Die Welt der Poesie für neugierige Leser. Achter Band: Dichter und Dichterinnen in Zeiten der Weltkriege. Anne-Gabriele Michaelis

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Название Die Welt der Poesie für neugierige Leser. Achter Band: Dichter und Dichterinnen in Zeiten der Weltkriege
Автор произведения Anne-Gabriele Michaelis
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957444349



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vom Starnbergersee. In dieser Zeit ändert er seinen Namen René auf Rainer. Durch ihren Einfluss ändert er seine Lebensweise, aus dem umtriebigen Großstadtliteraten wird ein Dichter, der versucht im Sinne der Reformbewegungen der Jahrhundertwende zu leben: vegetarische Kost, barfuß über Wiesen zu gehen, das bewusste Erleben der Natur, dazu eine bescheidene Lebensweise, die er immer beibehält. Durch ihre Art erfährt er, dass es einen liebenden Menschen gab, der ihn begehrte, ohne ihn einzuvernehmen oder manipulieren zu wollen. Dadurch bekam er auch den Mut, sich kritisch mit seiner frömmelnden Mutter auseinanderzusetzen. Die aufopfernde Mutter verschwindet völlig aus seinen Gedichten und Erzählungen. Es entstehen Prosatexte, die sich mit dem zerstörenden Einfluss von Müttern, insbesondere auf ihre Söhne, auseinandersetzen, z. B. „Das Familienfest“, „König Bobusch“ und „Die Geschwister“, die 1898 in einer Novellensammlung erscheinen.

      Der 22-jährige Rilke lebt seit Oktober 1897 in Berlin-Wilmersdorf, in der Nähe des Ehepaars Andreas. Er bereitet sich angeleitet durch Lou auf zwei Reisen vor: 1898 April/Mai Florenz, wofür er italienisch lernt. Seine Eindrücke schlagen sich im „Florenzer Tagebuch“, eine Art Reisebericht nieder. In Florenz lernt er den Maler Heinrich Vogeler kennen, der ihn in die Künstlerkolonie Worpswede einläd. Auch Stefan George trifft er in Berlin, der Kritik an seinen frühen und unreifen Veröffentlichungen übt, das tut zwar weh, aber Rilke weiß, dass es zutrifft und beherzigt es. Als Ende 1899 sein Buch „Mir zur Feier“ mit Buchschmuck von Heinrich Vogeler erscheint, ist die Sprache präziser geworden. Hiermit beginnt der eigentliche Rilke.

      Zur Aufbesserung seiner Finanzen betätigt er sich in Berlin als Rezensent und Theaterkritiker.

      Weihnachten 1898 verbringt er bei Heinrich Vogeler in Worpswede.

      Für die erste Russlandreise lernt er mit Lous Hilfe Russisch und begleitet im April/Juni 1899 das Ehepaar Andreas auf dieser Reise, die sechs Wochen dauerte. Sie besuchen den Maler Leonid Pasternak, Vater von Boris Pasternak und den Bildhauer Fürst Paul Trubetzkoi. Die Ostertage in Moskau werden für Rilke ein Offenbarungserlebnis.

      Seine Briefe an die Mutter und Freunde klingen überschwänglich.

      Nach seiner Rückkehr verarbeitet Rilke diese Eindrücke im ersten Teil des „Stundenbuches“, im November 1899 schreibt er die „Geschichten vom lieben Gott“. Das „Stundenbuch“ begründet seinen Ruf als frommer Autor. (Mönch, Ringen um Gott)

      Die zweite Russlandreise von Mai-August 1900 unternimmt er mit Lou alleine, von der er sich nach ihrer Rückkehr trennt, da beide einsehen, dass es so nicht weitergehen kann. Ihr widmete Rilke das Liebesgedicht „Lösch mir die Augen aus“ aus dem zweiten Stundenbuch: „Von der Pilgerschaft spricht es, von der unbeirrbaren Liebe, was auch geschieht.“

      Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,

       wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,

       und ohne Füße kann ich zu dir gehen,

       und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.

       Brich mir die Arme ab, ich fasse dich

       mit meinem Herzen wie mit einer Hand,

       halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,

       und wirfst du in mein Hirn den Brand,

       so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

      Nach dem Zeugnis von Lou Andreas-Salomé sind jene Verse schon 1897 entstanden und ihr zugeeignet gewesen; später seien sie auf ihre Fürbitte hin in das „Stunden-Buch“ aufgenommen worden.

      Von August bis Oktober 1900 fährt Rilke von Berlin aus nach Worpswede zu Heinrich Vogeler auf den Barkenhof und wird von ihm in den Worpswedekreis eingeführt und hier beginnt er mit seinem Worpsweder Tagebuch.

      Zum Weiterlesen: Aus dem „Worpsweder Tagebuch“ (1900)

      Ein Ortswechsel bedeutet bei Rilke immer auch eine innere Veränderung, aber auch sich dichterisch befruchten zu lassen. Dieses damalige Künstlerdorf Worpswede in Niedersachsen, unweit von Bremen, faszinierte Rilke. Er nimmt am gemeinsamen Alltagsleben teil, sowie an Museums- und Theaterbesuchen in Bremen.

      Häufig besucht er Heinrich Vogeler, die Maler Mackensen und Otto Modersohn, fühlt sich in der Gemeinschaft gleichgestimmter Seelen rasch wohl. Die Abende stehen im Zeichen der Kunst, Literatur, Musik und Natur.

      Hier begegnen ihm Paula Becker und Clara Westhoff, die beiden Künstlerfreundinnen. Paula aus der die berühmte Malerin Paula Modersohn-Becker werden sollte und Clara Westhoff, die Bildhauerin und Rodin-Schülerin. Beide bezauberten ihn wie Gestalten aus früheren Gedichten. Er besucht sie in ihren Ateliers, liest ihnen vor und genießt ihre Bewunderung. Rilke mietet sich ein Haus in Worpswede, kehrt aber nochmals nach Berlin zurück.

      Paula Becker ist ebenfalls für zwei Monate vor ihrer Hochzeit mit Otto Modersohn in Berlin, um auf einer Hauswirtschaftsschule Kochen zu lernen, und wird von Clara besucht, die sich wiederum häufig mit Rilke trifft. Dann fallen die Entscheidungen. Rilke und Clara Westhoff verloben sich. Am 28. April 1901 treten beide in Bremen vor den Altar, nachdem Rilke aus der katholischen Kirche austrat. Ihren Hausstand gründen sie in Westerwede bei Worpswede. Fast zur gleichen Zeit heiraten auch Otto Modersohn und Paula Becker sowie Heinrich Vogeler und Martha Schröder.

      Zum Weiterlesen: drei Gedichte an seine Frau 1901 im Jahr ihrer Hochzeit: die beiden Gedichte „An Clara Westhoff“ III und VI aus „Sturm“ und das Gedicht „Liebes Lied“.

      Das Zusammenleben des Ehepaares Rilke trägt anfangs die Züge bürgerlicher Beschaulichkeit und Selbstzufriedenheit. Das „Buch der Bilder“ entsteht, aus dem das berühmte Gedicht „Herbsttag“ stammt. Die letzte Strophe zeigt Rilkes damalige seelische Verfassung. Die finanziellen Nöte, in die er und Clara im Herbst 1901 gerieten, belasteten ihn schwer, zumal am 12. Dezember die Tochter Ruth, ihr einziges Kind, geboren wurde.

      Seine Bücher bringen wenig ein, so schreibt er Rezensionen fürs „Bremer Tageblatt“, bespricht Neuerscheinungen von Friedrich Huch, Hermann Bang, Thomas Mann und das „Jahrbuch des Kindes“, ein Buch der schwedischen Pädagogin Ellen Key, die bald zu Rilkes besten Freunden zählen wird. Er selber schreibt die Monografie „Worpswede“. Ein Schriftstellerstipendium 1902 bringt ihm Hilfe. Und er nimmt im selben Jahr das Angebot Richard Muthers an, für seine „Sammlung illustrierter Monographien“ den Band über August Rodin zu schreiben.

      Mit Clara zieht er nach Paris, Ruth bleibt bei den Großeltern. Die Begegnung mit dem 62-jährigen Bildhauer Rodin wurde zu einem gravierenden Einschnitt in Rilkes Leben. Er fühlt sich in seiner Gegenwart sehr sicher, Rodins Lebensmotto, als Künstler zu leben „Arbeiten, nichts als Arbeiten und Geduld haben“ wird zu Rilkes Credo.

      „Gut in der Arbeit zu sein“ wird für Rilke bedeutungsgleich für „mit sich und der Welt im Einklang zu stehen“. Möglicherweise traf er in Rodin auf eine Vaterfigur, die ihm den Impuls gab, auf dem schon eingeschlagenen Weg ein großes Stück weiterzugehen.

      1903 erscheint die „Rodin Monographie“. Es ist ein persönliches Bekenntnis eines schreibenden Künstlers zu einem Gestaltenden. Für dieses Buch erhält er ganze 150 Mark. Rilke fühlt sich erschöpft, reist nach Italien. Inzwischen ist ihm und Clara bewusst geworden, dass eine Ehegemeinschaft nach bürgerlichem Muster für sie auf Dauer nicht lebbar ist. Ihre Versuche einen Ausweg zu finden scheitern. Da Rodin Clara Westhoff Rom als Bildhauerin empfahl, zogen die Rilkes in diese Stadt, wohnen aber in getrennten Wohnungen.

      Es entstehen die Gedichte „Hetären Gräber, Orpheus-Eurydike, Hermes und die Geburt der Venus“. Rilke will ein Buch über „Jens Peter Jacobsen“ schreiben. Da verschafft ihm Ellen Key eine Einladung nach Schweden. Im Juni 1904 bricht er auf in den Norden. Hier erholt er sich, genießt die neue Umgebung, übersetzt „Die Briefe Kierkegaards an seine Verlobte“. Ende August kommt Clara für einige Wochen nach Schweden und mit ihr reist er nach Kopenhagen, wo er die Schriftsteller Georg Brandes und Karin Michaelis kennenlernt.

      Den Winter 1904 verbringen die Rilkes mit Tochter in Oberneuland. Im Juli 1905 erreicht ihn eine Einladung Rodins nach Paris, er soll ab September eine Sekretär-Tätigkeit bei ihm übernehmen, mit 200 Franken Gehalt. Sehr bald