Seidenkinder. Christina Brudereck

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Название Seidenkinder
Автор произведения Christina Brudereck
Жанр Секс и семейная психология
Серия
Издательство Секс и семейная психология
Год выпуска 0
isbn 9783865064417



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Menschen sterben.

      Er las, dass Indien auf Druck der Welthandelsorganisation wohl seine Gesetze zum Patentrecht für Medikamente würde ändern müssen. Tja, dachte er, ganz der Anwalt, ein Patentrecht macht natürlich Sinn, es schützt die Ansprüche derjenigen, die etwas erfinden und zum Beispiel viel Zeit und Energie in die Forschung investiert haben. Aber im Zusammenhang mit Aids kam doch die Frage auf, ob man mit der Behandlung dieser Krankheit überhaupt noch Geld verdienen durfte. Er schüttelte den Kopf: Multikonzerne wachen über ihre Patentrechte. Wer überwachte eigentlich die Wächter? Hatte der Markt seine Grenzen? Und wer dürfte die festlegen?

      Matt reiste durchs Internet, vor seinen Augen entstanden Bilder, er las sich in das Land hinein, das er bald besuchen würde. Er versuchte, sich vorzubereiten, heranzutasten, und fragte sich: Was bedeutet es, wenn man als Nation größte Armut erlebt und technischen Fortschritt? Den Tsunami erlebt und Dürrekatastrophen, Hungertote? Was, wenn man das HI-Virus nicht unter Kontrolle bekommen würde? Und wer würde sich dafür eigentlich verantwortlich zeigen? Welche Rolle spielten die Religion und die Religionskonflikte, Terror und Gewalt, die Auseinandersetzungen mit Pakistan? Wie lebte eine Atommacht mit unzähligen Slums wie Kalkutta? Wie hielt man die Gegensätze aus und den täglichen Kampf der vielen ums Überleben? Das Zitat von Arundhati Roy gab ihm irgendwie Kraft, vielleicht weil die Worte so stark waren oder die Frau, die sie sagte.

      Er hatte großen Respekt vor Menschen wie ihr. Vor Frauen und Männern, die sich nicht einschüchtern ließen. Die wussten, warum sie morgens aufstanden. Die eine tiefere Ahnung von Sinn und von Frieden gefunden hatten. Die etwas Bedeutendes taten, und wenn es auch noch so anstrengend war. Die Widerstand auslösten und damit etwas schafften, was zunächst einmal das System störte und auf Dauer die Chance hatte, echte Veränderung, etwas Gutes für diese Welt, zu bewirken.

      Er fragte sich, was diesen Menschen die Kraft gab, durchzuhalten? Bei dieser Frage dachte er an eine E-Mail, die er vor einigen Tagen von einer Bekannten bekommen hatte, die als Ärztin für verschiedene Hilfsorganisationen arbeitete; sie hatte viel von der Welt gesehen, meistens die kaputten, umkämpften Regionen. Er wusste, dass sie zuletzt in Afghanistan gewesen war. Ihre letzten Mails hatten aufgewühlt, traurig, überarbeitet und müde geklungen. Aber ihre letzte Nachricht hatte ganz überraschend einen vollkommen anderen, neuen Ton gehabt.

      Total verzweifelt war sie in ihre Heimat nach Deutschland zurückgekommen. Afghanistan war eine Erfahrung, die sie innerlich fast ausgehöhlt hatte. Das vom Krieg zerstörte Land, die Angst auf allen Seiten, die Begegnungen mit Kindern, Soldaten, Kranken verfolgten sie bis in ihre Träume. Diesmal wollte sie aufgeben, sie konnte nicht mehr. Sie beriet sich mit ihrem Mann. Mit ihren Freunden, viele davon selbst Ärztinnen und Ärzte. Sie alle sagten: Was wir brauchen, ist ein Zeichen! Eine kleine Bestätigung, dass richtig ist, was wir tun. Einen Wink von Gott, einen Fingerzeig.

      Sie trafen sich, um zu diskutieren und irgendwann, zu müde zum Reden, um zusammen zu schweigen. Und dann fingen sie an zu beten. Acht Leute, Freundinnen und Freunde. Sie beteten sich alles von der Seele, die Ohnmacht, die Wut, die vielen kleinen Geschichten. Alles. Und dann war etwas Merkwürdiges passiert. In dem Moment, als sie ihre Gebete beendet hatten und gerade ihre Köpfe hoben, sahen sie auf der Brüstung des Balkons, direkt vor ihnen, eine weiße Taube sitzen. Sie hatten wohl alle ungläubig geguckt und den Atem angehalten, um sie ja nicht verschrecken. Sie fragten sich: Wo kommt die denn her? Irgendwo in der Stadt gab es graue Tauben auf dem Marktplatz. Aber weiße?

      Die Taube war das erhoffte Zeichen. Sie bedeutete alles: Frieden. Durchhalten. Kraft. Erhörte Gebete. Neue Freude. Wunder. Matt verstand, dass der neue lebensfrohe Ton, die neue Leichtigkeit von dieser Erfahrung genährt wurden. Diese Taube hatte ihr Kraft gegeben, neue Hoffnung. Für sie war das kein Zufall, es war eine Antwort auf ihr Gebet. Klein, heilig und nicht wegzudiskutieren. Es bedeutete, sie würde weitermachen. Das freute ihn sehr für sie und er spürte die Energie, über Meilen hinweg, über Kontinente, kam sie bei ihm an.

      Er selbst tat sich schwer damit, zu beten und darauf zu vertrauen, dass ein Gott seine Worte hörte oder sogar irgendwie darauf reagieren sollte. Aber seine Mutter war ein zutiefst gläubiger Mensch. Vielleicht müsste man sagen, dass sie eigentlich an die Menschen glaubte und darauf vertraute, dass Gott es auch tat. Einige seiner besten Freunde waren religiös und auch viele der Weltverbesserer - das Wort hatte für ihn seinen positiven starken Klang behalten, auch wenn es über die Jahre Amys spöttischer Spitzname für ihn geworden war - waren offensichtlich motiviert von großen Ideen wie Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und Gütekraft, Ideen, die so heilig waren, dass Gott scheinbar fast unweigerlich darin mitschwang. Er wusste, dass er mit dieser Frage noch nicht endgültig abgeschlossen hatte. Gott, dachte er, wie sollte man mit Gott fertig werden, dem Größten, was ein Mensch wohl überhaupt sagen konnte?

      Kapitel 6

      Sie machten sich alle gemeinsam auf den Weg zum Kinderheim. Der Wagen war voll klimatisiert, was die Gäste sehr zu schätzen wussten. Jaya aber sah, dass Raja schon nach ein paar Minuten zu frieren begann. Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Jaya sah aus dem Fenster. Die Straßen, in anderen Ländern den Autos vorbehalten, wurden hier mit allen geteilt und waren voller Menschen. Alte, Erwachsene, Kinder, Babys, Kranke an Krücken. Sandalen, Saris, Turbane. Rufen, Hupen, Winken, Betteln. Mittendrin immer wieder mal eine Kuh. Es roch nach Hitze, nach Schweiß, Knoblauch, reifen Mangos, die am Straßenrand verkauft wurden, frisch geschält. Indien war ein volles Land. Ihr Auto kam immer wieder zum Stehen.

      Die Gespräche waren verstummt. Alle sahen jetzt aus dem Fenster und konnten sich nicht losreißen von den vielen Eindrücken. Am Rand der Straße befanden sich kleine Läden, Blechhütten, die vor die Häuserfront gesetzt waren und in denen Lebensmittel verkauft wurden und Drogerieartikel, ein buntes Gemisch aus Bananen, Avocados, Kokosnüssen, Kaugummi, Blumengirlanden, Hautcreme, Zahnpulver, Schuhputzcreme, Bonbons, Kuchen, kleinen Tüten mit Kräutermischungen oder Tabak, Kaffee und Tee. Frisch geschlachtete Hühner hingen an Haken von der Decke eines muslimischen Ladens. Die Gemüsestände führten zurzeit nur Kartoffeln, Mais und Zwiebeln und Gewürze wie Chili, Pfeffer, Ingwer, Koriander und Zimt. Dazwischen fand sich auch der ein oder andere Shop, in dem Videokassetten verkauft wurden, CDs, kleine Radios und Filme für die Kameras der Touristen. Direkt daneben Stoffe und Sandalen. Nur auf dem Bazar und dem Markt ging es noch bunter und hektischer zu.

      Raja war der Einzige im Wagen, der nicht aus dem Fenster sah. Sein Blick ging von einem zum anderen und blieb dabei immer wieder an kleinen Details hängen. Interessiert betrachtete er die weißen Ausländer. Die schwarzen festen Schuhe, die auf ihn, der sein Leben lang barfuß gelaufen war, wie Särge für die Füße wirkten. Die Uhr am Arm des einen, von der er nicht so ganz genau wusste, wie man sie entziffern konnte, der aber sogar er ansehen konnte, dass sie viel Geld gekostet haben musste. Die Hosen, die sie trugen, ohne jede Bügelfalte und mit vielen kleinen Taschen besetzt, die ein komisches Geräusch machten, wenn man sie öffnete, wie ein hartes Rascheln. Ihre Haut und die Farbe ihrer Augen, ihrer Wimpern, ihrer Lippen, ihrer Fingerkuppen. Besonders der eine wirkte auf ihn, als sei die Farbe aus ihm ausgelaufen, so hell waren seine Haut und seine Haare. Raja sah sich seine eigenen Hände an, die Innenflächen waren etwas heller, ansonsten war er überall dunkel.

      Er sah zu dem Mann hinüber, zu dem Inder, der ihn angesprochen und eingeladen hatte. Er hatte bemerkt, man nannte ihn Jaya, aber er wusste noch nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Er war sehr dunkelhäutig, klein und hatte einen Bauch. Er lachte viel, und auch wenn sein Mund einmal nicht lächelte, dann strahlten doch immer noch seine Augen. Er mochte ihn. Er wusste nicht genau, was gerade mit ihm passierte, aber er ahnte, dass dieser Mann ihm Glück brachte.

      Er hatte ihn am Morgen gesehen, als er mit den Weißen zusammen in die Kapelle der Klinik kam. Der Andachtsraum, sein Zuhause. Er schlief unter dem großen Tisch, über dem immer eine Decke hing, die bis auf den Boden reichte, sodass niemand sehen konnte, dass sich jemand darunter verbarg. Die Kapelle roch gut und sie war ruhig. Nachts wurde die Tür verschlossen, sodass er sich wirklich sicher wusste, wie in einem eigenen Haus.

      Tagsüber