Weiberröcke und Leichen. Hans-Hermann Diestel

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Название Weiberröcke und Leichen
Автор произведения Hans-Hermann Diestel
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783960080121



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Das Leben an Bord und auf See, die Fahrten im vertrauten Gewässer oder zu unbekannten Fernen müssen für die seetüchtigen und seekundigen Fahrensleute von einer tief erregenden Wirkung gewesen sein, wie anders ließe sich die ungestüm-kreative Phantasie erklären, die wir in der Sprache des Seemanns seit alters her finden. Diese Einschätzung ist Labsal für einen Seemann, dem die Sprache seines Berufsstandes nicht gleichgültig ist. Mein Interesse geht aber über die Sprichwörter der Seeleute hinaus. Von den Sprüchen der „Landeier“ gefallen mir besonders die spanischen wegen ihrer oft derben und deftigen Sprache sowie die indischen mit ihrem hohen intellektuellen Niveau. Deshalb stimme ich dem Sprichwort

       Alle Sprichwörter müssten mit goldenen Lettern geschrieben werden

      uneingeschränkt zu. Sebastian Franck hat es schon 1541 so formuliert:

      … und ist bei allen Nationen

      und allen Zungen die größt Weisheit aller

      Weisen in solich Hofred und abgekürzte

      Sprichwörter als in einen verschlossenen

      Kasten alle irdische und ewige Weisheit eingelegt.

      Wie zutreffend die von mir ausgesuchten Sprichwörter und Zitate die Realität in der Schifffahrt wiedergeben, werden die verschiedenen Geschichten, Augenzeugen- und Untersuchungsberichte dem Leser zeigen. Dabei lege ich Wert auf Geschichten, die überprüfbar sind. Visionen, Einbildungen usw., die sich bei Autoren wie Charles Berlitz („Das Bermuda-Dreieck“) oder bei John Canning („Die großen ungelösten Rätsel des Meeres“) finden, sollen mit einigen wenigen Beispielen als Phantastereien aufgeführt werden. Sie zeigen dem Leser, wie sie von diesen Autoren an der Nase herumgeführt werden.

      Konrad Reich während eines Hafenstammtisches mit dem heutigen Rostocker Oberbürgermeister Roland Methling (1. rechts) und dem Autor (1. links)

      Dieses Buch beschäftigt sich vor allem mit Schiffen und ihren Seeleuten. Schon als Kind standen Schiffe an erster Stelle meines Interesses. Dabei ist es geblieben. Die Seeleute verdienen mehr Aufmerksamkeit als die Schiffe, weil sie sie bewegen und weil der Reichturm dieser Welt auf ihrem Rücken geschaffen wurde. Ohne sie gäbe es ihn nicht. Wer das für unsere Zeit nachvollziehen will, muss sich nur die Statistiken zum Seetransport ansehen. In dieser Welt lassen ein paar egoistische Flugzeugführer oder Lokführer die Räder stillstehen, weil einige wenige von ihnen in ihrer Position die Bevölkerung erpressen können. Die Seeleute, die von allen Kontinenten aus zahllosen Ländern kommen, sind so schlecht organisiert, dass man sie miserabel bezahlen, verpflegen und behandeln kann, ohne dass es zu einer erwähnenswerten Reaktion kommt. Ihr Schiff mag bei Sonnenschein gerade noch schwimmen, aber sie steigen auf. Die Kombüse hat eher etwas mit einem Schweinestall zu tun, aber sie holen sich beim „Smeerlappen“ ihr „Essen“ ab. Mit ihrer Arbeit, ihrer Disziplin und ihrem Einfallsreichtum helfen sie den dafür verantwortlichen Banditen, das Schiff in Betrieb zu halten. Wenn das dann nicht mehr klappt, werden sie und ihr Schiff einfach aufgegeben. Wer hilft ihnen dann, ihre Heuer und ein Ticket für den Rückflug zu bekommen? Der sogenannte Reeder nicht. Letzte Hoffnung ist in einer solch verfahrenen Lage die Internationale Transportarbeiter-Föderation.

      Diese Behandlung der Seeleute und ihr zum Teil daraus resultierendes miserables Ansehen hat Tradition. Schon der arabische Staatsmann und Autor BAHA’AD-DIN (1189) hat mit folgenden Worten eindrucksvoll beschrieben, welches Ansehen zu seiner Zeit die Seeleute hatten: Wir waren damals im Winter, das Meer war zornig, und, wie es im Qur’an heißt, die Wellen erhoben sich wie Berge. Es war das erste Mal, dass ich das Meer sah, der Anblick machte mir den tiefsten Eindruck. Ich sagte bei mir selber, wenn man mir auch die ganze Welt böte, würde ich niemals einwilligen, auch nur eine Meile auf diesem Element zurückzulegen; und ich war versucht, die für Narren zu halten, die für ein armseliges Gold- oder Silberstück furchtlos ein Schiff bestiegen; mit einem Wort, ich schloss mich der Ansicht derer an, die einen Menschen schon allein deswegen für unvernünftig halten, weil er sich dem Meer anvertraut, und die sein Zeugnis vor Gericht nicht für annehmbar halten.

      Ich sehe mich als einen sehr glücklichen Menschen an, der den größten Teil der Seefahrt in einer Gesellschaft verbracht hat, die seine Arbeit schätzte und in der nicht nur der Kapitän über ein sehr hohes Prestige verfügte. Das heißt nicht, dass wir keine Sorgen hatten oder dass unser Beruf einfach war. Der Beruf des Seemanns war niemals leicht. Deshalb waren und sind wir unverändert davon überzeugt, dass Perikles mit dem folgenden Spruch recht hat:

      Wenn irgendetwas, so ist das Seewesen eine Kunst, die nicht gelegentlich und nur nebenbei geübt sein will, sondern im Gegenteil, es darf nichts anderes neben ihr getrieben werden.

      Wer ihn berücksichtigt, hat gute Chancen, seinen Heimathafen wieder zu erreichen. Ungeachtet ihrer miserablen Behandlung, ihres wahrlich nicht leichten Berufes und der arroganten Missachtung ihrer Leistung durch „Landeier“ lieben sie ihren Beruf und das Meer. In der Liebe zum Meer sind sie nicht allein. Warum das so ist, erklärte der amerikanische Präsident John F. Kennedy so: Es ist ein interessanter biologischer Fakt, dass wir alle in unseren Adern den gleichen Prozentsatz an Salz wie das Meer haben. Deshalb haben wir Salz in unserem Schweiß und in unseren Tränen. Wir sind an den Ozean gebunden. Und wenn wir zum Meer gehen, um zu segeln oder um es zu sehen, gehen wir dahin zurück, wo wir hergekommen sind.

       Herd in der Kombüse eines Feederschiffes, das der Autor als „Ausbildungskapitän“ besuchte

      Zur Sprache der Seeleute habe ich schon den Rostocker Autor und Verleger Konrad Reich in der Einleitung zitiert. Sie ist so kompliziert wie der Beruf der Seeleute. Deshalb haben sie selbst gelegentlich Probleme mit den verschiedenen Begriffen. Das betrifft nicht nur die deutschen Seeleute, sondern auch die, die sich der englischen Sprache bedienen. So habe ich mit dem „The Nautical Institute“ in London über die Definition verschiedener Begriffe diskutiert. Die Damen und Herren dieser Organisation sahen sich weder in der Lage, meinen Auffassungen zu widersprechen, noch ihnen zuzustimmen.

      Auch deshalb kann es gar nicht anders sein, als dass die Kommunikation auf einem Schiff wie in der Ehe seit uralten Zeiten ein heißes Eisen ist. Das wird schon an der Wortwahl, die jemand für diesen Vorgang verwendet, deutlich. Für mich war immer vieles weiter nichts als Sabbeln (unaufhörlich und schnell (dummes Zeug, Unsinn) reden). Das Gesagte gibt leider zu oft dem Spruch Nicht der Rede wert sein recht. Wesentlich humorvoller ist da schon der Ausdruck „snacken“, den viele Norddeutsche gerne verwenden. Seine ursprüngliche Bedeutung ist „den Mund öffnen“. Wenn man miteinander snackt, gehört schon ein wenig Humor und gegenseitige Achtung dazu. Das wird in dem folgenden Döntje deutlich: „Ehelüd vertüürnen sick. De Fru seggt: ‚Ich räd di nich wedder an.‘ Se maken ’ne Wett. He kriggt ’n Striekholt her und lücht’t ümher, as wenn he wat söcht. Toletzt kann se’t nich uthollen: ‚Wat söchstd du?‘ – ‚Dienen Mund!‘“

      Das berühmteste Beispiel für die Bedeutung der Sprache auf einem Schiff ist die Meuterei auf der BOUNTY. Die entscheidende Ursache für die Meuterei auf der Südseereise war nicht, wie immer wieder irrtümlich oder wider besseren Wissens behauptet, die Brutalität von William Bligh. Es war seine Sprache. In seiner Wut über die Unfähigkeit seiner Offiziere, nicht seiner Mannschaft, beschimpfte er sie in beleidigender und unmäßiger Weise. Leutnant Bligh konnte den folgenden Spruch von Napoleons Minister Talleyrand noch nicht kennen, aber der Kollege eines Containerschiffes schon. Talleyrand hatte gesagt: Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen.

      Portrait von Rear Admiral William Bligh von Alexander Huey, 1814 (National Library of Australia)

      Der Kapitän eines 6479 TEU großen Containerschiffes,