort durch die eingetrocknete Kehle herauszulassen. Insbesondere die Gliedmaßen der Nachbarn drum herum schrien sich durch die verschwitzte Wärme des Blutes zu: Schweig! Sei still!

      Alle ertrugen mit eigenartiger Geduld die Schläge und das Geschrei.

      Aus der Ferne tanzte uns inzwischen ein Netzwerk aus Drähten entgegen. Die Autos gaben ein schweres Krächzen von sich und blieben stehen. Schwarze Schilder mit knöchernen Totenköpfen kündeten am Tor, dass sich hier das Reich des Todes öffnete.

      I

      Vom Konzentrationslager Majdanek hörte ich schon vor Monaten. Schon zu der Zeit, als dort das provisorische Ghetto der Lubliner Juden war. Später gingen in allen Lagern entsetzliche Gerüchte um, was in Majdanek geschah. Es sei kein »normales« Tötungslager − vor so etwas erschrak man schon gar nicht mehr − sondern etwas, das noch mehr war als Tod, noch mehr als Folter. Und was man von denen hörte, denen es gelungen war, von dort zu entkommen, überstieg in der Tat alle Vorstellungen. In den Gesprächen, die wir im Lager unter uns führten, waren wir uns deshalb immer einig, dass wir uns nicht lebendig nach Majdanek bringen lassen würden. Wenn es mir beim ersten Mal, vor 16 Monaten, auch gelang zu fliehen (davon an anderer Stelle), so war ich diesmal hilflos und psychisch am Boden. Die erstbeste Bewegung hätte im jetzigen Augenblick im Übrigen den sicheren Tod bedeutet. Es blieb nur abzuwarten, was die Zeit bringen würde. Ich bemühte mich, kühl und vernünftig zu bleiben. Man musste jede Minute sorgfältig abschätzen. Die Möglichkeiten jeder Chance tiefer ausloten und erkennen, wann man eine günstige halbe Sekunde ausnutzen kann. Wachsamkeit!, schrie der disziplinierte Lebensinstinkt jedem einzelnen Glied zu. Das war der einzige eigene Befehl, dem man noch gehorchen konnte.

      Die Autos hielten auf einem Berg an. Man konnte sehen, wie es dort weiter vorn, in der Niederung, zwischen den verschiedenen Drahtnetzen vor Menschen wimmelte. Sie führten und schleppten verschiedene Lasten und Gepäckkarren auf schmalen, eisernen Schienen bergauf. Der erste Gedanke, der einem in den Kopf kam, war:

      Menschen leben hier ja! Man arbeitet!

      Die Erfahrung der Jahre in den Lagern hat bewiesen, dass das Arbeiten unter schwersten Bedingungen auch gewisse Chancen mit sich bringt zu leben. Leben! Das man doch so sehr begehrte. Teuer war doch jedes Stückchen freie Luft, jeder Schritt auf nicht stolpernden Füßen. Niemals hätte man doch vermutet, wie viele geheime Genüsse in jeder Sekunde des Lebens verborgen liegen. Es gab Minuten, Stunden und Tage aus Furcht und Wahnsinn, in denen du erstarren wolltest, um gar nichts mehr zu fühlen. Oftmals standest du tagelang mit gebeugtem Rücken und schmerzenden Gliedern und wartetest, dass jemand dir den Tod brächte. Dann aber richtetest du dich für ein paar Minuten auf und du spürtest, wie viel Glück in einem Atemzug reiner Luft liegt, wie viel süße Kraft ein aufrechter Schritt geben kann. Eine Stunde ruhig und ausgestreckt auf einem harten, verführerischen Bett liegen − und du fühltest, wie das Leben dich in einen geheimnisvollen Raum führte, sich vor dir entblößte und dir die Reize zeigte, die in jedem Fingerchen verborgen lagen.

      Ein Bissen Brot nach einem langen Hungertag bewies dir, welcher Lebensreichtum und welche Labsal in jedem Gegenstand stecken, der im Leben in Freiheit gar nicht wahrgenommen wird. Leben!, dachtest du, unbedingt leben! Denn jetzt weißt du schon, wie man jede Minute nutzen kann, dieses wunderliche Elixier aus dem kleinsten Brocken zu ziehen. Ein Leben in Freiheit? Wer kann es denn verstehen? Wer hat denn eine Ahnung, wie das zu genießen ist?

      So sehr man auch schon verkümmert war, fühlte man doch, wie stark man mit dem Leben verbunden war, wenn man die letzten Minuten vor Augen hatte. Noch fünf Minuten leben, dachtest du oft, und in jeder Sekunde konntest du die Weiträumigkeit der Umgebung einsaugen, konntest den Himmel, ein Haus, einen rosafarbenen Stein sehen. Jeder deiner Sinne begriff erst damals, wie schrecklich groß das Glück ist, das in den Falten jeden Augenblicks vibriert.

      Das Leben unter den schauderhaftesten Sklavenbedingungen konnte nie gänzlich verabscheuungswürdig werden, denn umso mehr der Tag dich peinigte, desto größer wurde das Glück der Stunde Ruhe in der Nacht, desto mehr gab dir die halbe Stunde, in der du dich in einen Winkel setzen konntest, an nichts mehr denken musstest und von niemandem gestört wurdest.

      Der schwerste Tag von Pein wurde versüßt, wurde berauscht und trunken gemacht durch den bloßen Gedanken, dass zur Nacht, aber ja, zur Nacht, du ein Stückchen Brot bekämest. Deine Fantasie stellte sich vor, wie du es ruhig kauen würdest, bröckchenweise. Wie jeder Bissen sich gesondert in unruhiger Freude auf alle Glieder verteilen würde. Und später, viel später würdest du deinen müden Körper in deine Ecke schleppen, dich hinaufziehen auf ein hartes Bett, um dich herum würde es dunkel sein und niemandes Blick dich schrecken können. Deshalb wirst du deine Beine frei ausstrecken, deine Arme auf die Seite legen, wohin du willst, und alle Glieder werden in Tränen ausbrechen über das stundenlange Vergnügen und du …

      Wer sollte denn nicht erzittern beim Erkennen einer halben Chance auf Hundert, weiterleben zu können. Weitere ganze Tage gebrochen zu sein, doch auch in diesem Gebrochensein, in diesem Sich-Ducken das Entzücken des Wartens zu spüren und sich bewusst zu sein, dass du dich mit jeder Minute jener glückseligen Stunde näherst, in der du den Mund öffnen wirst und ein frischer Luftstrom sich in dich hineindrängen wird.

      Ein kleiner Brocken Hoffnung war in der Lage, dich zu verzaubern, die ganze Seele umzukrempeln. Ein Hauch mehr Bequemlichkeit lockte mit so vielen Versprechungen, liebkoste das Blut so wohlig, dass man oft bereit war, mehr zu geben als man besaß, um noch eine Minute, noch einen Augenblick Leben zu bekommen. Nur Leben? Nein! Es war mehr als das, was die gewöhnlichen Sinne unter diesem Wort verstehen.

      Deshalb