Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung

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Название Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37
Автор произведения Thomas Jung
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783866746640



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These vom Lager als biopolitischem Paradigma und nómos der Moderne.65 Die Schlüssigkeit von Agambens These einer »inneren Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«66 sowie seiner Argumentation für eine nicht historisch-spezifische, sondern strukturelle Lesart der nationalsozialistischen Lager67 muss an dieser Stelle nicht weiter beurteilt werden.68 Stattdessen ist zu der Generalisierung der Homo-sacer-Situation zurückzukehren, auf die Agambens neue Ethik führt. Aufgrund seiner Privilegierung einer strukturellen gegenüber einer historischen Perspektive ist diese für ihn keineswegs gleichbedeutend mit einer Relativierung von Auschwitz. So ist Auschwitz Todeslager, doch »zuvor noch« Ort eines nicht gedachten Experiments, bei dem Mensch und Nicht-Mensch zusammenfallen.69 Entscheidend ist dabei aber gar nicht die nicht neue Erfahrung, dass das Leben kein Leben mehr ist, sondern die wirklich neue Erfahrung, dass der Tod kein Tod ist.70

      Mit dieser Einsicht stellt sich Agamben zunächst einmal ausdrücklich in einen Traditionszusammenhang mit Martin Heideggers Bremer Vorträgen von 1949.71 Heidegger hat bekanntlich vier Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus den millionenfachen Judenmord in den Konzentrationslagern nüchtern als historische Tatsache erwähnt und anstelle einer moralischen Wertung den entscheidenden Akzent darauf gelegt, dass das »Wesen des Todes« diesen Opfern nicht zukomme, da sie eben nicht als Menschen, d. h. in bewusster Konfrontation mit ihrem Tod, gestorben seien.72

      Auch den von Heidegger geprägten Terminus einer »Fabrikation von Leichen«73 führt Agamben zunächst als Stütze seiner eigenen These an, nach der die traditionelle Ethik im Umgang mit Auschwitz versagen muss, da in den Konzentrationslagern eben keine Menschen, sondern bereits entmenschte Wesen gestorben seien.74 Bei der Frage der Ursache für die Entmenschlichung widerspricht Agamben dann aber Heidegger: Für diesen hat das Verstellt-Sein der existenziellen Erfahrung eines »Seins zum Tode« dafür gesorgt, dass in Auschwitz nicht gestorben, sondern lediglich umgekommen worden sei. Agamben sieht stattdessen Auschwitz aus der Erfahrung des Todes generell ausgeschlossen, weil für ihn der Ausfall der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sterben gleichbedeutend mit dem Verlust der Grundlage für diejenige traditionelle Ethik ist, die auch noch Heideggers Diagnose leitet.75

      Agambens Argumentation für eine Ersetzung der traditionell moralischen durch eine neue biopolitische Begründung der Ethik bezieht aus dieser Revision Heideggers auf eine durchaus nachvollziehbare Weise ihre philosophiegeschichtliche Legitimation. Weniger nachvollziehbar erscheint hingegen Agambens überraschender Rekurs auf Adorno als Beleg für die »Unfähigkeit der Vernunft« im Umgang mit Auschwitz, wird doch dessen Position, zumal seine eigene Ethik, schon grob verfehlt, wenn Agamben vermutet, Adorno hätte Heideggers Überlegungen zur »Fabrikation von Leichen« wohl zugestimmt.76

      Nun hat Adorno zwar festgehalten, dass »in den Lagern nicht mehr das Individuum starb, sondern das Exemplar«, eben diesen Umstand aber doch als Bestätigung für das »Philosophem von der reinen Identität als dem Tod« (ND, 355) bezeichnet und damit als letztgültige Bekräftigung seiner ethisch fundierten entschiedenen Identitätskritik gefasst. So kann Agambens Auffassung nur irritierend erscheinen; gegen sie spricht schon das von Hassan Givsan aufgewiesene apologetische und revisionistische Moment, das Heideggers Formulierung im historischen Kontext unabweislich zukommt, da sie die Bedeutung persönlicher Schuld und Verantwortung herunterspielt.77 Heideggers Fabrikations-These leistet schließlich eine virtuelle Suspendierung der realen Taten und Täter, indem sie das reale Geschehen des Holocaust in den vermeintlich »höheren« Zusammenhang eines »Seins-Geschicks« einordnet. Ist aber das Böse als »vom Sein geschickt« zu betrachten, sind die Menschen bloß »Werkzeuge des Sich-ins-Werk-setzens der Wahrheit des Seins. So gibt es keine ›Schuld‹ und kein ›Entschuldigen‹.«78

      Eben dieses Motiv hat auch Adorno bereits kritisch gegen Heidegger in Stellung gebracht:79 Indem dessen Geschichtsauffassung unbesehen dem jeweils geschichtlich Mächtigen »Seinsmächtigkeit« attestiert, lässt sie sich zugleich als Versuch lesen, »die Unterordnung unter historische Situationen zu rechtfertigen, als werde sie vom Sein selbst geboten« (ND, 135). Gerade diejenige grundsätzliche Abwertung der konkreten historischen Wirklichkeit gegenüber der Abstraktion des Seins, die Adorno hier bei Heidegger ausmacht, findet sich ungeachtet aller Abgrenzungen auch bei Agamben, der den millionenfachen Massenmord schließlich nicht als »Vollzug eines Todesurteils« bezeichnet wissen will, sondern als »Verwirklichung einer schieren ›Tötbarkeit‹, die der Bedingung des Juden als solcher inhärent ist.«80 Die Holocaust-Darstellung in Was von Auschwitz bleibt ist ungeachtet all ihrer Ausführlichkeit insgesamt sublimer und abstrakter als in der Negativen Dialektik. Bei Adorno brüllt der Gemarterte (vgl. ND, 355); bei Agamben herrscht das Schweigen der Muselmänner.81

      IV.

      Adornos bescheidenes Gegenprogramm zum unabweislich in Herrschaft verstrickten Identitätsanspruch, die Rettung des Nichtidentischen durch die Hinwendung auf das Somatische des leidenden Leibs, ist sicher der Biopolitik näher als der traditionellen akademischen Philosophie. Eine Kompatibilität zum biopolitischen Diskursraum wird beispielsweise unübersehbar, wenn Adorno das zentrale Problem bei einer Erfassung des Stofflichen, des materiellen Moments der Menschen, in der gefährlichen Tendenz ausmacht, dass der Mensch um seiner erfassten Nichtigkeit willen zum Objekt von Beherrschung herabgesetzt wird.82 Zugleich wird allerdings auch eine strukturelle Unvereinbarkeit mit der biopolitischen Diskurspraxis daran deutlich, dass Adorno die von ihm selbst diagnostizierte Tendenz nicht etwa positivistisch, und damit wertfrei, wahrnimmt, sondern nach dem Grundmuster kritischer Gesellschaftstheorie aus der Konfrontation einer schlechten konkreten Wirklichkeit mit besseren Möglichkeiten die Hoffnung auf Veränderung ableitet.83

      Adornos Ansatz entzieht sich dem aktuellen Diskursraum der Biopolitik, indem er sich weder auf eine (wie immer auch kritisch intendierte) Beschreibung von qua definitionem unüberwindlichen Herrschaftspraktiken noch auf einen (bei aller Emphase letztlich nur begrifflich-abstrakt zu postulierenden) emanzipatorischen Perspektivenwechsel festlegen lässt. Stattdessen bezieht seine Konzeption eben die Position des ausgeschlossenen Dritten, die auch sein Verhältnis zur traditionellen (Moral-)Philosophie maßgeblich prägt, denn entscheidend ist gerade die Entwertung von logisch unüberwindlich erscheinenden Alternativen durch die Einbeziehung historisch-konkreter Konstellationen.

      Und diese Sprengkraft geht auch bei einer Übertragung auf das Projekt der Biopolitik keineswegs verloren, erlaubt doch Adornos eigene Position im Gegenzug eine kritische Wahrnehmung dieses Projektes: Im Zentrum von Adornos Privilegierung des somatischen Moments steht, zumal nach Auschwitz, die originär kritische Dimension der Betrachtung, nämlich die Engführung biopolitischer Motive mit gesellschaftlicher Verantwortung. Bei Agamben fehlt dieses Motiv hingegen (wie schon bei Heidegger) völlig. Auch Foucault, der mit Adorno immerhin die Auffassung von der modernen Gesellschaft als »Freiluftgefängnis«84 teilt, kann mit dieser Verantwortung nichts anfangen, da ihn sein diskursives und konstruktivistisches Verständnis vom Individuum vor den konkreten Menschen schützt und ihm gar keine Wahrnehmung von Beschädigungen einer Entität erlaubt.85 Für diese pragmatische Ausschaltung der (tendenziell romantischen) kritischen Hinsicht auf die Möglichkeit von Veränderung bei Ansehung der Wirklichkeit hat Adorno eine drastische Formulierung gefunden: »Wer das Seiende unterschiedslos und ohne Perspektive aufs Mögliche der Nichtigkeit zeiht, leistet dem stumpfen Betrieb Beihilfe« (ND, 390).

      Adornos kritischer Impetus provoziert freilich die geschichtsphilosophische Frage nach dem Verhältnis zwischen dem subjektiven Bewusstsein des Einzelnen und dem Weltlauf. Die Möglichkeiten und Chancen hat Adorno dabei sicher nicht überschätzt. Für seine durchaus realistische Wahrnehmung spricht schon die lose-lose-Situation, die er in der Negativen Dialektik skizziert hat:

      »Subjektives Bewußtsein, dem der Widerspruch unerträglich ist, gerät in verzweifelte Wahl. Entweder muß es den ihm konträren Weltlauf harmonisch stilisieren und ihm, gegen die bessere Einsicht, heteronom gehorchen; oder es muß sich, in verbissener Treue zur eigenen Bestimmung, verhalten, als wäre kein Weltlauf, und an ihm zugrunde gehen« (ND, 155).

      Hans-Ernst Schiller

       In der Spanne eines Augenblicks

      Messianische